Stellas Sicht
Meine Füße treffen feste auf dem Boden auf und erzeugen ein leises Knirschen unter den Sohlen meiner ledernen Stiefel. Während meine Füße durch den Sprung ordentlich weh tun, schwebt Aria neben mir einfach sanft zu Boden und macht mich schon wieder ein wenig neidisch auf ihre Kräfte. Zwar hätte ich sicher auch weicher landen können, aber in vielen Situationen denke ich gar nicht immer daran sie zu nutzen. Wahrscheinlich liegt es in diesem Moment daran, dass meine Gedanken bei dem Friedhof sind, den Ruby und Miles so eben wieder verlassen haben. Er hat einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen und in meinem Kopf. Am liebsten würde ich einfach einen großen Bogen darum machen und nicht mehr zurückkehren, doch das geht nicht. Wieso mussten sie unbedingt den Lafayette Friedhof von Luxxan betreten? Meine Erinnerungen schmerzen wie ein scharfer, tot bringender Glassplitter, der sich tief in mein Herz eingräbt. Schnell versuche ich mich auf etwas Neues zu konzentrieren und dem Schmerz zu entgehen. Die restlichen Stücke meiner gerade zerbröckelnden Maske, die mich sonst immer vor meiner Vergangenheit schützt, versuche ich so gut es geht zusammen zu halten. Sobald meine Partnerin neben mir gelandet ist, laufe ich los ohne wirklich auf sie zu warten, da ich das hier eigentlich nur schnell hinter mich bringen will. Sie eilt hinter mir her: “Kanntest du die Person, die da aus dem Haus gekommen ist?“ “Nein“, erwidere ich knapp:“Du?“ “Woher denn? Ich war vorher noch nie in dieser Stadt“, erklärt Aria und hetzt neben mir her. Dank meines schnellen Schrittes, kommen wir nach wenigen Sekunden am Friedhof an. Ich will es einfach schnell hinter mich bringen und dann wenn möglich nicht mehr wieder kommen. Die Jahre, in denen ich immer an einem bestimmten Tag herkommen bin, sind endlich vorbei und ehrlich gesagt habe ich wenig Lust darauf, dass es wieder von vorne losgeht. Ich will kein zweites Mal um Jahre zurückgeworfen werden und in das Loch zurückfallen, in dem ich so lange gelebt habe. Das war eine der schlimmsten Zeiten in meinem Leben und seit ich bei Hilley lebe, geht es mir endlich besser. Ungern werde ich mir das wieder nehmen. “Geht es dir gut?“, fragt Aria mich nun. Ich nicke still und versuche an etwas andere, als an den Friedhof zu denken. Stattdessen konzentriere ich mich auf die Person, die aus der Tür getreten ist. Tatsächlich kannte ich sie nicht. Ihre Haare waren silbern, was jedoch kaum an ihrem Alter liegen konnte, stattdessen sah sie so aus, als wäre sie gerade einmal um die dreißig Jahre alt. Es war eine, in schwarze Gewänder gehüllte, Frau, die noch keinerlei Falten hatte. Sie hatte sich kurz genervt umgeblickt und war dann, mit dem Brief in der Hand, wieder ins Haus hinein verschwunden. Hoffentlich hat Miles es geschafft noch in Hilleys Haus den echten Brief gegen den Fake zu tauschen, sonst wird sich diese Frau ganz schön wundern und vielleicht auch Sarah anschreiben, die dann mit Sicherheit wissen wird, dass einer von uns etwas damit zu tun hat. Schließlich sollten die Anderen ja den Brief wegbringen und sie könnte ihnen die Schuld für die Verwechslung geben.
Am Friedhof angekommen, hält Aria mich am Arm fest:“Bitte warte mal auf mich. Ich habe keine Lust ständig hinter dir her zu hetzen. Wenn es für dich ein Problem ist, dass wir uns geküsst haben, sag es mir ruhig, aber sei nicht so abweisend zu mir.“ Obwohl gerade mein Inneres und meine Gefühle mich mehr beanspruchen, tut sie mir leid und ich entscheide mich, mich zusammen zu reißen:“Nein, daran liegt es nicht. Ich fühle mich nur einfach nicht wohl dabei auf eben diesen Friedhof zu gehen.“ “Hat es mir deinen Eltern zu tun?“, fragt sie feinfühlig. Ich blicke traurig zu Boden und nicke zustimmend: “Ja, aber darüber sollten wir später reden. Jetzt ist es erst wichtig mal auf den Auftrag zu beenden.“ “Da hast du wohl recht, aber später sprechen wir darüber. Versprich mir das“, bittet sie laut. Ich verdrehe die Augen und hebe die Hand zum Schwur: “Ich verspreche ist.“ Dann setze ich meine Kapuze auf und schaue mich dann nervös um. Leider ist es nicht sich hier um zu sehen, da speziell auf diesem Friedhof viele hohe, kastenförmige Gräber nah aneinander gebaut sind und nur wenige Blicke auf die Dinge dahinter zulassen. Von oben war alles viel leichter zu erkennen, aber jetzt hat sich der Blickwinkel verändert. Schnell setze ich meine Kapuze auf und ziehe sie mit mir. Beim Brunnen angekommen, knie ich mich hin und betrachte den Brunnen. Auf den Stein sind mehrere wunderschöne Fragmente aufgetragen, die schon wahnsinnig alt sein müssen. Ich weiß nicht wie lange es den Friedhof schon gibt, aber viele bedeutende Familien aus der Umgebung wurden hier begraben und haben auch noch Gräber für die Familienmitglieder, die noch folgen werden. Mein größter Wunsch war es immer neben meinen Eltern begraben zu werden, doch nun wünsche ich mir so viel mehr für mein Leben. Endlich verspüre ich das Gefühl von Geborgenheit und Liebe um mich herum. “Kennst du diese Zeichen?“, fragt Aria mich. “Irgendwo habe ich sie mal gesehen, aber ich weiß nicht wo oder was sie bedeuten“, erwidere ich nachdenklich: “Es ist eine Erinnerung aus meiner Kindheit.“ In meinen Erinnerungen erscheint ein dickes Buch mit einem braunen, verstaubten Einband und vergilbten Seiten. “Denkst du, dass du herausfinden könntest, was sie bedeuten?“ “Ich bin mir nicht sicher“, erwidere ich ehrlich und greife lieber vorsichtig zwischen die Steine, zwischen die Ruby den besonderen Stein gelegt hat. Aria beugt sich über meine Schulter und schaut mir gespannt zu. Langsam und mit zitternden Fingern ziehe ich den Stein heraus. Als ich ihn herausgeholt habe, spüre ich eine vom Stein ausgehende Wärme, die meinen ganzen Körper durchzuckt und sich im ersten Moment gut anfühlt, doch dann wird es auf einmal heiß und ich verbrenne mich fast. Instinktiv lasse ich den Brocken los, woraufhin er, von der Schwerkraft getrieben, zu Boden segelt. Aria stellt jedoch ihre guten Reflexe mal wieder unter Beweis, in dem sie ihn, kurz vorm Zerschellen auf dem Boden, auffängt. Überrascht blicken wir uns an:“Was war das denn?“ Sie spricht genau das aus, was ich denke. “Ich bin mir nicht sicher, aber der Stein hat erst nur eine angenehme Wärme auf mich übertragen, doch dann wurde er so heiß, dass ich mich fast verbrannt habe“, erkläre ich nachdenklich. Heute überschlagen sich die merkwürdigen Ereignisse irgendwie auf unerklärliche Weise. Seufzend lasse meinen Kopf in den Nacken fallen. Besorgt legt Aria einen Arm um mich:“Du wirst gerade irgendwie zerstreut. Liege ich da richtig?“ “Ja, du liegst doch immer richtig“, sanft lehne ich mich gegen sie, um ihre Wärme und Geborgenheit zu spüren. Ihr süßlicher Geruch steigt mir in die Nase und ich entspanne mich sichtlich. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich den ganzen Tag über total verspannt war und mir kaum Zeit für mich selbst genommen habe. Stattdessen habe ich mich nur darum gekümmert, endlich heraus zu finden, ob Sarah wirklich meine Schwester ist, oder ob sie uns angelogen hat und nun ausspioniert. Dabei ist ein wenig Zeit für mich doch genauso wichtig. Unsere Blicke treffen sich und erneut spüre ich dieses Kribbeln tief in mir, welches immer weiter wächst und sich bald in meinem ganzen Körper ausgebreitet hat. Ohne groß nachzudenken, küsst sie dieses Mal sie und nicht anders herum. Auf ihrem Gesicht erscheint der gleiche überraschte Gesichtsausdruck, wie auf meinem eigenen, als wir uns zum ersten Mal geküsst haben. Einige tausend Schmetterlinge scheinen in mir zu fliegen und regelrecht explodierende Gefühle in mir zu erwecken. Es ist, als würde alles um uns herum für wenige Sekunden still stehen und mein Gehirn blendet alles um mich herum aus. In diesem Moment fühle ich mich unbesiegbar und fast so als könnte mich nie wieder etwas im Leben aus der Bahn werden, denn diesen wunderschönen Moment kann uns nie wieder irgendwer nehmen. Er wird sich in mein Gehirn einbrennen und eine neue Erinnerung sein, die ich mit diesem Friedhof verbinde. Dieser Moment wird es mir so viel leichter machen hierher zurückzukehren, um meine Eltern zu besuchen. Mein Herz schlägt so wild, dass ich das Gefühl habe, dass es jede Sekunde aus meiner Brust herausspringen würde. Das Adrenalin strömt ungehindert durch mich hindurch und lässt mein Blut rauschen. Das ist einer der besten Momente in meinem Leben. Als wir uns atemlos voneinander lösen, blicken wir unsern Gegenüber überrascht an. “Müssen wir darüber noch großartig reden?“, frage ich, um die Stille zu brechen. “Nein, ich denke, dass sich das gerade geklärt hat“, erwidert sie, woraufhin ich kurz zustimmend nicke. Dann werde ich jedoch wieder etwas ernster, da ich eine wichtige Bitte habe: “Wir haben doch noch etwas Zeit bis die Sonne untergeht, oder?“ Hilley hatte uns nämlich darum gebeten spätestens dann zurück zu sein. “Ja, wieso?“ Langsam spreche die Worte aus, die mir schon seit wir hier angekommen sind, auf der der Zunge brennen: “Würdest du mit mir zum Grab meiner Eltern gehen?“ Diese Worte endlich aussprechen zu können sind wie Balsam für meine Seele. So lange hatte ich keinen, dem ich genug Vertrauen entgegengebracht habe, um ihn darum zu bitten. Sie hat mir in der letzten Zeit oft genug bewiesen, dass ich ihr vertrauen kann. Wahrscheinlich würden viele nicht verstehen, wieso ich damit so viele Probleme habe, aber für mich ist es nicht leicht diesen Ort mit einer anderen Person zu besuchen. Wenn ich meine Eltern und somit auch meine Vergangenheit besuche, präsentiere ich meinem Begleiter mein verletzlichstes Ich, um das ich mit der Zeit eine starke Schutzmauer errichtet habe und dem ich eine neue Maske aufgesetzt habe. “Natürlich“, erwidert sie, entgegen meiner Erwartungen, liebevoll und schaut mich glücklich an. Sie scheint wohl zu wissen, dass es ein großer Schritt für mich ist sie darum zu bitten. Und das ist es leider tatsächlich. Höllisch schwer!