Gerade als ich die Tür geschlossen und mich wenigstens ein Stück weit an die Enge um mich herum gewöhnt habe, öffnet sich die schwere Tür des Raumes, in dem ich mich befinde und sofort höre ich vor Angst sofort auf zu atmen, was aber dazu führt, dass ich laut prustend ausatmen muss, was ich aber so gut wie möglich zu unterdrücken versuche. Durch den Spalt zwischen den beiden Schranktüren kann ich sehen, dass zwei Leute in den Raum treten und sich langsam umsehen. Sie tragen weiße Kittel, ihre Hände sind behandschuht und alle von ihnen tragen Namensschilder, die an ihrer Kleidung festgemacht sind. Von meiner Position aus kann ich die Namen leider nicht lesen, was ziemlich schade ist, da ich einen von ihnen vielleicht kennen könnte. Der Schweiß läuft mir langsam die Stirn hinunter und mein Kopf schmerzt, weil ich mich so sehr anstrenge kein Geräusch zu machen. Mein Magen zieht sich zusammen und die Angst sitzt mir in den Knochen, doch in diesem Moment ist sie viel schlimmer als sonst. Einer von ihnen greift nach dem Messer, welches ich vorhin noch in der Hand hatte und steckt es zurück in den Schädel. Mit meiner Hand halte ich den Brechreiz zurück, als einer von ihnen das Messer zurück in das Gehirn stößt. Langsam beginnen die Ärzte an der Leiche weiter zu arbeiten und so schnell ich kann wende ich meinen Blick ab, sonst muss ich mich vielleicht tatsächlich übergeben. Ich konnte noch nie bei Operationen zusehen. Schließlich wird mir schon von einem toten Eichhörnchen auf der Straße schlecht. Mein Herz klopft wie verrückt, als ich die Geräusche des Messers höre, welches die Haut in zwei Teile teilt und den metallenen Geruch des Blutes und des Papiers um mich herum wahrnehme. Hoffentlich muss ich so eine Mischung nie wieder riechen, denn dann steigt mir immer das Bild dieser Halle in den Kopf.
Nach einer gefühlten halben Stunde, obwohl sicher nicht so viel Zeit vergangen sein kann, kommt plötzlich jemand auf den Schrank, in dem ich immer noch hocke, zu und mein Atem stockt vor Überraschung. Was soll ich tun, wenn mich hier jemand findet? Ich hätte keinerlei Fluchtmöglichkeiten! Ängstlich schließe ich meine Augen, um den Blick des Arztes, wenn er die Türen aufreißt und mich erblickt, nicht sehen zu müssen. Das Beben der Türen, als die Person wenige Zentimeter von mir entfernt, ihre Hände an die Türgriffe legt, doch zu meiner Überraschung werden die Türen nicht aufgerissen. Stattdessen wird die Aktion von einem lauten Klirren unterbrochen, was mich aufatmen lässt und dafür sorgt, dass ich meinen Kopf in den Nacken fallen lasse. Das war knapp!
Für wenige Sekunden schaffe ich es mich zu beruhigen und meinen Herzschlag zu verlangsamen. Dann frage ich mich jedoch, woher das Geräusch gekommen ist und öffne meine Augen so schnell, dass mir kurz unscharf vor Augen wird. Was war das für ein Geräusch? Mit einem Auge blicke ich durch den Schlitz hindurch und erfahre, dass ich nun endlich alleine hier bin. So schnell ich kann, stoße ich die Türen auf und springe regelrecht aus meinem Versteck. Mit flinken Händen greife ich alle drei Akten, die ich im Blick hatte und werfe die Handschuhe mit einem lauten Gummigeräusch in den Mülleimer, der links vom Schreibtisch steht. Dann ziehe ich mit aller Kraft die Tür auf und husche nach draußen, kann es aber nicht lassen nach der Quelle des seltsamen Geräusches zu suchen. Ein lauter Ruf schrillt durch den Gang: “Hey, was tun sie da?“ Ich zucke zusammen und erst jetzt fällt mir auf, dass ich ungeschützt mitten im Gang stehe. Die Ärzte stehen mir gegenüber und haben ihre wütenden Gesichter nur auf mich gerichtet. Als sie mich ansprechen, zucke ich erschrocken zusammen. Mist, das lief ganz und gar nicht so wie ich es wollte. “Diese Akten wurden von einer anderen Ärztin anfordert. Ich soll sie nach oben bringen“, erwidere ich, doch das scheint mir keiner von ihnen zu glauben. “Ich habe sie aber gerade gar nicht in die Halle kommen sehen und außerdem haben sie dort gar keinen Zutritt. Wie sind sie hineingekommen?“, fragt einer von ihnen. “Ähm …ja, das stimmt, aber ich …“, stottere ich. Oh man, wieso bin ich nur eine so schlechte Lügnerin? “Sie dürfen hier nicht sein. Ich werde sie melden müssen“, einer von ihnen zieht ein kleines Gerät heraus und will gerade auf einen Knopf, da fällt er einfach so zu Boden, als hätte er keine Knochen. Als die anderen beiden es ihm dann gleich tun, erblicke ich auch den Grund dafür. Hinter ihnen steht Aria, die eine ihrer Hände in die Luft gehoben hat. Sofort ist mir klar, was sie getan hat. Ich schlage meine Hände vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken, doch Aria scheint mir keine Zeit geben zu wollen. Sie stürmt auf mich zu und packt mein Handgelenk: “Du kannst dich später bedanken. Jetzt müssen wir erst mal los, sonst werden wir noch erwischt.“ Ohne auf meine Antwort zu warten, doch ich komplett perplex bleibe ich stehen und schließe sie in meine Arme. Ich bin so froh, dass es nicht danebengegangen ist, sonst würde ich sie jetzt wahrscheinlich nicht in meinen Armen halten können. “Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist“, flüstere ich ihr durch ihre Haare hindurch ins Ohr. Ihre sanften Arme, die sie um meine Schultern geschlungen hat, geben mir Sicherheit und sorgen dafür, dass ich für einen Moment vergesse in welch angespannter Situation wir gerade stecken. Dann lässt sie mich jedoch los und zieht mich in den Raum, in dem wir uns nur kurz vorher umgezogen haben. Mit einem starken Wurf wirft sie mir meine Kleidung rüber und dreht sich dann um, um sich selbst umzuziehen: “Wow, starker Wurfarm!“ “Danke“, erwidert sie, als sie sich weiter anzieht. Auch ich beginne mich umzuziehen. “Was hast du gefunden?“, fragt sie leise und schaut über die Schulter zu mir herüber. “Sarahs Akte“, erwidere ich genauso leise und verstecke die Akten meiner Eltern unter dem Mantel, den ich gerade übergestriffen habe. Sie muss ja nicht unbedingt alles wissen. Vielleicht werde ich es ihr später erklären, aber nicht jetzt. Wir müssen jetzt lieber schnell von hier verschwinden und Einzelheiten können wir auch später klären. Jedenfalls sage ich mir das in Gedanken immer wieder, doch ein kleiner Teil meines Gehirns schreit laut, dass ich es ihr sagen sollte und dass sie mich hassen wird, wenn ich es nicht tue. Ohne ein weiteres Wort greift Aria nach der Krankenhauskleidung, die wir beide nun endlich wieder ausgezogen haben, und packt sie an den Platz, an dem sie sich bereits befunden hat, bevor wir sie uns kurz ‘ausgeliehen‘ haben. Als ich alle Akten unter meinem Mantel versteckt habe, drehe ich mich wieder komplett zu ihr herum und lächele sie freundlich an: “Wir sollten jetzt verschwinden oder?“ “Auf jeden Fall“, erwidert sie und schaltet das Licht hinter uns aus, als wir den Raum verlassen und zum Aufzug eilen. Die Absätze meiner Lederstiefel klirren auf dem Boden und mein Atem hat sich endlich wieder beruhigt, doch mein Herz klopft immer noch.