In der Nacht schlief ich unruhig. Ständig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Immer wieder blitzten unzusammenhängende Bilder auf. Nur wenige konnte ich erkennen. Ich sah meine Adoptiveltern, einzelne Szenen, wo ich im Restaurant kellnerte, einen blutverschmierten Boden, Liam der jemanden Blumen schenkte, den ich nicht sehen konnte. Zwischendurch hörte ich lachen und jemanden vor Furcht und Schmerzen schreien. Als im Traum auch noch ein großer, schwarz gekleideter Mann auftauchte, der eine Kapuze aufhatte und ein Messer in der Hand hielt, wachte ich mit einem stummen Schrei auf. Noch im Traum gefangen sah ich mich panisch im Raum um. Schwer atmend schüttelte ich die Bilder ab. Ich war alleine. Liam musste irgendwann gegangen sein, als ich schon fest geschlafen hatte. Draußen war es noch stockdunkel. Der Mond schien hell und erleuchtete den Raum, da keiner von uns beiden die Vorhänge zugezogen hatten. Keine Ahnung, wie spät es war, ich konnte keinen Wecker entdecken. Total verschwitzt und mit furchtbarem Durst stand ich auf und machte mich leise auf den Weg in die Küche. Um niemanden auf mich aufmerksam zu machen, tastete ich mich im Dunkeln an der Wand entlang zur Treppe. Auf die gleiche Weise nach unten und am Ende fand ich einen Lichtschalter, betätigte ihn. Bei unserer Ankunft hatte ich nur den kleinen Vorraum und das Obergeschoss zu Gesicht bekommen. So öffnete ich die erste Tür gegenüber der Treppe. Ein großes Wohnzimmer mit großer Couch, Kamin und anschließender Terrasse. Auch hier leuchtete der Mond alles aus, konnte schemenhaft die Einrichtung erkennen.
Gut. Dann musste die zweite Tür hier unten die Küche sein. Tatsächlich war es diese, suchte den Lichtschalter und fing an die Schränke nach einem Glas zu durchsuchen. Ich schnappte mir eines und füllte es mir randvoll. Noch hatte ich diesen Traum nicht ganz verdrängen können. In großen Schlucken leerte ich es gierig. Ich wollte mir gerade noch ein zweites Mal nachfüllen, als ich plötzlich, hinter mir eine Bewegung wahrnahm. Alarmiert drehte ich mich schnell um. Zu schnell. Mir fiel das Glas durch den Schwung aus der Hand. Ein grauenhaftes klirren durchbrach die stille. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Und dann erkannte ich Liam vor mir. Mit geschlossenen Augen atmete ich erleichtert auf.
„Es tut mir leid,“, entschuldigte sich Liam, „ich wollte dich nicht erschrecken.“
Er kam auf mich zu. Nahm mich sanft am Arm und führte mich von den Scherben weg. Mir schien, als ob er im Moment, die ruhe selbst war. „Setzt dich, ich räum das schnell weg.“
Allmählich fand mein Herz wieder in seinem normalen Rhythmus zurück. Ich setzte mich und war froh, dass Liam mir das wegräumen abnahm. Durch die verwirrenden Bilder im Traum zuvor und der Schrecken jetzt, zitterten meine Hände noch leicht. Natürlich kamen, durch den Lärm aufgeschreckt, die anderen kurz darauf herunter. Keine Ahnung, woher, aber Laura tauchte, mit einem Baseballschläger bewaffnet, vor den andern auf. Die drei waren für alles bereit. Als sie sahen, dass Liam gerade Scherben in den Mülleimer warf, setzte Erkenntnis in ihren Gesichtern ein. Die drei atmeten erleichtert auf.
„Keine Sorge. Es ist nur ein Glas runtergefallen. Geht ruhig wieder weiterschlafen.“
Sie nickten uns zu und verschwanden wieder. Ich warf ihnen vorher noch einen entschuldigenden Blick zu, aber sie winkten nur ab. Es war mir unangenehm die anderen so aufgeschreckt zu haben und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Jedoch war ich sehr froh darüber, dass sie mich nicht mit Fragen durchlöcherten und mich in Frieden ließen. Ich hatte keine Lust auf ein längeres Gespräch. Liam setzte sich zu mir, nahm meine Hände in seine und zog sie von meinem Gesicht weg. Und behielt sie weiter in seinen. Ich musste an zuvor zurückdenken. Es war schön gewesen, gehalten zu werden. Aber es war mir peinlich, in seiner Gegenwart, so einen Gefühlsausbruch, gehabt zu haben.
„Was ist los?“, fragte er sanft. „Was tust du hier mitten in der Nacht?“
„Alles Ok. Ich konnte nur nicht mehr schlafen.“ Ich wich seinem Blick aus.
„Versuch noch ein paar Stunden zu schlafen. Es ist erst kurz nach Mitternacht.“
Ich war zwar Müde, aber nicht sicher, ob ich noch einschlafen konnte. Meine Gedanken kreisten. Trotzdem nickte ich ihm zu. Mir war bewusst, dass er mir nicht ganz glaubte. Seine Augen waren zu wachsam. Aber er bohrte nicht nach. Gemeinsam erhoben wir uns und er begleitete mich bis zu meinem Zimmer. In der offenen Tür blieben wir stehen. Ich drehte mich zu Liam, um ihm zu danken. Er lächelte leicht, legte seine Hand sanft auf meine Wange. Er strahlte eine Hitze aus, die sich in meinem ganzen Körper ausbreitete. Dann strich er mit dem Daumen federleicht darüber und sprach, „Keine Angst. Ich bin immer in deiner nähe.“
Und das glaubte ich ihn, ohne auch nur die Frage zu stellen, warum. Bevor er sich von mir verabschiedete und ging, gab er mir einen Kuss auf die Stirn.
Kurz blieb ich noch verwirrt, mit leicht geöffneten Lippen und einem Verlangen, welches ich nicht näher beschreiben konnte, im Gang stehen. Die Geste kam mir so vertraut vor. Nur woher und warum nur war mir diese Berührung von ihm nicht unangenehm?
Am nächsten Morgen versammelten wir uns wieder in der Küche. Das Frühstück fiel nur spärlich aus, da keiner mit einer übereilten Flucht gerechnet hatte. Deswegen war nur wenig in der Vorratskammer gelagert. Laura und Frank machten sich danach auf den Weg, einige Lebensmittel für die nächsten Tage zu besorgen. In der Zwischenzeit machten ich und Sara die Küche sauber. Danach wollten wir gemeinsam das restliche Haus vom angesammelten Staub befreien. Liam war draußen Holzhaken, weil hier nur ein Holzoffen eingebaut war. Für die Nacht war noch wenig neben dem Kamin aufgestapelt gewesen.
Eigentlich hatte ich keine Lust über unsere Lage zu sprechen. Aber mich interessierte es schon, wie diese Wächter uns eigentlich gefunden hatten. Jedoch konnte mir Sara nicht sagen wie. Nur das ein Freund von Liam sie gewarnt hatte und das wir aufpassen sollten mit wem wir in Verbindung stehen. Wen wir vertrauten. Sara sprach es zwar nicht aus, aber es hörte sich so an, als wären in ihren Reihen ein Verräter. Oder mehrere. Jedenfalls hatte Laura das Haus erst kürzlich unter falschen Namen gekauft. Und niemand von den vieren hatte es jemanden anvertraut. Nicht einmal Max hatte davon gewusst, obwohl sie ihm vertrauten. Und es war sehr gefährlich für ihn, Max versuchte heimlich, an Informationen zu kommen. Durch die ganzen Spitzel, die der Rat im ganzen Land verteilt hatte, war es nicht unbedingt leichter für ihn.
„Es ist schwer für Max,“ Sara wischte sich über die Stirn „immerhin sind überall Spitzel vom Rat verteilt. Er hat Liam sogar eine neue Nummer gegeben, unter die er ihn nur in dringenden Fällen kontaktieren kann.“
Ich machte es Sara gleich und wischte mir über die Stirn. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es höchste Zeit für einen Kaffee war. Sara stimmte mir erfreut zu. Zum Glück hatten wir Instantkaffee und Zucker in der Vorratskammer gefunden. Ich wollte Liam Bescheid sagen und ging Richtung Wohnzimmer. Als ich durch die Tür ging, kam er gerade durch die Terrasse herein und zog die Schiebetür zu. Mit bloßem Oberkörper und leichtem Schweißfilm auf der Haut sah er umwerfend aus. Als er sich zu mir umdrehte, erblickte ich, neben ein paar kleineren, auch die lange Narbe an seiner linken Schulter. Unmittelbar fuhr mir ein so heftig stechender Schmerz durch den Kopf, als hätte mir jemand ein Messer in den Schädel gerammt. Dieser ließ mich straucheln und ich ging in die Knie. Hielt meinen Kopf vor Qual und Angst, er könnte auseinanderspringen. Fast gleichzeitig sah ich Liam vor meinem Auge. Er warf sich gerade noch zwischen mich und den Mann, der auf mich einstechen wollte. Dabei grub sich das Messer tief in seiner Schulter. Ich hörte mich selbst schreien. Konnte aber nicht sagen, ob im Jetzt oder in meiner Erinnerung. Wieder einmal wurde mir schwarz vor Augen.