Es war an meinem Initial-day. Der I-day, wie wir ihn nennen, ist der Tag, an dem wir unsere Zukunft wählen. Die Männer müssen vorher zwei Monate fasten und alleine im Wald leben. Wir Frauen brauchen das nicht. Meine Freundin Eve schimpft immer, wenn wir alleine sind, auf diese Tradition. Sie fühlt sich benachteiligt, aber unsere Älteste erlaubt uns Mädchen keine Visionssuche. Sie weiß natürlich, wie Eve denkt und auch, dass sie heimlich darüber spricht. Sie weiß alles. Ich glaube, sie hält uns für unreif, weil wir die Tradition nicht verstehen. Wie Recht sie hat, habe ich an meinem I-day erfahren.
Wie alle jungen Frauen hatte ich mir ein wunderschönes Gewand genäht. Ich habe mich für Dunkelblau mit Gold- und Silberbordüren entschieden. Außerdem ein Diadem mit Kristallen und eine Perlenkette. So stand ich nun an der Kreuzung. Den Aufstieg von der heiligen Quelle hatte ich in wenigen Stunden zurück gelegt und fühlte mich noch frisch und voller Tatendrang. Dass ich dennoch lange stehen blieb, lag daran, dass ich mich nicht entscheiden konnte.
Nach rechts würde es zurück in unser Dorf gehen. Dort auf dem Marktplatz würde ein wunderbarer junger Mann auf mich warten und mich heiraten, wenn ich vor Sonnenuntergang eintraf. Ich würde Mutter werden und mit allen meinen Freundinnen zusammen sein. Für den Rest meines Lebens.
Und genau das war mein Problem.
Für den Rest meines Lebens ist eine verflixt lange Zeit, wenn du erst Anfang 20 bist und noch hundert Jahre vor dir liegen. So um die 120, das ist das normale Alter, in dem wir im Posttechnischen Zeitalter langsam daran denken, unseren Platz für die Jungen zu räumen. Wenige wählen heutzutage noch Krankheiten als Weg. Die meisten von uns leben einfach bis zum L-day. L steht für „last“ - not least. Es ist der Tag, an dem wir fühlen, dass unsere Seele genug erlebt hat. Dann gehen wir freiwillig. Wir lernen für diesen letzten Übergang eine spezielle Bewusstseinstechnik. Wie genau das funktioniert, weiß ich nicht. Sie wird nur unter den Ältesten weiter gegeben. Wer noch kein dreistelliges Alter erreicht hat, wird nicht eingeweiht. Punktum. Da hilft auch keine Neugier. Aber jedenfalls scheint es zu funktionieren. Jedenfalls sahen meine Großmutter und ihre Mutter beide sehr friedlich aus, als sie sich von ihren Körpern getrennt hatten.
Vermutlich werde ich auch diesen Weg gehen. Aber vorher habe ich noch viele Jahrzehnte zu leben.
Wenn ich nicht ins Dorf gehe, kann ich hinauf in den Tempel klettern. Dort oben, gleich unterhalb der schroffen Gipfel des Pico Mahatma und des ewigen Schnees, leben die Schwestern der Sacerdos. Sie weihen ihr Leben einzig der Fortentwicklung des humanen Bewusstseins. Dort würde ich alle meine Fragen stellen können und womöglich noch mehr Antworten finden. Und das inmitten einer Gemeinschaft Gleichgesinnter. Ich seufzte. Wie sehr hatte ich mein ganzes Leben davon geträumt!
Dort oben war die Wiege all der Errungenschaften unserer Gesellschaft. Wie zum Beispiel der Fähigkeit, über hunderte Kilometer hinweg zu kommunizieren, heißt es in den alten Mythen. Damit soll das Posttechnische Zeitalter begonnen haben. Früher hat man dazu spezielle Geräte benutzt, Computer, Smartfons und wie sie geheißen haben mögen. Einige Exemplare werden noch in einer unterirdischen Anlage instand gehalten. Ich habe sie einmal besichtigen dürfen, als mein Vater noch bei uns im Dorf gelebt hat. Er gehörte zu den Restauratoren, die für die Wartung dieser primitiven Geräte verantwortlich sind. Was für eine seltsame Erfindung! Ich kann mir das gar nicht vorstellen, wie die Welt ausgesehen haben muss, angeblich ohne Wälder, aber mit langen Kabeln rund um die Erde, um die Computer zu verbinden. Wozu? Wieso haben die Menschen damals nicht erforscht, wie die Wale miteinander reden oder wie Schildkröten es schaffen, alt zu werden? Sie hätten es so viel einfacher haben können! Von dem Leid des Krisenjahrhunderts ganz zu schweigen. Damals wäre die Menschheit fast ausgestorben, weil sie daran festgehalten haben, giftige Dinge im Übermaß zu produzieren, statt ihre Energie in die Entwicklung des Bewusstseins zu stecken. Als bräuchte man für jedes Fest ein neues Kleid oder jeden Tag neue Unterwäsche. Nicht einmal Madeleine, unsere Älteste, kann sich das damalige Maß an Unverstand erklären. Glaube ich jedenfalls. Ich habe sie einmal gefragt, wieso die Menschen sich damals nicht zusammen geschlossen haben, um sich freiwillig auf die nächste Ebene der Evolution zu begeben. Ich meine, die Grundlagen waren ja alle vorhanden, nicht wahr? Es soll ja einzelne gegeben haben, die schon über passable Ansätze verfügt haben.
Als ich das fragte, hat sie mich ganz traurig angeschaut. Ihr Gesicht wurde fahl und faltig. Dann hat sie den Kopf geschüttelt, dass ihre grauen Zöpfe herumflogen. „Das weiß Gott allein, das weiß Gott allein.“ Während sie das sagte, habe ich innerlich Bilder gesehen, von weiten geteerten Flächen und Menschen, die sich dicht an dicht kauerten und an Mauern drängten. Stürme fegten über die Städte und warfen diese Metalldinger in die Luft, die man Autos nannte. Wozu braucht man die eigentlich? Wir arbeiten an der Teleportation. Madeleine meint, die Forschung der Schwestern wäre bald soweit, dass die Fähigkeit serienmäßig übertragen werden kann. Oh, wie ich mich darauf freue!Doch zurück zu den Bildern des Kriesenjahrhunderts, die in mir aufgetaucht waren. „Gab es denn gar keine Alternative?“ Ich war noch keine 16, als ich sie sah. Tränen rannen über meine Wangen. Madeleine strich mir tröstend mit einer Hand über den Kopf und murmelte: „Vielleicht, wer weiß, eines Tages.“ Dann hat sie mir noch das Wissen übertragen, wie es weiter ging. Um es kurz zu machen: Die meisten Menschen starben, die Natur eroberte die Flächen zurück und heute haben wir weit entfernt voneinander Gemeinschaften, die weitgehend ohne technische Hilfsmittel auskommen. Seit ich dieses Gespräch mit Madeleine hatte, wünschte ich mir eine Bewusstseinsleitung in die Vergangenheit und die Fähigkeit, den Menschen von damals Alternativen zu zeigen.
Heute, wo ich die Entscheidung treffe, seufze ich. Hundert Jahre in einem Tempel? Gewiss, eine grandiose Aussicht müssen sie dort oben haben. Und immerhin besteht eine Chance, die letzten Jahrzehnte meines Lebens ins Dorf zurück zu kehren. Denn aus der Mitte der Schwestern wird die Älteste gewählt, sobald Madeleine beschließt, uns zu verlassen. Sie erzählt nicht viel, wie es dort oben im Tempel ist. „Lass dein Herz sprechen“, hat sie mir gesagt, wann immer ich fragte, welche Entscheidung für mich die beste wäre. Ihre Weitsicht und Weisheit hat mich tief beeindruckt. Manchmal erschien sie sogar in meinen Träumen, um mir Rat zu geben. Am meisten mag ich ihre Herzlichkeit, mit der sie uns alle und auch die gelegentlichen Reisenden umfängt. In ihrer Nähe schmilzt das Eis – und das meine ich wörtlich.
Wenn ich jedoch auf mein Herz höre, würde ich einfach dem Weg nach links, hinein in den Wald und ins Tal mit dem Großen Fluss folgen. Ich habe keine Ahnung, wo mich das hinführt. Und genau das ist es, was ich möchte: Geheimnis. Abenteuer. Lebendigkeit.
Auch jedenfalls.
Und das Leben in der Gemeinschaft.
Und die Forschungsarbeit im Tempel.
Wieder kam ein Seufzer aus meinem Körper. Ich schüttelte den Kopf, schaute von Weg zu Weg und dann hinauf in den strahlend blauen Himmel. „Lass mich alles haben, wenn es geht“, sagte ich und senkte dann den Kopf, um mein Gebet im Herzen und im ganzen Körper zu spüren, wie es mich Madeleine gelehrt hatte. Ich legte eine Hand dazu aufs Herz und die andere so auf meinen Bauch, dass sie Solarplexus und Bauchnabel miteinander verband. In dieser Haltung verharrte ich eine Weile und spürte, wie in meinem Körper immer mehr Hitze aufstieg. Es war schließlich, als flösse ein warmer Strom aus der Erde durch meine Fußsohlen und meinen Körper hinauf in den Himmel. Dann öffnete sich etwas über meinem Kopf und eine sehr helle, kraftvolle Welle spülte aus dem Nichts irgendwo über mir durch meinen Scheitel hinein und rieselte leicht und freudig durch meinen Körper zur Erde.
Als ich meine Augen wieder öffnete, lag er plötzlich vor meinen Füßen: Dieser Gegenstand, der mir Antwort gab. Zunächst glaubte ich, ich habe ihn selbst materialisiert, aber dann erkannte ich, was es war. Ein archaischer Ritualgegenstand, dessen Besitz im Vortechnischen Zeitalter, also vor rund 1000 Jahren, mit Folter und Tod geahndet wurde. Das erzählen zumindest die alten Mythen. Um genauer zu erfahren, wie es damals war, muss noch einiges an Forschungsarbeit geleistet werden. Aber Geschichtsforschung ist nicht mein Gebiet. Da stütze ich mich lieber auf die vagen Legenden. Es heißt, vor allem Frauen seien für den Besitz solcher Gegenstände hingerichtet worden, weil die Männer damals zu viel Angst vor ihrer Macht gehabt hatten.
Ich bückte mich und hob die Kristallkugel auf und hielt sie gegen das Sonnenlicht. Sie war wirklich durchsichtig! „Nun, was lehrst du mich“, murmelte ich und wunderte mich, dass ich meine Stimme benutzt hatte. Das tat ich sonst nur zum Singen. Mental geht Kommunikation weit leichter und man kann gleichzeitig die Geräusche des Windes in den Blättern und das Trällern der Vögel hören.
Während ich auf die Antwort auf meine Frage lauschte, wurde mir plötzlich klar, was die Kristallkugel mir zu sagen hatte: Erstens, ich brauchte den Tempel nicht, um meinen Traum wahr werden zu lassen. Denn den trug ich längst in mir. Sonst hätte ich nicht diese Kristallkugel als Antwort auf mein Gebet bekommen. Als dieser Gedanke da war, erkannte ich auch, warum Frauen nicht auf Visionssuche gehen: Weil sie ihren Zugang zum Göttlichen bereits in sich tragen! Ich sendete die Erkenntnis in Eves Richtung, bevor ich mich meinen weiteren Erkenntnissen zuwandte:
Zweitens: Ein Mann, der meinen Herzensruf nicht kennt, ist keine Alternative. Ich brauche jemanden, der weder meine Macht noch mein Herz scheut. Also muss ich beides zu mir nehmen, so wie diese Kristallkugel, die ich in meinen Händen halte. Also werde ich nicht ins Dorf gehen und den üblichen Stationen folgen, wie die meisten von uns.
Meine Nackenhaare sträubten sich und meine Hände zitterten, als ich die Perlenkette ablegte. Ich hängte sie gut sichtbar an einen Lindenast, bevor ich mich auf den Weg machte, hinab ins Tal und zum Großen Fluss.
Mit dem Sonnenuntergang erreichte ich eine etwa fünf Meter hohe Felsgruppe, die eine Lichtung kreisförmig umstand. Ich hatte sie noch nie gesehen. Doch das war nicht das, was mich am meisten wunderte. Am meisten verblüffte mich, dass jemand dort war und ein Feuer entfachte. Dieser jemand muss mich im selben Augenblick entdeckt haben wie ich ihn. Sein Gewand war einfach und nützlich, ein schlichter, brauner Wildlederanzug. Seine blonden, gewellten Haare umrahmten ein jugendliches Gesicht, über das er mit einem Ärmel strich, um den Schweiß wegzuwischen. Als sich unsere Augen trafen, schienen Wind und Tiere alle still zu stehen. Jedenfalls gab es kein Geräusch mehr außer zwei pochender Herzen.
Schließlich lächelte er und ich lächelte zurück.
Tiefer Frieden senkte sich über den Steinkreis und wir genossen die Stille am Feuer.
Irgendwann küssten wir uns, und aus dem Augenwinkel sah ich einen Sternschnuppenschauer.
Irgendwo rief eine Eule, dann war es auch schon bald Tag.
Muss ich hinzu fügen, dass wir zum Fluss gingen, um uns ein Floß zu bauen. Es war so ziemlich die schönste Behausung, die Sie sich vorstellen können, Mensch aus der Vergangenheit. Wenn unser Traum aufgegangen ist, dann hat Sie unsere Geschichte erreicht und wir werden nicht vergebens leben. Danke, dass Sie mir zugehört und meine Botschaft vernommen haben.