Eigentlich sollte mein Herz jetzt wie wild klopfen, aber es ist ruhig. Wenn ich daran denke, was mich erwartet, wird mir in manchen Momenten Angst. Doch eigentlich, das habe ich mir in den letzten Stunden zugestanden, fühle ich mich fast schon bereit dazu. Einigen Menschen kommt das merkwürdig vor. Mir aber hilft es, das, was unweigerlich kommen wird, zu ertragen. Der Steinboden ist kalt und hart.
Die Luft ist warm, ein angenehmer Gegensatz zu den kalten Steinen, fast stickig ist es in der kleinen Kapelle. Die dicken Steine schirmen den Lärm ab, der von draußen hereindringt, man hört kaum noch etwas. Die Stille ist angenehm, sie beruhigt mich. Das gibt mir die Möglichkeit, die Augen zu schließen und mich ganz auf mich selbst zu konzentrieren. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich heute geholt werde. Die Flucht nach Frankreich war mir und meiner Schwester nicht mehr möglich. Nun sind wir hier, in einer kleinen Kapelle in Holland und können nichts weiter tun als warten. Vielleicht ist das eine Prüfung, die mir der Herr auferlegt hat. Wenn sie mich finden, werde ich aufrecht gehen. Ich bin Christin. Ich bin Jüdin. Wenn es der Herr will, werde ich sterben für mein Volk. Ich werde sterben, um die Taten zu sühnen, die man begangen hat.
Ein Geräusch lässt mich aufschrecken, aber es ist nur der Wind, der scharf durch die alten Steine der Kirche bläst. Noch sind sie nicht da. Ich bete für all die Menschen, die bereits gestorben sind. Ihre Seelen mögen Ruhe finden, auch wenn sie auf grausame Art und Weise umgekommen sind. Aber ich bete auch für die Seelen derer, die dieses Unrecht begangen haben. Mögen sie ihre Verfehlung erkennen und im Jenseits mit sich Frieden finden, vor Gott. Ein leichter Schauer durchfährt mich. Die Aufgabe, die Gott mir auferlegt hat, scheint mir manchmal zu groß. Aber ich bin Jüdin und zugleich bin ich Christin. Ich bin die, die für all ihre Brüder und Schwestern im Glauben betet. Dadurch, so hoffe ich, werden all ihren Seelen Heil erfahren. Gott weiß, was er jedem einzelnen aufbürden kann, und so weiß er es auch bei mir, darauf vertraue ich. Deshalb bin ich mir sicher, dass ich die mir auferlegte Aufgabe ohne Schaden meistern werde. Meine Augen werden ein wenig feucht. Gerne hätte ich Gott länger gedient. Ich hoffe, er erklärt mir seine Pläne, wenn ich bei ihm angekommen bin. Schnelle, leichte Schritte hallen durch die kleine Kapelle. Ich bin mir sicher, dass das keine Soldaten sind, Soldaten haben einen festeren Schritt.
„Edith, Edith, sie sind gekommen! Sie suchen bereits nach uns, die Mutter Oberin wird gerade verhört“. Meine Schwester ist außer Atem, während sie die Worte spricht, sie muss hierher gerannt sein. Sie klingt aufgeregt und fasst mich dann an der Schulter. „Wir müssen weg“, beharrt sie eindringlich. Langsam erhebe ich mich, meine Knie schmerzen von dem langen Sitzen auf dem harten Stein. „Ich bleibe, Rosa. Wo willst du denn noch hin? Wenn sie uns nicht in Echt finden, finden sie uns auf dem Weg. Dass die Flucht nach Frankreich nicht klappte, war von Gott gewollt, da bin ich mir sicher. Lass uns gemeinsam gehen, wir werden vor dem Herrn stehen.“ Meine kleine Schwester möchte etwas erwidern, verstummt allerdings. In ihren Augen sehe ich noch den Trotz, den sie schon so viele Wochen mit sich herumträgt. „Ich möchte noch nicht sterben, Edith“, flüstert sie mit heiserer Stimme, sie weint. Behutsam fasse ich sie an der Schulter. „Ich auch nicht. Aber ich weiß, dass wir irgendwann den Grund erkennen werden, wieso uns der Allmächtige schon so früh zu sich geholt hat. Ich bin sicher, er hat einen Weg für uns.“ Ich streichele ich beruhigend über den Rücken, während Rosa leise Tränen vergießt. Ich kann sie verstehen, aber als große Schwester muss ich stark sein, muss ein Vorbild sein. Plötzlich hallen schwere Schritte von den Wänden wieder. Zwei Männer in Naziuniform kommen mit starkem, selbstbewusstem Schritt zu uns. Hinter ihnen eilt Mutter Oberin, ihr Gesicht zeigt große Besorgnis. Die beiden Männer tragen kleine Schusswaffen am Gürtel, ansonsten sind sie unbewaffnet. Ihnen entströmt ein unangenehmer Geruch nach Alkohol und Metall, vielleicht Eisen. Die Mienen der Männer wirkten überheblich, der ältere und faltigere der beiden hatte ein selbstgefälliges Grinsen aufgesetzt. Unwillkürlich drängt sich mir die Frage auf, welchen Plan Gott mit diesen beiden Männern hat. Fühlen sie den Hass, den sie ausstrahlen, auch in sich? „Edith und Rosa Stein?“, fragte der Jüngere mit fester, tiefer Stimme. Ich nickte stumm. Das war es wohl dann. „Sie haben 20 Minuten Zeit, ihre Sachen zu packen, sie werden nur Kleidung brauchen. Ich werde Sie begleiten.“ Das war kein Angebot, das war eine Feststellung. Obwohl ich so lange damit gerechnet hatte, wird in diesem Moment mein Herz schwer. Nun beginnt die größte Prüfung, die mir der Herr jemals auferlegt hat.
Ich versuche, Wärme und Zuversicht auszustrahlen, Rosa nur ein kleines bisschen aufzumuntern. Ihr Gesichtsausdruck zeigt mir, dass es mir nicht gelingt. Rosa blickt traurig ins Leere. Ich nehme sie an der Hand. Die Hand ist ganz kalt und als ich kurz zu ihr hinüber blicke, erkenne ich die Angst in Rosas Augen. Kurz halte ich den Augenkontakt mit der Mutter Oberin. Sie nickt mir traurig zu, ich denke, auch ihr war bewusst, dass wir uns niemals wieder sehen würden. Mit hoch erhobenem Kopf und festem Schritt gehe ich an den Nazis vorbei, Rosa muss ich ein wenig hinter mir her ziehen. Bei der Mutter Oberin bleibe ich noch einmal stehen, ihr Blick bewegte mich dazu. „Gott ist mit euch, meine Kinder“, haucht sie leise, auch sie hat Tränen in den Augen. Ich verbot mir Tränen, vor den Nazis wollte ich keine Schwäche zeigen. Lächelnd neige ich den Kopf und flüstere ein ‚Danke‘.
Das Tageslicht blendet mich nach so vielen Stunden in der dunklen Kapelle. Ich bleibe einen Moment stehen und schütze die Augen mit der freien Hand gegen die Sonnenstrahlen. Der Anblick der Anlage mit dem Wissen, diese nie mehr zu sehen, lässt meine Selbstbeherrschung erheblich schwanken. „Weiter“, bellt unser Begleiter unerbittlich, er muss direkt hinter uns die Kapelle verlassen haben. Ich schließe einen Moment die Augen, um meinen Geist wieder vom Wanken abzubringen. Rosa drückt meine Hand und schenkt mir ein Lächeln. „Wenigstens bin ich bei dir“, flüstert sie. Ich erwidere ihr Lächeln. „Komm, wir gehen für unser Volk“, flüstere ich zurück, dann setze ich meinen Weg fort. Meinen Weg in den Tod, aber auch meinen Weg zu Gott. Das beruhigt mich.