Stellas Sicht
Miles Daumen und Zeigefinger formen sich zu einem kleinen "Okay"-Symbol, welches mir sofort die Sicherheit gibt, dass er mich gesehen hat. Leider hatten wir einige Probleme damit Aria und mich selbst vom Training mit Sarah und Hilley zu befreien. Sarah bestand nämlich darauf, dass sie unbedingt mit ihrer, ich zitiere, “endlich wieder gefundenen Schwester“ trainieren muss, um mal einen Einblick in meine Kräfte und mein Leben zu bekommen. Ich selbst hätte deshalb fast zu viel bekommen, da ich darauf wenig Lust hatte und Miles versprochen hatte hier zu sein. Irgendwie hat Aria es dann geschafft uns beide aus der Schlinge zu ziehen, in dem sie das Argument, dass wir auch mal Zeit abseits des Hauses unter Menschen haben sollten, angeführt hatte. Hilley war jedoch noch nicht einverstanden, weshalb meine Partnerin, die ich kurz vorher eingeweiht und gebeten habe mit mir zu kommen, dann darauf hingewiesen hat, dass Ruby und Miles auch in die Stadt dürfen und dass es ungerecht ist, wenn wir nicht auch mal Zeit für uns haben können. Daraufhin hat Hilley eher widerwillig zugestimmt, Sarah aber glücklicherweise auch einen Riegel vorgeschoben, als sie mit uns gehen wollte. Wir haben Hilley nämlich heute schon viel zu oft angelogen und wollten die Anzahl unserer Lügen an diesem Tag nicht unbedingt noch weiter in die Höhe treiben. Sarah hatte daraufhin zwar ziemlich geschmollt, aber damit konnte ich sehr gut leben.
Nun sitzen sowohl Aria als auch ich selbst auf einem Flachdach in meiner, um unsere Mitbewohner zu beobachten und uns gleichzeitig vor den Blicken der Einwohner von Luxxan, der Stadt in der wir uns momentan befinden und die auch meine Heimatstadt ist, zu verbergen. Als die anderen durch die Gasse schlendern, in der ich fast entführt worden wäre, dreht sich mir der Magen regelrecht um und schreckliche Bilder aus diesen Minuten durchzucken meinen Geist. Das ganze Blut kommt mir in den Sinn und beinahe verspüre ich den Drang mich zu übergeben. “Geht’s dir gut?“, fragt Aria besorgt. Ich blinzele kurz, um in die Gegenwart zurückzukehren: “Ja, alle bestens. Wir müssen weiter!“ Ich deute auf eines der Dächer in der Nähe, das gerade so weit entfernt ist, dass wir mit Hilfe unserer Kräfte nicht hinübergelangen könnten. Zwar könnten wir auch noch eine Weile hier bleiben, aber dann ist die Chance, dass wir Miles und Ruby verlieren würden. Es wundert mich, dass Ruby ganz genau weiß, wohin sie muss. Ganz zielstrebig führt sie ihren Begleiter durch die Straßen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie von Sarah so genaue Informationen bekommen hat. Respekt!
Ich strecke meine Hand aus und schaue zu Aria herüber: “Bereit?“ Diese nickt zustimmend: “Jederzeit!“ Langsam lege ich meine Hand an die Kette um meinen Hals. Hoffentlich klappt es dieses Mal so wie gewollt und nicht erst Sekunden später in einer komplett anderen Form. Meine Augen fallen zu und ich versuche alles zu spüren. Das Sonnenlicht geht in jede einzelne Zelle meines so seraphinischen Körpers über und gibt mir Kraft. Das Einzige, was ich wirklich höre, ist das Plätschern des Wassers im Brunnen auf einem Platz einige Meter von uns entfernt. Meine Gedanken widmen sich nur dem Wasser und dem, was ich damit vorhabe. In meinem Geist entstehen mehrere in der Luft schwebende Plattformen aus Wasser über die ich sicher laufen kann, um zum neuen Dach zu gelangen. Als sich meine Augen wieder öffnen, entstehen gerade mehrere kleine Plattformen, die vor mir in einem gewissen Abstand, in der Luft schweben. Mein Blick wandert weiter zu Aria: “Cool, oder?“ Sie blickt mich fasziniert an:“Ich wusste gar nicht, dass du das kannst.“ “Ich auch nicht“, gebe ich ziemlich stolz zu und werde ein wenig rot. Dann stehe ich jedoch schnell von meinem Platz auf dem steinernen Dach auf und mache mich zum ersten Sprung bereit. Als meine Füße sich vom Stein lösen und daraufhin auf dem harten Wasser ankommen. Es ertönt ein leises Platschen, was mich an wenig an das Geräusch erinnert, das entsteht, wenn man in eine Pfütze springt. Ich liebe dieses Geräusch. Es erinnert mich an meine Kindheit. Leider ist das einer der wenigen Teile, an die ich mich erinnere. Kurz überkommt mich die Trauer, doch als das Geräusch erneut ertönt und Aria wenig später ihre Hände auf meine Schultern legt, überkommt mich stattdessen ein angenehmer Schauer. So geht es mir seit unserem Kuss nun jedes Mal, wenn sie mich berührt. Schnell springe ich weiter zur nächsten Platte, um meinen Gefühlen nicht zu unterliegen. Zu einem anderen Zeitpunkt gerne, aber nicht jetzt. Aria ist dicht hinter mir. Auf dem nächsten Dach angekommen, habe ich Miles und Ruby wieder im Blick. Zu meiner Verwunderung werden sie aber langsamer und bleiben dann sogar stehen. Um jedoch besser sehen zu können, deute ich auf ein anderes Dach und sage ihr dann: “Du bist jetzt dran!“ Aria versteht, was ich meine und streckt ihre Hand aus. “Was genau muss ich machen?“, frage ich ein wenig ängstlich, versuche es aber zu unterdrücken. “Springst du“, sie schubst mich vom Dach. Mit aller Kraft versuche ich mir einen Schrei zu unterdrücken und schaffe es auch halbwegs, da mein Flug, oder eher gesagt mein Todessturz, nach wenigen Zentimetern abgebremst wird. Ich halte mir ängstlich den Mund zu, um weitere Geräusche zu unterdrücken, als Aria mich mit ihren Kräften auf das nächste Dach hebt. Dann folgt sie mir, in dem sie einfach mit riesigem Abstand über die Lücke springt. Als sie nun auch neben mir angekommen ist, werfe ich ihr einen wütenden Blick zu: “Schubs mich nie wieder von irgendwelchen Hausdächern, verstanden?“ “Tut mir leid“, erklärt sie: “Ich verspreche es dir, aber darüber können wir uns auch später streiten. Jetzt ist es erst mal wichtig, dass wir uns auf diese Aufgabe konzentrieren!“ Ich verdrehe meine Augen ein wenig genervt und blicke auf den Platz unter uns, auf dem sich unsere Ziele gerade noch aufgehalten haben. Nun gehen sie gemeinsam auf ein riesiges Haus zu, das viel prunkvoller ist als all die anderen in der Stadt. Schon als ich hier die ersten drei Jahre meines Lebens gewohnt habe, hätte ich eine gewisse Ehrfurcht davor. Schnell wende ich meinen Blick ab und starre stattdessen auf Ruby und Miles hinunter, die anscheinend zu streiten angefangen haben. Miles scheint Ruby den Brief abnehmen zu wollen, aber diese scheint das nicht zulassen zu wollen. “Als ob die jetzt anfangen werden zu streiten“, spricht Aria meine Gedanken aus. “Sieht so aus“, erwidere ich zustimmend.
Miles Sicht
“Gib mir den verdammten Brief“, sagt Ruby so laut, dass jeder um sie herum es hören kann. “Nein, ich mach das“, erwidere ich daraufhin. Sie schaut mich wütend an, doch das ist mir egal:“Ich nehme an, dass wir den Brief dort ablegen müssen, also lass mich das einfach machen. Du musst nicht alles selbst tun. Wir sind Freunde, also vertrau mir und gibt ein wenig Verantwortung an mich ab.“ Sie verdreht die Augen: “Na gut, dann mach es. Leg den Brief auf die Stufen und dann gehen wir wieder, aber wehe du vergeigst es.“ Ihre Worte tun weh: “Ich vergeige es nie!“ In meinen Gedanken füge ich noch “Jedenfalls nicht die Mission, die ich mir mit Stella überlegt habe“ hinzu. Ob ich die Mission, die ich mit Ruby abgemacht habe, so erfüllen kann, wie sie es will, kann ich aber eher nicht sicher sagen, doch ich weiß ganz genau, dass Ruby danach verdammt wütend auf mich sein wird. Zwar will ich das echt nicht, aber hier geht es doch um etwas Wichtigeres, oder? Ich habe keine Ahnung, was es mit Sarah auf sich hat, aber Stella ahnt scheinbar nichts Gutes und ich muss das Richtige tun. Trotzdem fühle ich mich aber schuldig. Noch schuldiger als in dem Moment, in dem ich Stella und Aria den Code gesagt habe, um den Wasserkristall zu stehlen und ich weiß, dass ich Ruby enttäuschen werde. “Wir werden sehen“, antwortet sie frech, woraufhin ich nur kurz ein gekünsteltes Lächeln aufsetzt. In jeder anderen Situation hätte ich wahrscheinlich wirklich gelächelt, aber die Situation ist eben nicht optimal: “Ja, das werden wir.“ Instinktiv nehme ich ihre Hand in meine und ziehe sie dann mit mir zu dem Haus vor mir. Es ist riesig und passt nicht in das Viertel. Die Fenster werden von großen Vorhängen verhängt und die Haustür besteht aus dunklem Holz, welches mich an bittere Schokolade erinnert. Vor der Tür angekommen, lege ich den Umschlag ab und schaue Ruby fragend an: “Das war’s?“ “Ja, das war’s wohl“, erwidert Ruby schulterzuckend. Das ist meine perfekte Gelegenheit. Ohne genauer darüber nachzudenken, drücke ich, mit dem in meiner Brust kräftig hämmernden Herzen, auf die Klingel neben der Tür. Obwohl ich gelegentlich, okay zugegebenermaßen ziemlich oft, keine Ahnung habe, wieso ich bestimmte Dinge tue, weiß ich es bei dieser Sache zu einhundert Prozent. Ich klingele, damit die anderen beiden sehen können, wer herauskommt. Dann wissen wir auch wer dort wohnt und mit großer Sicherheit auch an wen er adressiert war. Als das laute Geräusch ertönt, sind zwei Emotionen zu sehen. Einmal Angst, die sich in ihr ausbreitet wie ein großer Virus, der in kurzer Zeit ihren ganzen Körper befallen haben wird, und als zweites Wut auf mich, die sie nicht zu verstecken bereit zu sein scheint. Trotzdem entscheiden sie sich scheinbar nicht sofort mich anzuschreien, sondern zieht mich stattdessen mit sich über eine Hecke, hinter der wir beiden uns dann auch verstecken, als jemand aus dem Haus kommt und sich umsieht. “Na toll, jetzt muss ich Plan B durchführen. Danke dafür“, beginnt meine blonde Partnerin sofort loszuschimpfen, als sich die Person zurückgezogen hat, die im Haus wohnt: “Dieses Mal übernehme ich die Aufgabe!“ “Aufgabe?“, frage ich verwirrt. Sie zieht mich hoch, um mich weiter zu ziehen. Oh man, heute habe ich etwas mehr als wichtiges über sie gelernt. Mache Ruby Smith niemals, wirklich niemals, wütend.
An einem Friedhof bleibt sie stehen und endet ihr Schimpftirade fürs Erste: “Du wartest hier.“ “Nein, das tue ich nicht“, erwidere ich zielstrebig: “Du hast mir gar nichts zu sagen.“ Ohne ein weiteres Wort bewegt sich Ruby über den Hauptweg des Friedhofes, auf dem ich noch nie zuvor war. So schnell ich kann, folge ich ihr.
An einem kleinen Springbrunnen bleibt sie stehen und schaut sich nervös um. Ich kann ihr Unbehagen nur zu gut verstehen. Auch ich fühle mich auf einem Friedhof nicht wohl. Dann zieht sie mit einer Hand einen Beutel aus dem Mantel und greift hinein. Heraus zieht sie einen kleinen Stein, den ihr wohl Sarah gegeben hat, da ich ihn noch nie zuvor bei Ruby gesehen habe. “Was ist …?“, frage ich, doch sie bedeutet mir mit einem Handzeichen, dass ich den Mund halten soll. Widerwillig lasse ich es zu und schaue ihr interessiert zu. Was hat sie nur vor? Ich sehe genau zu, wie sie ihre Hände um den Stein schließt und für einige Sekunden die Augen schließt. Diese Geste erinnert mich sehr an die, die die anderen Erbinnen immer machen, wenn sie ihre Kräfte auf einen bestimmten Gegenstand in ihren Händen anwenden. Als meine Freundin ihre Augen wieder öffnet, brennen diese von innen heraus. Den Stein, der nun so aussieht, als würde er, genau wie das Innere des Mädchens auch, von innen heraus brennen, legt sie in eine kleine Nische in den Steinen, aus denen der kleine Brunnen gemacht wurde. “Gut“, sagt sie, als sie fertig ist: “Wir gehen!“ Ich verdrehe die Augen, stelle aber keine Fragen, da sie sowieso schon viel zu wütend ist. Hoffentlich haben Stella und Aria das gerade gesehen, damit sie hierherkommen und sich den Stein holen können.