Auf dem Weg zum Grabmal macht sich ein beklemmendes Gefühl breit. Ich habe Angst wieder dort zu sein. Mit aller Kraft versuche ich das Gefühl loszuwerden und meine Maske zu wahren, doch letztendlich schaffen kann ich es nur kurz wegschieben und ich muss fürchten, dass es später nur umso stärker über mir zusammenbricht und mich wie eine Welle mit sich reißt. Als wir am Grab ankommen, schaut sich Aria nervös um, doch ich schenke meine ganze Aufmerksamkeit nur dem, was vor mir liegt. Meine Eltern wurden, im Gegensatz zu vielen anderen, in keinem großen Kastengrab, sondern direkt unter der Erde begraben. Sie hatten schon als ich geboren wurde ein gemeinsames Grab. Das hat mir meine Tante jedenfalls mal erzählt. Der Stein ist bereits ein wenig mit Moos bedeckt, doch die Namen sind noch gut lesbar. Es macht mich mehr als traurig, dass keiner aus meiner Familie mal hergekommen und sich darum gekümmert hat. Auch der dunkle Stein vor dem beschriebenen Stein ist mit Blättern und Moos bedeckt. Der Duft der Natur um mich herum steigt mir in die Nase, doch in diesem Moment gibt er mir keine Kraft, sondern unterstützt stattdessen meine Trauer nur noch mehr. Es ist dieser gewohnte Geruch, den es nur hier gibt. Als ich noch kleiner war, habe ich meine Zeit im Sommer meistens hier verbracht und geschrieben oder gezeichnet. Aria scheint aufgefallen zu sein, dass es mir nicht so gut geht, weshalb sie eine Hand beruhigend auf meine Schulter legt und die andere langsam in die Richtung des Grabes streckt. Andere Leute würden nicht verstehen, was diese Bewegung bedeutet, aber ich weiß genau was sie tut. Auf ihre Bewegung folgt ein starker Windstoß, der die Blätter und sogar das Moos vom Grab meiner Familie hinunterweht. Ich versuche ihr einen dankbaren Blick zu schenken, doch anscheinend versage ich auch hier kläglich. Stattdessen wirke ich wahrscheinlich traurig, denn meine Körpersprache ist in den meisten Fällen eine direkte Verbindung zu meiner Seele. Wehmütig lasse ich mich auf die Knie sinken und stütze meine Hände auf den Stein. Der massive, kalte Stein unter meinen Fingerknöcheln angenehm an. Als mir eine Träne still und heimlich die Wange hinunterläuft, beginnt es plötzlich leicht zu tröpfeln und ein lautes Grummeln ist am Himmel zu hören. Mal wieder spricht mir das Wetter aus der Seele und weint mit mir um die verlorenen Seelen, die hier ihren Frieden gefunden haben. Immer mehr salzige Tränen beginnen zu laufen und werden immer schneller. Auf ihrem Weg verbinden sie sich mit dem Regen und bilden eine Einheit. Der Stoff meiner Kleidung beginnt sich mit Wasser voll zu saugen und nach wenigen Sekunden tun meine Wangenknochen von dem Zusammenspiel aus Tränen und Kälte weh. Kaum spüre ich Arias Arme, die das Mädchen sanft und gleichzeitig beschützend um mich gelegt hat. Die Geste berührt aber trotzdem mein Herz und lässt mich zu meiner Freundin aufblicke: “Danke, dass du hier bist und auf mich aufpasst.“ Sie wischt meine Tränen weg und legt ihre Hände an mein Gesicht: “Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst!“ Eine unbekannte Wärme beginnt mein Herz zu umgeben und ich lehne mich sanft gegen sie. Sie drückt gegen, um mich zu stützen. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich nur auf sie. Dann reißt sie mich plötzlich aus meinen Gedanken, in dem sie fragt: “Stella, sieh mal!“ Auf ihre Bitte hin öffne ich meine Augen und sehe meine Partnerin fragend an: “Was ist denn?“ Als sie nicht antwortet, folge ich einfach ihrem Blick, der auf einer großen Pfütze neben mir haftet. Auch meine Aufmerksamkeit zieht sie nun auf sich. Aus irgendeinem Grund ist dieses Wasser mehr als merkwürdig. Es wirkt viel härter als normales. Fast wie Gelee! “Was ist das?“, fragt Aria. “Ich habe keine Ahnung“, erkläre ich schulterzuckend und will mich eigentlich gar nicht weiter damit befassen, sondern einfach nur die einzigen wirklich ruhigen Minuten seit langem genießen. Diese Minuten scheinen mir jedoch nicht vergönnt zu bleiben, da Aria wieder ein wenig Abstand von mir nimmt und sich stattdessen der merkwürdigen Ansammlung von Flüssigkeit widmet. Also lasse auch ich von meinen Eltern ab und schaue, Aria zu liebe, auf das merkwürdige Wasser. Auf einmal wird mir für wenige Sekunden schwarz vor Augen. Als mein Blick sich wieder schärft, strecke ich meine Hand, wie von einem tiefer Willen oder Instinkt geleitet, nach der Flüssigkeit aus. In dem Moment, in dem sich meine Finger und das Wasser berühren, durchzuckt mich so etwas wie ein elektrischer Schlag, der Gelee löst sich auf und zerfällt wieder zu Wasser. Ich erschrecke mich fürchterlich und zucke, genau wie Aria, zurück. “Was war das denn?“, fragt ich mit laut schlagendem Herzen und warte auf eine Antwort, doch diese kommt nicht. Ich drehe mich verwundert zu Aria um. Erneut schaut sie nur auf das Wasser: “Sieh mal!“ Ich schaue ebenfalls wieder auf das Wasser, was sich nun langsam über den Boden bewegt, ohne irgendeinen Grund dazu zuhaben. Kein anderes Wasser vermischt sich mit dem in der Pfütze. Es wirkt, als hätte sich ein Schutzwall darum aufgebaut, der die kleine Pfütze davor schützt. Fast wirkt es, als würde das Wasser sich in eine bestimmte Richtung bewegen.
Als es fast um eine Ecke gebogen ist, wirkt es, als würde diese magische Flüssigkeit einem bestimmten Weg folgen und sich nicht davon abbringen lassen wollen. “Sollen wir ihm folgen?“, fragen wir einander gleichzeitig. Beide lassen die Frage unbeantwortet und laufen hinter dem Wasser her. Ich selbst brauche etwas länger, da ich mich erst von meinen Knien erheben muss, auf die ich mich gestützt hatte. Unsere Füße trappeln schnell auf dem Boden, damit wir die Fährte nicht verlieren. Obwohl ich nicht sicher bin, was bei dieser Sache falsch laufen könnte, habe ich irgendwie ein merkwürdiges Gefühl und bin ziemlich unentschlossen. Mein Magen hat sich bereits bei den ersten Schritten ein wenig zusammen gezogen. Nun nach einigen weiteren fühle ich mich als würde dieser nun von einer Würgeschlange zusammengezogen werden. Auch das Atmen fällt mir zunehmend schwerer. Was werden wir finden, wenn das Wasser anhält? Da es sich hier um Wasser handelt, hat es sicher mit meinen Kräften zu tun, aber wohin wird es mich führen?
Dann bleiben wir tatsächlich stehen und mein Blick fällt sofort auf das vor uns. Der Atem bleibt mir weg und meine Kehle zieht sich zusammen. Vor mir erhebt sich eine große Wand aus mehreren aneinander gereihten Steinplatten. Auf jeder von ihnen steht ein tief eingeritzter Name, den ich jedoch nicht entziffern kann. Nur einer von ihnen ist komplett reingewaschen. Als ich weiter herantrete, schlage ich die Hand vor den Mund. Dort steht in Druckbuchstaben ‘Sarah Valerios‘.