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London
»Komm schon! Los! Schneller! Die Bullen sind auf dem Weg nach oben!« Mein Kumpel Mark, ein sportlicher Typ, mit blonden, kurzen, akkurat gegelten Haaren, dem mit seinem durchtrainierten Körper einfach jedes Outfit passt, spornt mich an, ein wenig flotter in meine Kleidung zu schlüpfen.
Mein Haar ist zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden. Ich stecke in einem schicken, dunklen Jumpsuit-Overall, den mir die Jungs nur eingeredet haben, um auf dem Video angeblich noch viel besser auszusehen. »Wie kommen die Bullen überhaupt darauf, dass wir die Aktion heute hier gestartet haben?«, rufe ich ihm zu.
»Vermutlich hat einer unser Freunde die Presse informiert. Deswegen auch der Helikopter! Die Videoaufnahmen werden der absolute Hammer.« Freudig grinse ich ihn an. Als ein Mann aufs Dach stürmt, reiße ich überrascht meine Augen weit auf. Er trägt einen schicken Anzug und Krawatte wirkt kein bisschen wie einer der üblichen Streifenpolizisten. Eher wie ein Agent, wie man sie aus Film und Fernsehen kennt. Da er eine gezogene Waffe bei sich trägt, die er nicht zu verbergen versucht, gehe ich davon aus, dass er zur hiesigen Polizei gehört. Seine Marke erkenne ich schon aus der Entfernung an seinem Gürtel aufblitzen. Er gehört also nicht zur Security des Wolkenkratzers. In den wenigen Sekunden, in denen ich ihn noch mustern kann, stelle ich fest, wie unglaublich sexy er aussieht. Ich lege meinen Rucksack um, schnalle ihn fest und trete Schritt für Schritt an die Dachbrüstung heran.
Mark springt sofort mit erhobenen Händen dem Agent entgegen, um von mir abzulenken.
»Wir sehen uns später!«, versuche ich den Lärm des Hubschraubers zu übertönen, der den Wolkenkratzer langsam und stetig umkreist. Der Agent überwältigt ihn in Sekundenschnelle, drückt ihn gekonnt zu Boden und legt ihm blitzschnell Handschellen an. Kurz zögere ich. Sehe den beiden erschrocken entgegen. Soll ich nicht doch die Verhaftung in Kauf nehmen? Die bisherigen Verhaftungen zogen nur geringe Geldstrafen und Ermahnungen mit sich. Außerdem ein lebenslanges Hausverbot in einem Shoppingcenter, dessen Dach ich, zum Zwecke eines Testsprunges, erklommen habe. Aber dieses Mal will ich mich auf keinen Fall erwischen lassen! Kaum bin ich mit meinen Gedanken wieder hier, richtet sich der sexy Polizist auf, zieht erneut seine Waffe und kommt schnell näher. Ich setze mir die Schutzbrille auf.
»Polizei! Bleiben Sie stehen! Keinen Schritt weiter!«, schreit er mir äußerst angespannt mit einer lauten und dennoch angenehmen Stimme, die Waffe nicht anvisiert, von sich gestreckt, zu.
»Sonst was?«, gebe ich keck zurück. Einen Moment wirkt er irritiert.
»Ich will keine Verletzten und schon gar keine Toten hier! Außerdem will ich keinesfalls auf Sie schießen müssen! Kommen Sie von der Brüstung runter und Ihre Haftstrafe wird für den Bankraub um ein Vielfaches geringer ausfallen.«
»Bankraub? Was denn für ein Bankraub? Sie würden doch keinesfalls einfach auf eine unbewaffnete Frau feuern, nur weil sie illegal von Dächern springt?«, frage ich skeptisch und muss verwirrt, vielleicht ein wenig zu schadenfroh lächeln. Bin dabei selbst über mich verwundert, dass ich in seiner Gegenwart überhaupt noch kontern kann. Er ist der Typ Mann, den ich nie im Leben von selbst ansprechen würde. Er spielt in einer völlig anderen Liga. Jedoch ignoriert er meine Worte einfach, nimmt mich noch einmal in Augenschein.
»Bitte steigen Sie von der Brüstung runter«, betont er äußerst ruhig und plötzlich freundlich.
»Ich komme runter, sobald Sie die Pistole runternehmen! Ich habe nichts mit einem Bankraub zu tun.«
Vermutlich klinge ich überzeugend genug. Sofort lässt er die Waffe ein Stück weit sinken.
»Dann haben Sie auch nichts zu befürchten! Wie heißen Sie?«, will er etwas ruhiger in Erfahrung bringen, ohne seinen prüfenden Blick abzuwenden. Er schätzt die Situation genauestens ab.
»Tessa.« Verdammt. Ich habe so schnell geantwortet, dass ich nicht mal Zeit hatte, einen falschen Namen zu nennen.
Skeptisch sehe ich ihn an, seine Reaktion verwirrt mich. Er sieht einfach zu unverfroren gut aus, um in seiner Nähe weiter konzentriert zu bleiben. Diese dunklen, widerspenstigen Haare und ein unglaublich ansehnliches, männliches Gesicht, das von einem Dreitagebart gerahmt wird, der ihn noch attraktiver und unglaublich anziehend wirken lässt.
»Ein schöner Name, Tessa. Nun sind aber Sie an der Reihe! Kommen Sie runter.« Ich nicke, lächle ihm noch einmal zu. Stehe mit dem Rücken zum Abgrund der Londoner City und blicke in sein Gesicht. Setze an, während ich spreche, als würde ich nach vorne zurück auf das Dach steigen, dann stoße ich mich mit aller Kraft rückwärts in einen Salto.
»Vielleicht beim nächsten Mal, sexy Bulle!« Ich glaube ihn noch rufen zu hören: »Dich erwische ich auch noch!«
Zumindest bilde ich mir ein, ihn trotz des laut pfeifenden Windes zu vernehmen. Lauthals schreie ich: »Yee-haaaaw!«
Drei, vier Sekunden. Mehr Zeit bleibt nicht im freien Fall bei diesem Base Jump. Ich ziehe die Reißleine an meinem Rucksackfallschirm und schnappe die Lenkgriffe. Unten erkenne ich Streifenwagen, die das Gebäude umstellen, deswegen muss ich wohl oder übel etwas ausweichen. Über den Funk, der als Knopf in meinem Ohr die Verbindung zu den Kumpels hält, gebe ich meinem Fluchtwagen Bescheid und lande letzten Endes auf einer Rasenfläche, die die Wormstreet von der A10 trennt.
Ein Kumpel von Mark rast wie wild mit dem Auto heran. Noch einmal drehe ich mich um, sehe zurück nach oben zu dem Gebäudekomplex, winke in die Runde und raffe meinen Schirm so gut es geht zusammen.
Ganz passt er dennoch nicht neben mich auf den Rücksitz und wird in der Tür des Ford Galaxy eingeklemmt, der ihn mit quietschenden Reifen, hinterherzieht.
Die aufgerissenen Münder der Passanten und Autofahrer sind göttlich mit anzusehen. Doch nur zu gern hätte ich jetzt das Gesicht des gut aussehenden Polizisten hoch oben auf dem Dach gesehen.