Sobald das Frühstück beendet ist, verschwinden Miles, Sarah und Ruby sofort ins Wohnzimmer, nachdem ich einfach kurzer Hand Aria und mich selbst zum Abwaschen eingeteilt habe, worüber meine Freundin weniger erfreut ist. Aria reicht mir in diesem Moment einen nassen Teller. Ich trockne das tropfende Geschirr mit dem Tuch ab und stelle es dann neben mich auf den Tisch. Dort habe ich bereits einige der anderen Teller aufgestapelt. Als ich zur Spüle zurückkehre, stellt sich Aria so eng neben mich, dass ich hören kann, was sie mir zuflüstert: "Was sollte das gerade beim Frühstück?" "Ich habe doch nur Fragen gestellt", ich klinge scheinheilig und versuche so zu tun, als würde ich kein bestimmtes Ziel verfolgen. "Du lügst schlecht!", sagt sie hart und ehrlich. Leider hat sie in diesem Punkt recht: "Na gut, ich habe versucht etwas über sie herauszufinden. Vielleicht hätte es sich ja irgendwie verraten oder sowas." Aria verdreht die Augen: "Das kannst du aber doch nicht vor allen am Frühstückstisch tun." "Wieso nicht?", frage ich verwundert: "Wie hättest du es denn gemacht?" "Ich hätte mich nach dem Essen mit ihr unauffällig unterhalten. Von Schwester zu Schwester", das Wort 'unauffällig' betont sie besonders. "So habe ich aber auch etwas herausfinden können", erwidere ich daraufhin. Sie wirkt überrascht. Hat sie es etwa nicht mitbekommen. Ich wasche weiter ab: "Sie hat eine Show gemacht!" "Wann?" "Als sie kurz davor war in Tränen auszubrechen. Sie hat zu Ruby geschaut. Fast so als müsste sie diese erst Fragen, wie sie reagieren soll und hat dann fast angefangen zu heulen", erkläre ich leise: "Außerdem gibt selten eine Vergangenheit, die eine Person bei dem Gedanken daran sofort zum Weinen bringt. Selbst ich bin in diesem Punkt nicht so, obwohl ich meine Eltern verloren habe." Skeptisch zieht das Mädchen, was schon in so vielen Situationen meine treue Partnerin war und dem ich grenzenloses Vertrauen schenke, die rechte Augenbraue in die Höhe und legt den Kopf schief. "Was ist?", frage ich: "Hast du es etwa nicht bemerkt?"
Erst jetzt fällt mir auf, dass Aria gar nicht mehr mich ansieht. Es wirkt, als würde sie durch mich hindurch, auf jemand anderem starren, was mich irgendwie stört, weshalb ich mich umdrehe. Arias Blick ruht auf Sarah, die im Schneidersitz auf dem Teppich sitzt und auf ein Papier schreibt, welches auf dem Wohnzimmertisch vor ihr liegt. Den Füller in ihrer Hand hält sie fest umklammert und verziert das Blatt mir geschwungenen schwarzen Buchstaben.
Ruby und Miles scheinen sich, im Gegensatz zu uns, nicht für die Neue zu interessieren. Stattdessen haben scheinen sie in ihrer eigenen Welt zu stecken und sich nur für ihr Gespräch zu interessieren. Miles hat sich, zu meiner Verwunderung, in den vergangenen Tagen sehr intensiv mit Ruby beschäftigt. Es wirkt, als hätte sie ihn regelrecht in ihren Bann gezogen. Erst habe ich mich darüber ziemlich gewundert, aber wenn man genauer darüber nachdenkt, ergänzen sie sich perfekt. Der Junge hat seine Schulter und Knie in ihre Richtung gedreht und hält mit ihr ununterbrochenen Augenkontakt. Ruby sitzt fast genauso dort und betrachtet Miles aufmerksam. Sie hat ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und hat ein glückliches Lächeln auf den Lippen.
Da fällt mein Blick plötzlich auf etwas anderes. Es ist ein dickes Buch auf Hilleys dunklen Holzschreibtisch. Heraus guckt ein vergilbter Zettel, den ich sofort erkenne. Es ist Hilleys Liste. Mein Blick wandert zu Aria zurück, die nun ebenfalls wieder mich ansieht: "Hilley ist oben, richtig?" "Ja, wieso?" "Wirst du gleich sehen. Überleg dir schonmal eine Notlüge", erwidere ich und lege das Geschirrtuch auf den Tisch neben mir. Dann mache ich mich auf ins Wohnzimmer.
Ohne die anderen anzusehen, laufe ich hinüber zu dem Tisch und schlage das Buch mit zwei Fingern auf. Ich erwische genau die beiden Seiten wischen, denen das Papier steckt und falte des auf. Zu meinem Glück ist es genau das, was ich gesucht habe. Es ist die Liste mit den Namen der möglichen erben.
Plötzlich ruft jemand meinen Namen: "Stella? Was tust du da an Hilleys Sachen?" Es ist Sarah, deren Blick ich brennend in meinem Nacken spüre. "Ich ... Ich ...wollte nur", stammele ich. Aria hat Recht. Ich bin eine miese Lügnerin. "Sie wollte sich nur ein Buch ansehen", Aria springt für mich ein: "Ist das jetzt etwa verboten?" Langsam drehe ich mich um. Währenddessen falte ich das Papier hinter meinem Rücken. Als Sarah antwortet, lasse ich es in meinem Ärmel verschwinden: "Ich denke nicht, dass Hilley es gerne hat, wenn man ihre Sachen durchwühlt." Als ich Aria einen Blick zu werfe, fährt sie glücklicherweise fort: "Woher willst du das wissen? Du kennst Hilley schließlich nicht. Du bist erst seit wenigen Tagen hier, als spiel dich nicht so auf." Die kurze Zeit nutze ich, um einen letzten Blick in die Buchseiten zu werfen. In das Buch wurden immer wieder neue Zeichnungen eingetragen, die verschiedene Gegenstände zu zeigen scheinen. Auch einige Zeichnungen der Kristalle sind mit Bleistift gezeichnet und dann mit Pinsel und Farbe ausgemalt worden. Mein eigener Kristall fällt mir in die Augen und ich erinnere mich an den Platz, an dem er sich gerade befindet.
Hilley hatte mich eines Morgens, als noch alle anderen schliefen, mit in einen Raum im Keller genommen, wo es mehrere Kraftfelder, die über Podesten errichtet worden waren, gab. In einem dieser Felder wurde mein Kristall, der Wasserkristall, festgehalten und sicher verwahrt. Als ich fragte, ob es wirklich der sicherste Platz ist, erklärte Hilley mir, dass nur ein Erbe mit guten Absichten ihn herausnehmen kann. Das hatte mich beruhigt und das tut es immer noch.
Schnell schließe ich das Buch wieder geräuschlos und drehe mich zu den beiden Mädchen, die sich nun gegenseitig in einen handfesten Streit verwickelt haben, um: "Okay, das reicht. Beim nächsten Mal werde ich Hilley einfach fragen, wenn ich ein Buch lesen möchte, so können wir alle sicher sein, dass sie nichts dagegen hat, aber bitte misch dich nicht mehr in meine Angelegenheiten ein, Sarah." Die Schwarzhaarige will noch etwas erwidern, doch ich laufe einfach davon, ohne auf sie einzugehen. Ich habe keine Lust mit ihr zu diskutieren, obwohl ihre Reaktion mir doch etwas Neues gezeigt hat. Sie ist niemals wirklich dieses weinerliche traurige Mädchen, welches sie am Esstisch gegeben hat. Stattdessen hat sie sich in meine Angelegenheiten eingemischt. Richtige Schwestern unterstützen sich, anstatt einander zu verraten. Glaube ich jedenfalls. Aus Erfahrung kann ich leider nicht sprechen!
Als ich mit Aria im Schlepptau nach oben verschwinde, werfe ich noch einen letzten Blick auf das Papier, was Sarah bereits komplett vollgeschrieben hat. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es wichtig ist und der Umschlag neben dem Papier, dass es ein Brief ist. Kurzerhand fasse ich einen Entschluss. In der Nacht werde ich wieder kommen und ihn stehlen!