Das erste, was ich sah, als ich wieder aufwachte, war Liams Gesicht. Warum lag ich auf der Couch? Was war passiert? Verwirrt schaute ich Liam an. Er sah besorgt aus und kniete neben mir auf dem Boden. Dann fiel es mir wieder ein. Mein Herz verkrampfte sich kurz. Meine Stimme war seltsam belegt, als ich mit Liam sprach.
„Wir kennen uns. Deshalb kanntest du meinen Namen.“
„Ja.“, kam es ihm leise, fast schon weich über die Lippen. Aber er wollte nicht weiter erklären.
„Du hast dich zwischen mich und den Mann mit dem Messer geworfen.“
Er nickte.
„Es war also eine Erinnerung und keine Einbildung.“, kam es mir ebenso leise über die Lippen. Das machte mir Angst. Was war noch geschehen und war das der Grund, warum ich einen Gedächtnisverlust hatte? Wollte ich unbewusst nicht mehr wissen, was zuvor war?
„An was erinnerst du dich noch?“
„An nichts weiter. Zumindest das habe ich deutlich gesehen. Alles andere ist eher verschwommen.“
Ich spürte noch klar die Angst, die ich empfunden hatte. Sah noch deutlich den Angreifer und Liam vor mir. Sonst war nichts wirklich greifbar für mich. Das mit meinen Eltern hatte ich nicht in diesem, `Flashback`, gesehen. Um diese Gefühle und Gedanken erstmal zu vergessen, schüttelte ich leicht meinen Kopf.
„Was ist damals passiert?“
Ich sah ihm an, dass er sich nicht sicher war, ob er es mir erzählen sollte. Nur war mir schleierhaft, warum mir niemand etwas mehr über meine Vergangenheit erzählen wollte. Anscheinend gewann die Wahrheit seinen inneren Kampf, er seufzte und begann langsam zu erzählen.
„Wir waren,“ er stockte kurz, fragte mich wieso, „Freunde. An dem Tag, an den du dich deutlich erinnerst, waren deine Adoptiveltern bei dir zu Besuch. Ihr wurdet von Wächtern überfallen. Ich besuchte dich auch an diesem Tag und konnte dich noch rechtzeitig da rausholen.“
Niedergeschlagen schaute er auf den Boden. Irgendetwas quälte ihn. Ich hob mit einer Hand leicht seinen Kopf an, damit er mich ansah. Da war doch noch etwas. Und das fragte ich auch.
„Mira, deine Eltern starben an dem Tag und du wurdest schwer verletzt. Sara und Frank sind mir auf halber Strecke entgegengekommen. Sara ist eine Heilerin und konnte dich noch rechtzeitig heilen.“
Mir bildete sich ein Kloß im Hals. Musste ich mit ansehen, wie meine Eltern ermordet wurden? Hatte ich den Angreifern irgendetwas entgegenzusezten gehabt? Ich verdrängte es fürs erste. Wollte nicht darüber nachdenken, es war zu schmerzhaft. Dann erst begriff ich Liams letzten Satz.
Mit großen Augen sah ich ihn an. „Sara kann Wunden heilen? Das gibt`s tatsächlich?“
Liam musste über meiner erstaunten Frage und den Themenwechsel schmunzeln, nickte aber.
Als ich mich endlich einmal aufsetzte, kamen auch schon Sara und Frank ins Wohnzimmer. Laura kam mit einem Glas Wasser hinterher und reichte es mir. Dankbar nahm ich es an.
„Wie geht’s dir?“, fragte Sara besorgt und setzte sich neben mir auf die Couch. Aufmerksam musterte sie mich. Liam sah`s immer noch am Boden.
„Ja, danke. Nur noch leichte Kopfschmerzen.“
Als ich sie auf ihre Kräfte ansprechen wollte, unterbrach das Klingeln von Liams Handy. Er erhob sich und ging nach draußen. Keine zehn Minuten später war er wieder da, setzte sich zu mir auf die Couch. Gespannt warteten wir, was er zu berichten hatte. Heimlich fragte ich mich, warum er bei diesem Gespräch nach draußen ging.
„Das war mein Vater. Er weiß zwar auch nichts genaueres, aber auf mich, Laura und Mira,“ er sah besorgt zu mir rüber, „ist ein hohes Kopfgeld ausgesetzt. Ihr beide,“ wandte er sich anschließend an Sara und Frank, „wurdet als vermisst gemeldet. Also sollte der Rat noch nicht wissen, dass ihr bei uns seid. Er hat uns auch davor gewarnt, wem wir vertrauen. Und wie wir schon von Max wissen, wurden vermehrt Wächter ausgeschickt um unerlaubte Verbindungen und Unbegabte aufzuspüren. Mein Vater meinte, sie machen regelrecht jagt auf diese. Das Komische dabei ist aber, dass der Rat hauptsächlich nach Frauen Ausschau hält.“
Ok. Ich sollte echt langsam anfangen mehr Fragen zu stellen. Es hörte sich so an, als ob der Rat nicht oft so viele ausschicken würde, um solche wie mich zu suchen.
„Warum nur nach Frauen?“, fragte Laura sichtlich verwirrt und blickte alle im Raum an. Keiner schien eine Antwort darauf zu haben.
Das war vor allem ich. Verwirrt. Ich lauschte dem Gespräch nur, in der Hoffnung, besser verstehen zu können. Frank schien dagegen nur vollkommen in Gedanken versunken durch die Terrassentür hinaus zu schauen.
„Das konnte er mir auch nicht beantworten. Momentan ist dort alles etwas eigenartig.“
Frank wandte sich an seine Frau. „Kannst du dich noch an diese Alte Verrückte von damals erinnern? Die, die immer wieder wirres Zeug von sich gegeben hat?“
„Die von unserem alten Dorf meinst du?“
„Ja. Was ist, wenn die gar nicht so verrückt war, wie wir alle gedacht hatten?“
„Von was redet ihr beiden da eigentlich?“, unterbrach Laura, um zu erfahren von was die beiden Sprachen. Auch ich und Liam schauten fragend zu ihnen.
„Das ist schon über 25 Jahre her. Noch vor Miras Geburt.“, begann Frank zu erklären, „ich glaube Hildegard oder so ähnlich hieß sie. Sie lebte nach dem Tod ihres Mannes und ihres Sohnes alleine in einem Haus am Rande des Dorfes. Bevor diese starben, hatte sie hin und wieder Visionen von der Zukunft. Danach sagte sie nichts mehr voraus. Sie murmelte nur noch wirre unzusammenhängende Sätze. Alle, inklusive uns, glaubten, dass sie nach deren Tod einfach den Verstand verloren habe.“
„Und was soll das mit uns zu tun haben?“, sprach Liam das aus, was wir uns alle dachten. Vor allem was das in unserer jetzigen Situation zu tun hatte.
Frank überhörte die Frage und sprach einfach weiter. „Ich kann mich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, aber sie sprach immer wieder von einer SIE, die große Macht besitzt. Das sie die Chance hat den Rat zu besiegen. Sie kann etwas verändern und solche Sachen. Oft konnte man nicht genau verstehen, was sie sagte.“
Sara sah nachdenklich drein. Sie runzelte die Stirn, als ob sie versuchen würde, sich an diese Zeit zu erinnern. Ich wusste, wie anstrengend es sein konnte, zu versuchen sich jahrelang zurückzuerinnern. Geschafft hatte ich es bis heute nicht. Den einen Flashback mal ausgenommen.
„Wenn ich so darüber nachdenke, könnte es eine Vision gewesen sein. Eine richtige Prophezeiung. Es würde auch erklären, warum der Rat so vermehrt Wächter ausschickt. Und das hauptsächlich nach Frauen.“
Liam schüttelte ungläubig den Kopf. „Ist es nicht etwas weit hergeholt, das sie erst über 25 Jahre später dieser Vision Glauben schenken. Immerhin ist es schon sehr lange her und alle hielten sie damals für verrückt. Ich kann es mir nicht vorstellen.“
„Keine Ahnung. Vielleicht ist irgendetwas geschehen, dass sie ihr so viele Jahre danach erst Glauben schenken. Es kann auch sein, dass jetzt ein anderer die gleiche Vision hatte. Das kommt öfter vor, als du glaubst. Hin und wieder kommt es vor, das eine Vision erst viele Jahre später eintreffen. Und total falsch interpretiert werden können.“
„Aber weder betrifft uns diese angebliche Prophezeiung, noch erklärt es uns, woher die Wächter wissen, dass Mira noch lebt. Sie hat keinerlei Fähigkeiten noch irgendeine Ausstrahlung, die sie hätte verraten können.“
„Woher willst du das wissen? Sollte es wahr sein, betrifft es uns alle. Dann müssen wir helfen sie zu finden. Der Rat wird es nicht so hinnehmen, wird alles unternehmen. Was dieser ja auch schon beginnt.“, meinte Frank und sah Liam eingehend an.
„Meine oberste Priorität ist, dass wir nicht draufgehen. Und herausfinden, wer Mira und uns verraten hat.“, sagte Liam mit gepresster Stimme. Seine Augen funkelten voll unterdrückter Wut. „Außerdem, wie willst du helfen diejenige zu finden, wenn du schon genug damit beschäftigt bist, dich versteckt zu halten? Nicht gesehen zu werden und am Leben zu bleiben?“
Franks Stimme wurde immer schneidender, sein Gesicht finsterer. „Ich und Sara haben es die letzten Jahre sehr gut hinbekommen. Wir können…“
Mir schwirrte der Schädel. Was war auf einmal los, dass die beiden einen Streit anfingen? Die Köpfe von uns Frauen schwangen immer wieder zwischen den beiden hin und her. Wenn es so weiterging, begann bald eine schreiende Auseinandersetzung. Eine Anspannung machte sich in mir breit, und schon sprang Liam von der Couch auf.
„Verdammt nochmal Frank,“, unterbrach er bellend seinen Freund und ballte die Hände zu Fäusten, „die wissen über Mira Bescheid. Wenn nicht schon, dann werdet ihr beide bald mit ihr in Verbindung gebracht. Ihr beide könnt euch schon jetzt nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen. Wie lange würdest zu Zeit haben, nach etwas zu suchen, von dem du keine Ahnung hast, wo du überhaupt anfangen solltest, ohne umgebracht zu werden.“
Frank fuhr sich übers Gesicht. Die Erkenntnis setzte plötzlich bei ihm ein, die ich jedoch noch nicht richtig begriffen hatte. Sara entfuhr ein erschrockenes Keuchen. Sie ergriff die Hand ihres Mannes, um sich beide zu beruhigen.
„Vermisst gemeldet. Scheiße.“
„Jetzt hast du es verstanden. Es gibt für keinen von uns mehr ein zurück. Die Entscheidung ist getroffen.“
Als er es aussprach, verstand auch ich. Der Rat wusste wohl schon längst Bescheid, das Frank und Sara mit auf der Flucht waren. Die hatten sie schon aufgesucht, aber nirgends finden können. Sollten die beiden sich auf die Suche machen und geschnappt werden, möchte ich mir gar nicht ausmalen, was man ihnen antat.
Laura erhob sich, sprach alle gleichermaßen mit ihrer ruhigen Stimme an. „Es bringt sich gerade nichts, darüber weiter zu diskutieren. Ohne weiteren Informationen von Max oder Liams Vater können wir ohnehin nicht viel machen.“
Alle nickten. Noch lag eine Spannung im Raum, die mich immer noch zittern ließ. Schweiß ran meinem Rücken hinab. Ich brauchte dringend frische Luft.
Auch die anderen beschlossen eine Weile draußen zu verbringen. So wurde aus dem alten Schuppen Tisch und Stühle hervorgeholt und auf die Terrasse gestellt. Ich saß etwas abseits von den anderen im kühlen Gras. Es war noch nicht ganz saftig und grün, jedoch fingen die ersten Blumen schon zu wachsen an. Das Haus stand fast am Rand eines Waldes. Weit oben waren wir nicht. Auf dem Berg vor mir, sah man den Schneebedeckten Gipfel. Einige Meter nach der Terrasse fiel die Wiese leicht bergab. Aus der ferne konnte ich einen kleinen Bach erkennen. Mein Gesicht hob ich der Sonne entgegen. Obwohl ein frischer Wind blies, hatte die gelbe Scheibe schon eine ordentliche Kraft. Vertrieb die Kälte, die ich erst hier draußen spürte. Die Aufregung von vorhin war beinahe verschwunden. Dennoch konnte sich keiner entspannen. Für den Moment blockte ich jeglichen Gedanken aus meinen Kopf. Nachdenken brachte sich nicht viel, davon bekam ich doch nur wieder Kopfschmerzen. Nach einer Weile spürte ich jemanden sich neben mir setzten.
Ich wandte mein Gesicht Liam zu. Er gefiel mir. Automatisch formten meine Lippen ein kleines Lächeln auf mein Gesicht, dass er erwiderte. „Gehört dir diese Hütte?“
„Nein, meinen Eltern. Es wurde vor ein paar Jahren, zumindest innen, renoviert, wie du ja siehst.“
„Es scheint, als ob ihr schon eine Zeit lang nicht mehr hier gewesen wärt.“, erkundigte ich mich, als er nicht mehr weitersprach. Liam sah nach vorne und wirkte abwesend.
„Ja.“, für einen Wimpernschlag lang, huschte ein Schatten über sein Gesicht. „Seit dem Tod meiner Mutter waren wir nicht mehr hier.“
Das versetzte mir einen Stich. Er zeigte es zwar nicht seine wahren Gefühle, ich konnte allerdings fast schon den unterdrückten Schmerz, die Traurigkeit, fühlen. Ich würde gerne nachfragen, was mit seiner Mutter geschehen war. Ich sagte nichts dazu und legte nur meine Hand auf seine, die er neben seiner Hüfte abgestützt hatte, und drückte sie.