Miles Sicht
Unsere Finger verschränken sich ineinander, als wir auf die Kutsche zugehen, die an der Straße wartet. Der Wind durch wirbelt mein Haar dunkelbraunen Haaren, deren Spitzen lila gefärbt sind. Mein Blick ruht auf dem Mädchen neben mir. Auch ihr macht der heftige Wind zu schaffen. Ihre wunderschönen blonden Haare werden durch die Luft geweht und sie hat Mühe ihr Gesicht von der wilden Mähne zu befreien. Als ihr mein Blick auffällt, schaut sie mich aus ihren feurigen Augen fragend an: “Ist was?“ Schnell schüttele ich den Kopf und blicke woanders hin. So gerne hätte ich ihr gesagt, dass sie gerade einfach nur wunderschön aussieht, aber dafür würde sie mir wahrscheinlich eine reinhauen. Ich hätte es vor Stella nicht zugeben, als sie, frecherweise, einfach in mein Zimmer gestürmt ist, aber ich wollte nicht nur Sympathiepunkte bei Hilley, sondern auch bei Ruby und ich hätte dem Mädchen, das das Feuer kontrollieren kann, niemals den Wunsch abgeschlagen mit ihr zu gehen. Seit ich hier angekommen bin, habe ich die meiste Zeit mir ihr verbracht. Zwar habe ich mich auch mit Aria und Stella nach einigen Tagen gut verstanden, aber nicht so gut wie mit Ruby. Hilley hingegen mochte mich noch nie und das hat sich auch nicht wirklich geändert. Sie hat eben einen Grund mir nicht zu vertrauen und der ist durchaus berechtigt, obwohl ich das, was sie befürchtet, niemals tun würde. Verstehen kann man sie aber trotzdem auf jeden Fall. Seit Sarah aber hier angekommen ist, hat auch Ruby viel weniger Zeit für mich und verschwindet stattdessen oft mit Stellas Schwester in dessen Zimmer. Zwar habe ich meine Freundin mal gefragt, was sie darin treiben, doch diese Frage hat sie sich geweigert zu beantworten und sich aus meinem, eher freundlichen, Verhör herausgewunden. Leider kann ich ihr nach solchen Aktionen auch nicht richtig böse sein. Wer kann das schon wirklich? Sie ist einfach zu …besonders! Besonders? Sowas sollte ich nicht denken.
Als wir an der Straße angekommen sind, öffne ich ihr die Tür und reiche ihr meine Hand, damit sie einsteigen kann. Den Kutscher, Taylor heißt er glaube ich, grüße ich kurz. Bevor ich einsteige, lasse ich meinen Blick noch ein letztes Mal durch die Landschaft wandern. Zwar habe ich mit Stella besprochen, dass sie uns heimlich folgt, doch bisher ist sie noch nicht zu sehen, was mich ein wenig nervös macht. Hätte sie nicht hinter uns her reiten oder wenigstens schon mal mit dem Pferd hinterm Haus warten können? Hoffentlich hat sie es nicht vergessen. Wenn das der Fall sein sollte, könnte ich in gigantische Schwierigkeiten geraten.
Mit einem schlechten Gefühl steige ich in die Kutsche ein und setze mich auf einen der Sitze. Innen riecht es nach Orangen und ich betrachte die Kutsche. Ich bin zwar noch nie in Hilleys Kutsche mitgefahren, aber auf den Kutscher bin ich bereits einmal getroffen, woraufhin wir uns für eine Weile nett unterhalten haben.
“Hast du den Brief überhaupt eingesteckt?“, frage ich meine Sitznachbarin. “Natürlich, was denkst du denn? Dass ich genau das vergesse, weswegen wir überhaupt unterwegs sind?“, fragt sie skeptisch. Ihre Stimme klingt belustigt. “Nein, natürlich nicht“, antworte ich schnell. In letzter Zeit ist sie irgendwie öfters mies gelaunt. Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich deshalb auch dagegen ihr weitere Fragen zu stellen. Besonders eine Frage stelle ich mir seit dem Frühstück nun. Wieso war Sarah heute Morgen so darauf versessen, dass ausgerechnet Ruby den Brief für sie wegbringt. Es schien, als dürfe sie ihrer eigenen Schwester nicht einmal das Geschriebene anvertrauen. Wenn man jedoch bedenkt, was genau sie geschrieben hat, ist das auch nicht verwunderlich. Schließlich redet sie in ihrem Brief fast so, als wären wir alle ihre Feinde, bei denen sie sich Undercover eingeschlichen hat. Diese Worte haben nicht nur Stella, sondern auch mich stutzig gemacht. Auch das giftgrüne Zeichen am Ende war höchst seltsam. Glücklicherweise hat Stella mich ja noch rechtzeitig, vor was auch immer passieren mag, wenn man es berührt, gewarnt. Wahrscheinlich wäre nichts sonderlich Gutes geschehen. Diese Vermutung habe ich, seit dem mir bei unserem Handschlag die roten Fingerkuppen des Mädchens aufgefallen sind. Mein bester und auch einziger Freund im Institut der Nexus hätte und wahrscheinlich als “Partner in Crime“, also “Partner im Verbrechen“ bezeichnet. Schließlich schnüffeln wir gerade in den Angelegenheiten einer anderen Person herum und haben sogar einen Brief geöffnet, der für keinen von bestimmt war. Der Gedanke an das Institut und meinen Freund verursacht, mal wieder, einen schlimmen Schmerz in meinem Herzen. Niemals hätte ich gedacht, dass die Menschen, die mich am meisten Lieben sollten, mich einfach abschieben, sobald sich herausstellt, dass ich nicht ganz normal bin, um mich zu einem Soldaten zu machen. Wer erwartet sowas auch?
Als die Kutsche nach etwa einer halben Stunde anhält und ich Ruby helfe aus dem Gefährt zu steigen, wandert mein Blick nervös umher. “Alles gut?“, fragt meine Partnerin deshalb. Ich blinzele kurz: “Was hast du gesagt?“ Ich war zu sehr darauf konzentriert nach Stella zu suchen, dass ich ihr gar nicht richtig zugehört hatte. Mir zu liebe wiederholt sie das eben gesagte: “Ich habe gefragt, ob bei dir alles gut ist. Du wirkst so angespannt und nervös.“ Dieses Mal habe ich zugehört: “Ja, alles gut. Mach dir keine Sorgen.“ In ihrem Blick liegt etwas Besorgtes und Wehmütiges. Sie scheint sich wirklich Sorgen zu machen, weshalb ich ihr erneut meine Unversehrtheit bestätige. Damit scheint sie zwar noch nicht zufrieden zu sein, doch sie lässt mich lieber in Ruhe, da sie weiß, dass ich es hasse, wenn man mir mehrmals die gleichen Fragen stellt. Auf sie könnte ich aber nie wirklich lange böse sein und irgendwie ist es ja auch unglaublich süß, dass sie sich um mich sorgt. Um genauer darüber nachdenken zu können, habe ich aber keine Zeit, da Stella nach wie vor nicht in Sichtweite ist und möglicherweise auch nicht mehr kommen wird. Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen und ich bekomme Angst. Hat sie mich wirklich so im Stich gelassen? Vielleicht waren meine Erwartungen und meine Meinung von ihr einfach zu hoch. Enttäuschung macht sich nun in mir breit und nimmt seinen Platz neben der Angst an, doch ein kleiner Teil traut es ihr nicht zu mich im Stich zu lassen. Schließlich haben Stella und Aria mich mit zu Hilley genommen, obwohl ich nicht gerade freundlich war und ohne dass sie mich richtig kannten. Mit gesenktem Kopf laufe ich über die geteerte Straße und schaue auf meine Schuhe hinab. Da fällt plötzlich ein Stein genau zwischen meinen Füßen mit voller Kraft auf den Boden. Schnell hebe ich den Kopf und schaue mich verärgert um. Als ich den Werfer erblicke, fallen jedoch alle negativen Gefühle von mir ab und machen der Erleichterung platz. Ich muss die Brünette gar wirklich sehen, um zu wissen, dass sie dort auf dem Dach sitzt und auf mich aufpasst. Schnell blicke ich wieder weg, damit Ruby nicht auffällt, doch aus dem Augenwinkel sehe ich Stellas Hand, die sie so hält, dass man sie gerade noch sehen kann. Ihren Daumen und Zeigefinger hat sie zu einem “Okay“-Symbol geformt und zeigt mir damit, dass sie nun da ist und auf mich aufpasst. Ich wiederhole die Geste mit meiner Rechten hinter meinem Rücken, um ihr zu bestätigen, dass ich sie gehen habe und dass ich ihr voll und ganz vertraue. Dann schenke ich Ruby wieder meine volle Aufmerksamkeit. Diese sieht mich verschmitzt an und setzt die Kapuze ihres bordeauxroten Umhangs auf. Auch meinen eigenen Kopf bedecke ich, um mich vor den neugierigen Blicken der Einheimischen zu schützen und folge Ruby, die zielstrebig auf ein riesiges Gebäude zu geht, dann.