Es war ein ruhiger Abend in der Bar. Ungewöhnlich für einen Freitagabend. Die Besitzer, Sara und Frank, ließen mich daher früher Feierabend machen. Das war mir heute nur zu recht. Müde und mit beginnenden Kopfschmerzen, holte ich mir meine Handtasche vom kleinen Aufenthaltsraum im hinteren Teil der Bar, der neben dem Lagerraum lag.
Auf dem Weg nach draußen verabschiedete ich mich noch mit einem „Bis morgen, ihr beiden.“
„Bis morgen Alexa“ und warfen mir noch schnell ein „Und komm gut nach Hause“ hinterher.
„Ihr beiden später auch.“
Ich arbeitete seit knapp zweieinhalb Jahren bei dem älteren Ehepaar, habe kurz nach deren Eröffnung angefangen. Damals hatte ich es nicht leicht, habe es oft auch jetzt nicht. Es ist schwer, wenn man sich an nichts mehr von seiner Vergangenheit erinnerte. Es machte es auch nicht besser, dass es anscheinen niemanden gab der nach einem suchte. Keine Freunde oder irgendwelche Verwandten. Das tat schon weh. Zu mindestens Freunde musste ich doch gehabt haben. Ich hatte schon herausgefunden, dass meine Eltern schon verstorben waren und ich nicht mehr viele Verwandte hatte. Offensichtlich auch keinen Kontakt. Schwieriges Verhältnis? Musste so sein, denn niemand interessierte es, was mir geschehen war.
Aufgrund dessen war ich um so erleichterter, dass ich bei den beiden einen Job ohne Vorkenntnisse oder Erfahrung fand. Warum genau ich bei meiner vorherigen Anstellung nicht mehr arbeitete, konnte mir keiner sagen. Es war egal, ich konnte nichts daran ändern, solange meine Erinnerung nicht zurückkam. Ich baute mir ein neues Leben auf, schaffte mir neue Erinnerungen. Es war schwer, aber die eine oder andere flüchtige Bekanntschaft hatte ich geschlossen. Die wussten jedoch nichts von meiner Amnesie. Ich wollte nicht wieder die mitleidigen Blicke in deren Gesichter sehen. Einer war sogar dabei gewesen, der zu mir sagte das ich das erfunden hätte. um eben Mitleid zu bekommen. Arschloch.
So toll es auch war, früher nach Hause zu können, so anstrengend war es jetzt für mich. Als ich mich zu Mittag auf den Weg zur Arbeit machte, sprang die alte Kiste von einem Auto nicht an. Jetzt musste ich die Straßenbahn nehmen. Was auch einer der Gründe war, warum mich die beiden früher gehen ließen. Es wäre natürlich auch zu Fuß möglich, in meine Wohnung zu kommen, doch um halb zwölf in der Nacht auch nicht mehr so sicher wie früher. Von den ganzen Meldungen im Fernsehen oder den Zeitungen waren alle Leute sowieso schon so sehr verunsichert, dass man nur mehr wenige um diese Uhrzeit alleine herumlaufen sah. Meistens nur mehr in Gruppen. Und denen konnte man auch nicht allen trauen.
Nach kurzem Überlegen, ob ich sollte oder nicht, bog ich in die Seitengasse ein. Weder sah noch hörte ich irgendetwas oder jemanden. Es war zwar der schnellere Weg zur Straßenbahnstation, normalerweise mied ich jedoch solche Gassen. Eben, weil ich ganz alleine unterwegs war. Um diese Uhrzeit hielten sich hier nur noch Drogensüchtige oder irgendwelche Kriminellen hier auf.
Vereinzelt brannten schwach die Lampen an den Hinterausgängen anderer Lokale, so das mir der Weg etwas ausgeleuchtet wurde. Sollte mir irgendeine dunkle Gestalt entgegenkommen, würde ich sie früh genug sehen und immer noch in die entgegengesetzte Richtung laufen können. Hoffte ich zu mindestens.
Der Gestank in dieser Gasse war ekelerregend. Neben den Müllcontainer konnte ich immer wieder die Hinterlassenschaften von Tieren, und sicher von dem einen oder anderen Menschen, erkennen. Was aber nur zum Teil den strengen Geruch erklärte. So genau wollte ich es auch nicht wissen. Damit ich diesem Gestank entkam, begann ich schneller zu gehen. Während ich mich beeilte und überlegte, wie ich die Reparaturkosten für mein Auto zusammenkratzten sollte, bemerkte ich die Ratte erst, als sie über meine Füße huschte. Ich erschreckte mich so sehr, dass ich einen spitzen Schrei ausstieß, einen Sprung nach oben machte und bei der Landung fast stolperte. Angeekelt legte ich noch mal einen Gang zu, um endlich aus dieser verdreckten Gasse zu kommen.
Wenigstens kommt mir kein Junkie oder sonst wer entgegen, dachte ich mir nur mehr und schüttelte mich bei diesem Gedanken. Gleich bin ich am Ende angelangt und weg von hier.
Zwischendurch hörte man das Rascheln von den Viechern. Diese Gasse hatte für mich die Atmosphäre eines Horrorfilmes. Es war düster, dreckig, unheimlich. Ich fühlte mich hier nicht wohl. Dann fielen auch noch die ersten Regentropfen. Ich hob genervt den Kopf zum dunklen Himmel hinauf. Jetzt erst bemerkte ich das ich weder den Mond noch einen einzigen Stern ausmachen konnte.
„Na toll, jetzt auch das noch. Reicht es nicht, dass es hier nur so von Ratten wimmelt? Und fürchterlich stinkt!“, und meinen Regenschirm habe ich auch nicht dabei, fügte ich still hinzu. Der lag auf dem Beifahrersitz der Schrotkiste.
Als ich meinen Kopf wieder senkte, sah ich wie aus dem nichts, zwei in schwarzen Mäntel gekleidete Männer vor mir.
Wo kamen die auf einmal her, dachte ich und blieb wie angewurzelt stehen. Gerade war weit und breit keiner zu sehen. Auch das Geräusch von einer sich öffnenden Tür wäre mir nicht aufgefallen. Und schon machte sich ein mulmiges Gefühl in mir breit. Die sahen nicht gerade vertrauenerweckend aus.
Da die beiden gerade neben einer Lampe standen, konnte ich sehen, dass ihre Gesichter zur Hälfte von einer dunklen Kapuze verdeckt waren. Die Nasenspitze und der Mund lugten darunter hervor. Auch wenn ich die Augen nicht sehen konnte, war ich mir mehr als sicher, dass diese kalt und ohne jegliche Emotionen waren. Warum auch immer, aber ich konnte das spüren.
So viel dazu, ich würde früh genug jemanden erkennen, um notfalls umzudrehen und zurücklaufen zu können.
Mein mulmiges Gefühl wurde zu einem alarmierenden, dass mir eindeutig sagte, ich sollte schnellstmöglich verschwinden. Ich drehte mich um und rannte los. Doch weit kam ich nicht. Einer der beiden machte einen Satz nach vorne und packte mich grob um meinen Brustkorb. Vor Angst schrie ich laut auf, krallte meine Hände in seinen Unterarm und versuchte diesen wegzuzerren. Doch er hielt mich so fest, dass ich keine Chance hatte.
Jetzt ist`s aus mit mir, war mein einziger Gedanke. Das hat man davon, wenn man um diese Zeit alleine hier herumlaufen musste. Warum zum Teufel bin ich nicht einfach den längeren Weg gegangen?
Mir brach kalter Schweiß aus. Ich hielt die Luft an, als ich das Messer an meinem Hals spürte. Da ich nicht die Kraft hatte mich zu befreien, wartete ich auf den Schnitt und den damit verbundenen Schmerz. Ich war mir sicher, dass es so weit kam. Doch das Messer verschwand und ich stürzte durch einen heftigen Stoß nach vorne. Aufkeuchend landete ich hart auf dem schmutzigen Boden. Dabei schürfte ich mir die Hand- und Knieflächen auf. Total verwirrt und über alle Maße verängstigt, rappelte ich mich auf und drehte mich um. Wollte wissen, warum ich auf einmal losgelassen wurde. Und traute meinen Augen nicht. Ein dritter Mann war dazugekommen und kämpfte gegen meinen Angreifer. Nicht lange und mein Retter zog ein langes Messer, holte aus und stieß es dem anderen direkt ins Herz. Erst bei dessen Niederlage reagierte der zweite dunkle Mann und zog ebenfalls ein Messer. Mit großen Schritten ging er auf meinen Retter zu. Bevor dieser ihn treffen konnte, wich er gekonnt aus. Beim erneuten Versuch zu treffen, fing mein Retter dessen Hand ab, bog seinen Arm um und stach sein Messer tief in seine Brust. Röchelnd ging auch dieser zu Boden.
Die ganze Zeit kam kein einziger laut über meine Lippen. Zu schockiert von dem gesehenen, war ich in eine Art Angststarre verfallen. Nicht einmal der Gedanke an Flucht kam mir in den Sinn. So schrecklich es auch war, mit anzusehen, wie sich die Blutlachen unter den Männern ausbreitete, ich konnte einfach nicht wegschauen. In dem schwachen Licht erschien das Blut fast schwarz. Jetzt wurde mir doch langsam übel. Krampfhaft zog sich mein Magen zusammen, konnte es jedoch noch zurückhalten. Das hier konnte doch nicht gerade wirklich passieren.
Ich fragte mich nur, warum ich nicht einfach meinen Kopf wegdrehte, um diese Szene nicht weiter ansehen zu müssen. Ich würde diesen Anblick wohl nie wieder vergessen können. Sicher nicht. Mir kam nur noch in den Sinn, dass er so etwas sicher nicht zum ersten Mal getan hatte. Zu mindestens das er für solche Situationen Trainierte. Dafür waren seine Bewegungen viel zu präzise, als dass es anders hätte sein können.
Zuerst bekam ich nur mit, dass mein Retter sein Messer an dem Mantel des Toten abwischte und auf mich zuging. Mit jedem weiteren Schritt ließ auch meine Starre etwas nach. Sein Blick war jetzt nicht mehr so wutverzerrt und kalt wie zuvor, ich wich aber dennoch weiter zurück. Bis es so weit kam, dass ich mit dem Rücken gegen eine Wand stieß. Sie fühlte sich kalt und rau an meinem Rücken an und hinderte mich daran, weiter zurückzuweichen. Auch wenn er mich vor diesen dunklen Gestalten gerettet hatte, ich konnte mir nicht sicher sein, ob er mir nicht auch noch was antat. Oder wollte er mir wirklich nur helfen? Er war auch so ein großer Kerl wie die beiden Angreifer. Ich musste hart schlucken, mein Blick huschte hin und her. Obwohl ich mich nicht erinnern konnte, ob ich einen Grund hatte, anderen nicht zu vertrauen, wusste ich nicht, wie solche Menschen ticken. Keine zwei Meter vor mir blieb er stehen. Ich brachte immer noch keinen Ton von mir raus. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als ob es aus meinem Brustkorb raus wollte, um zu flüchten. Er musterte mich von oben bis unten, als ob er sich vergewissern wollte, dass noch alles an mir dran wäre?
„Keine Angst“, sprach er mich an und sah dabei leicht gestresst aus, „ich tu dir nichts. Aber wir müssen hier schleunigst weg, bevor die anderen mitbekommen das die beiden tot sind.“
Ich rührte mich immer noch nicht. Zu panisch, um zu überlegen, was ich jetzt machen sollte. Zwar sah er jetzt freundlich drein, ich konnte diesen Mann dennoch nicht ganz richtig einschätzen. Wie auch?
Irgendwie kam mir ein „Wer bist du?“ mit extrem zittriger Stimme hervor. Traute mir nicht, ihm direkt ins Gesicht zu sehen.
In seiner Stimme konnte ich jetzt deutlich die Ungeduld heraushören, als er sagte „Ich bin Liam. Komm, wir müssen hier jetzt sofort weg, Alexa.“
Als ich immer noch nicht beabsichtigte, mich zu bewegen, schnappte er mich bei der Hand und zog mich einfach mit sich. Immer noch in einer leichten Schockstarre, lief ich ihm mehr stolpernd als laufend hinterher. Am Ende der Gasse angekommen, stand ein alter roter Pick-Up auf den er mit mir zulief.
Er öffnete mir die Beifahrertür und sagte nur „Los, steig ein.“. Wenn mich jemand fragen würde, warum ich einstieg, ich könnte demjenigen keine Antwort geben. Ich wusste nicht, wer der Fremde war, noch was genau hier vor sich ging. Normalerweise müsste die Polizei verständigt werden und nicht einfach davonfahren und die Angreifer so öffentlich liegen gelassen werden.
Doch tief in mir drinnen regte sich etwas. Irgendetwas zog mich zu dem fremden Retter hin. Als wären wir irgendwie miteinander verbunden.
Verdammt noch mal, woher kam plötzlich dieses Gefühl, das ich ihm vertrauen kann? Dieses Gefühl des Kennens? Wie kann ich zuerst diese Heidenangst vor ihm haben und dann so vertrauen, dass ich in dieses Auto steige? Irgendetwas stimmte hier überhaupt nicht. Ich glaube, ich drehe durch. Gab es in meinem Stammbaum irgendwelche Geisteskrankheiten, die jetzt plötzlich durchbrachen?
Ich sah ihm an, als er aufmerksam um den Wagen ging, dass er nur darauf wartete, dass ich abhaute. Doch ich blieb auf meinem Sitz. Und wieder fragte ich mich, warum. Die Chance jetzt abzuhauen hätte ich gehabt. Nur wie weit wäre ich gekommen? Sicher nicht weit. Er hatte nach dem Kampf keinerlei Anzeichen von Erschöpfung oder sonst etwas gehabt. Gut, lange hatte er dafür auch nicht gebraucht, aber müsste er nicht etwas außer Atem von dem kurzen Kampf gewesen sein?
Als auch mein Retter endlich eingestiegen war, hielt ich es nicht länger aus und verängstigt rief ich zu laut, „Was geht hier vor sich? Woher kennst du meinen Namen? Wir müssen doch die Polizei verständigen und ihnen sagen, was passiert ist.“ Kam ich etwa langsam wieder zu verstand? Wurde auch langsam Zeit.
„Nein, wir können nicht die Polizei verständigen. Außerdem wären die Leichen bis dorthin sowieso verschwunden. Mach dir um die beiden keine Sorgen.“
Was sprach dieser Mann nur? „Was heißt hier, die Leichen wären bis dahin verschwunden? Was ist das hier für ne Kranke scheiße?“
Er startete Augen rollend den Wagen. Durch das abrupte anfahren drückte es mich in den Sitz zurück.
„Alexa, sobald wir im Versteck sind, werde ich dir alles erklären, aber jetzt müssen wir schleunigst verschwinden.“
So leicht ließ ich nicht ab, außerdem war ich von der momentanen Situation so überfordert, dass ich noch lauter wurde, „Nein, ich will jetzt wissen, was hier los ist. Und wer waren diese Männer?“ Ich wollte sofort wissen, wer sie waren, warum ich angegriffen wurde und warum hatte er ausgerechnet die beiden umbringen müssen? Hätte es nicht gereicht, sie nur bewusstlos zu schlagen und die Polizei zu verständigen?
Als Liam so schnell in eine Kurve hineinfuhr, dass es mich ruckartig gegen die Beifahrertür drückte, beschloss ich vorerst lieber doch den Mund zu halten. Nicht das ich ihn so ablenkte und er irgendwo reinraste. Die Gebäude und Bäume, an denen wir vorbeifuhren, sahen alle schon fast verschwommen aus. Ich bezweifelte stark, dass er sich an irgendeine Geschwindigkeitsbegrenzung hielt. Wusste er nicht das es sehr gefährlich war, vor allem, da wir noch in der Stadt waren, wo Tempo 50 herrschte und ein Haufen enge Kurven waren? Unser einziges Glück war nur, dass gerade keine anderen Autos unterwegs waren. Es begann auch gerade recht kräftig zu regnen.
„Es dauert nicht mehr lange, bis wir dort sind. Dann erklär ich dir alles.“
Das beruhigte mich nicht wirklich. Die ganze Ungewissheit machte mich verrückt. Ich hatte keinen einzigen Anhaltspunkt, warum mir wer was antun sollte. Durch die Schnelligkeit, mit der er fuhr, wurde mir schlecht. Ich hielt lieber weiter den Mund, bevor noch etwas herauskam und das Armaturenbrett des Autos damit dekorierte. Ich bezweifelte stark das ihm das gefallen würde. Aus den Augenwinkel sah ich, dass dieser Liam sein Handy aus seiner hinteren Hosentasche herausfischte. Ich fragte mich ehrlich, wie er es geschafft hatte, dieses bei dem Kampf nicht zu verlieren. Mit wem er auch sprach, er informierte dem oder diejenige nur, dass sie gleich ankommen würden. Wo auch immer das sein sollte. Keinen blassen Schimmer, in welcher Gegend wir gerade waren.
Mir kam die Fahrt beinahe endlos vor, als Liam endlich vor einem kleineren Haus anhielt. Fast zeitgleich öffnete sich die Eingangstür, wo eine junge Frau in meinem Alter, mit langen blonden Haaren, herausschaute. Sie nickte nur in Liams Richtung und verschwand wieder im Haus. Dann nahm er eine kleine Fernbedienung zur Hand und öffnete das Garagentor, in dessen er rückwärts reinfuhr. Erst als er zu mir „Komm, steig aus“ sagte, kam ich der Aufforderung wie betäubt nach. Ich folgte ihm durch eine Verbindungstür am Ende der Garage ins Innere des Hauses. Durch einen kleinen Vorraum weiter in das Wohnzimmer, wo auch die fremde Frau auf uns wartete.
Es befand sich nur eine dunkelbraune Couch mit einem niedrigen Hocker gegenüber dem dazu passenden Tisch. Die Vorhänge der beiden Fenster im Raum waren zugezogen.
„Ich bin Laura“, stellte sie sich mir vor.
Total verwirrt stand ich nun in diesem Raum und wusste nicht, was ich tun sollte. Dieser Laura musste bewusst sein, dass ich mit der Situation überfordert war, denn sie blieb vorerst auf Abstand zu mir.
„Setzt euch erst mal, ich hol uns schnell was zu trinken, bevor wir dir alles erklären.“, und war auch schon verschwunden.
Völlig erschöpft und zittrig setzte ich mich auf die Couch. Ein Teil der Aufregung hatte sich gelegt. Liam setzte sich mit mehr Abstand neben mich. Es dauerte nicht lange und Laura war wieder zurück. Sie stellte das Tablett auf den Tisch vor uns ab.
Bevor sie auch nur die Gläser aufteilen konnte, sprach ich schärfer als beabsichtigt „Kann mir, um Gottes Willen, mal jemand erklären, was hier eigentlich vor sich geht!“
Verdutzt blickten mich beide an. Als ob sie es nicht gewohnt waren, dass jemand so mit ihnen sprach. Das Ich mit ihnen so sprach? Egal, ich wollte jetzt endlich Antworten auf meine Fragen und kein vertrösten oder um den heißen Brei herumgerede. Mit einem Seufzer nahm Laura auf dem Hocker Platz.
Liam sah nachdenklich aus, begann aber endlich zu reden. „Die beiden Männer, die dich in der Seitengasse angegriffen haben, waren sogenannte Wächter. Diese töten, auf Befehl vom Rat, all jene, die in ihren Augen unserer Art nicht würdig sind. All jene, die nichts Besonderes sind und damit die Reinheit der Rasse gefährden könnten.“
Ich verstand wirklich nicht, was sie von mir wollten. Verarschten sie mich? „Was für eine Rasse? Soll das ein Scherz sein? Sind wir hier bei `Versteckter Kamera` oder was?“ Zweifelnd sah ich mich im Raum um, ob da nicht doch welche waren. Aber würde ich diese erkennen, wenn sie gut versteckt wären? Es waren keinerlei Dekorationsgegenstände vorhanden, in welche sie diese versteckt haben könnten. Und an den Wänden hing auch nichts.
Jetzt versuchte mir Laura etwas zu erklären. „Alexa, es gibt weit mehr auf der Welt, als die Menschen begreifen können.“, kurz zögerte sie noch, „Es gibt Menschen, die eine besondere Begabung besitzen. Fähigkeiten. Für die Menschen, zumindest in den letzten Jahrhunderten, sind dass alles nur mehr Hirngespinste, Märchen oder einfach nur Einbildungen. Heutzutage glauben die Menschen nicht mehr an so etwas. Was uns zugutekommt, da wir nicht mehr so schnell befürchten müssen gejagt zu werden. Trotzdem müssen wir aufpassen uns mit unseren Fähigkeiten nicht zu zeigen.“
Mir gingen so viele Gedanken im Kopf herum, dass ich keinen einzeln zu fassen bekam. Ich wusste gar nicht richtig, was ich sagen sollte. „Was soll das bitte mit mir zu tun haben?“
„Dinge wie Telekinese, Telepathie“, sprach jetzt wieder Liam, „Hellsehen existieren wirklich. Wir halten uns nur im Hintergrund, dass niemand von uns erfährt.“
Sein Blick drückte, für mich, eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit, Müdigkeit und Bedauern aus. Er sah mich zwar direkt an, aber ich empfand es nicht als störend. Bei so einem Anstarren fühlte ich mich normalerweise sehr unwohl und blickte überall hin, nur nicht zu dieser Person. Hatte das Bedürfnis wegzurennen. Wieder fragte ich mich, warum ich so einfach zu ihm ins Auto gestiegen war und ich mich unter solch, fast schon intensiven, Blick nicht unwohl fühlte.
„Wollt ihr mich verarschen?“ brauste ich auf, ohne mich zurückhalten zu können. Ich kam mir mehr als nur verarscht vor. „Die beiden Typen haben nicht gerade so ausgesehen, als hätten sie besondere Fähigkeiten.“
„Ich weiß, es ist sehr verwirrend und unfassbar, aber es ist eine Tatsache, dass …“ weiter lies ich Laura nicht ausreden, die meine schlechte Stimmung nicht noch mehr anheizen, eher mit ruhiger Stimme meine Nerven beruhigen wollte.
Ich sprang auf, sah noch ihre nicht gleich verstehenden Gesichter, und lief durchs Wohnzimmer Richtung Vorzimmer, wo ich vorhin die Eingangstür gesehen hatte. Ich musste so schnell wie möglich von hier verschwinden. Auch wenn ich zuvor ein kurzes aufflackern von Vertrauen verspürt hatte, das hier waren definitiv gestörte Menschen und solche waren gefährlich. Wenn man in solchen Kreisen erstmal drin war, war ein Entkommen so gut wie unmöglich.
Man hörte noch Liams und Lauras Stimmen nach mir rufen, seine weitaus lauter als ihre. Meine Hand legte sich schon um den Knauf, Hoffnung keimte in mir auf das ich es doch noch schaffen konnte abzuhauen, als mich Liam am Arm zu fassen bekam. Verdammte scheiße, wie konnte er mir so schnell hinterherkommen? Ich war doch eine gute Läuferin.
Jetzt schrie mich dieser Liam auch noch fast wütend an „Verdammt, du kannst nicht einfach so davonlaufen! Du bist da draußen nicht mehr sicher!“
Bildete ich es mir ein oder klang auch leichte Verzweiflung oder Angst in seiner Stimme mit?
Ich ließ mich dadurch nicht beirren und schon gar nicht solch ein verhalten ihrerseits bieten lassen. Was fiel denen beiden nur ein, mir so eine Geschichte auftischen zu wollen. Ich war stinkwütend.
„Wie du siehst, kann ich es. Und ich werde jetzt zur Polizei gehen.“ Meine Versuche, meinen Arm aus seinem Griff zu befreien, schlugen fehl. Man, hatte dieser Mann eine Kraft. Erstaunlicherweise tat er mir damit nicht weh. Bevor ich ihm noch einige Schimpfwörter an den Kopf werfen konnte, schmiss er mich kurzerhand über seine Schulter. Mir entkam ein quieken, was mir in einer anderen Situation durchaus peinlich gewesen wäre.
Ich fing mich gleich wieder und schrie, „Lass mich runter. Du kannst mich hier nicht festhalten!“, und trommelte mit aller Kraft mit den Fäusten auf seinen Rücken ein. Es schien ihm überhaupt nichts auszumachen, gar nichts zu spüren. Im Wohnzimmer angekommen, lies er mich auf die Couch plumpsen. Und die war spürbar nicht die weichste.
Er sah mich nicht an, drehte sich gleich zu Laura und sprach „Ich hab`s dir ja gesagt, nur mit Worten kommen wir bei ihr nicht weit.“
„Ihr seid alle beide verrückt! Ihr könnt mich hier nicht so einfach so festhalten!“
Ich war kurz davor hysterisch zu werden. Einen erneuten Fluchtversuch wagte ich nicht. Nach seinem Gesichtsausdruck, als er wieder in meine Richtung schaute, wäre keine so gute Idee. Sofort hätte ich ja sowieso keine Chance, jetzt war er vorbereitet. Ich glaubte nicht, dass er mir irgendetwas antun würde, genug Gelegenheiten hätte er ja schon gehabt. Jedoch, man wusste ja nie.
„Also gut, ich werde dir Beweisen, dass es solche Fähigkeiten gibt.“
Er stellte sich neben eins der Fenster, gute drei Meter von der Couch entfernt. Ich verfolgte ihn misstrauisch mit den Augen. Er sprach nicht, sah mir nur in die Augen. Schon wollte ich etwas sagen, als plötzlich das Tablett mit den Gläsern und der Wasserflasche in die Luft schwebte. Ich starrte darauf und war völlig verblüfft. Dann sank es wieder auf den Tisch zurück. Jetzt schwebten nur die Gläser, bis sie sich zu bewegen begannen. Eines zu mir, zu Laura, die wieder auf dem Hocker Platz genommen hatte, und das letzte blieb dort, wo zuvor Liam gesessen hatte, auf dem Tisch stehen. Nicht genug von dem Ganzen, schwebte nun auch noch die Wasserflasche. Der Verschluss drehte sich wie von selbst auf und blieb auf dem Tablett liegen. Nun schwebte eben diese Flasche über mein Glas. Mit aufgerissenen Augen sah ich zu, wie sich diese verdammte Flasche neigte, bis das Wasser heraus ins Glas floss. Diese verdammte Flasche und die anderen Sachen, waren einfach so in der Luft. Geschwebt. Mir wurde ganz anders. Das konnte nicht wahr sein. Ich musste halluzinieren. Das war auch mein letzter Gedanke, bevor das Glas voll war und mir schwarz vor Augen wurde.