Der Mond leuchtet hell am Himmel und schickt sein weißes Licht auf die Oberfläche unseres Planeten hinab. Meine Finger sind in ihre Verschlungen und Arias wundervoller Geruch steigt mir in die Nase. Die Knochen in meinem Leib fühlen sich an wie Gummi, schmerzen aber trotzdem höllisch. Eine wichtige Sache habe ich heute auf jeden Fall gelernt. Quetsche dich niemals zu einem Stapel Akten in einen Schrank in einer Leichenhalle, wenn du mit den Gelenkschmerzen nicht klar kommst. Die Veranda knarrt unter unseren Füßen, als wir hinauf steigen und dann auf Zehenspitzen hinüber zu schleichen versuchen, was eher weniger gut funktioniert. Mit einer Hand drehe ich den Türknauf herum und schaue mich vorsichtig um. Auf den ersten Blick scheint kein anderer hier zu sein, weshalb ich den Knauf herumdrehe und die Tür langsam öffne. “Sieht aus als würden alle schlafen“, verkünde ich leise. “Ja, scheint so“, bestätigt sie: “Und jetzt sollten wir lieber nach oben verschwinden, dann merkt schon keiner was.“
Als ich jedoch meinen Fuß auf die erste Stufe stelle, geht plötzlich das, zuvor ausgeschaltete, Licht an und Aria und ich zucken genau im selben Moment zusammen. Mein Blick huscht blitzschnell zum Lichtschalter, um zu sehen, wer es angeschaltet hat. Das war aber leider ein Fehler, denn mein erster Eindruck scheint mich getäuscht zu haben. Im Türrahmen stehen Ruby und Sarah, die ihre Arme vor der Brust verschränkt und einen vorwurfsvollen Blick aufgesetzt haben. “Wo wart ihr?“, blafft Sarah und Ruby, die genau neben ihr steht, zuckt, genau wie Aria und ich zuvor, zusammen. Anscheinend hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie uns sofort so anfährt. “Wir waren nur draußen, okay?“, versucht Aria uns aus der Situation herauszuboxen: “Darf man heutzutage keine frische Luft mehr schnappen gehen?“ “Belügen kann ich mich auch selbst“, faucht Sarah. Ich frage mich echt, was mit ihr los ist. In diesem Ton hat sie noch nie mit uns geredet. “Perfekt, dann kannst du das ja jetzt auch einfach tun und uns in Ruhe lassen. Gute Nacht!“, provoziert Aria gekonnt. Schnell greift Aria nach meinem Handgelenk und will nicht die Treppe hochziehen, doch Sarah greift das andere und hält mich auf der ersten Stufe fest. Das ist doch nicht deren ernst! Ich bin doch kein Seil, mit dem man Tauziehen spielen kann.
Genau im richtigen Moment kommt Miles mit Hilley im Schlepptau die Treppe hinuntergepoltert und blickt fragend in die Runde. Für einige Momente bleibt sein Blick an Ruby hängen und er wirkt fast verträumt, bis sein Blick zu unserer Tauziehaktion weiter wandert. Seine rechte Augenbraue wandert in die Höhe und er sieht uns alle fragend an:“was ist denn das hier?“ “Aria und Stella waren die ganze Nacht weg“, erwidert Ruby nun und Aria und ich schicken ihr genau im selben Moment einen Todesblick. Wieso muss sie uns nun auch noch in den Rücken fallen? Das ist doch nicht fair! Das meine Schwester mich enttäuscht hat, ist schon schlimm genug, aber nun auch noch Ruby. Wir kennen uns schon viel länger, als Sarah und sie, obwohl wir uns ehrlich gesagt noch nie ausstehen konnten. “Was? Wieso?“, fragt Miles überrascht und starrt uns überrascht an. “Sarah. Aria. Lasst Stella bitte auf der Stelle los“, bittet Hilley laut. Widerwillig lösen beide den festen Griff von meinem Gelenk und treten ein Stück von mir weg. Die roten Abdrücke auf meiner Haut entgehen mir nicht, doch darum werde ich mich später kümmern. Dann fährt Hilley, mit vor der Brust verschränkten Armen, fort: “Es ist nicht schlimm, dass ihr in der Stadt wart, aber trotzdem würde ich gerne wissen, weshalb ihr erst so spät zurück seid.“ “Wir haben uns einfach einen schönen Abend gemacht und dann die Zeit aus den Augen verloren“, lügt meine Partner allgegenwärtig und wie aus einem Instinkt heraus. Ich bin so froh, dass sie so gute Reflexe hat und immer weiß, wann es angebracht ist die Wahrheit zu ihren Gunsten zu verdrehen. “Achtet beim nächsten Mal bitte auf die Zeit“, erwidert Hilley und klingt dabei fast wie eine Mutter, die ihre sechsjährige Tochter tadelt. “Natürlich“, sagen wir gleichzeitig und Erleichterung macht sich in mir breit. “Das ist doch nicht dein Ernst“, sagt Sarah laut und funkelt Hilley wütend an: “Die beiden planen etwas. Das sieht doch selbst ein Blinder!“ Plötzlich spüre ich eine leichte Vibration unter meinen Füßen. “Sarah“, mahnt Ruby laut und versucht sie aufzuhalten: “Beruhig dich!“ Hilley hält sich am Treppengeländer fest: “Okay, ich würde sagen, dass wir nun alle hoch in unsere Zimmer gehen und uns aus schlafen.“ Ruby und Miles wollen protestieren, doch Hilley fügt noch etwas hinzu: “Kein aber! Sofort!“ Stinksauer schiebt Sarah uns alle zur Seite und stürmt die Treppe hinunter. Im oberen Stockwerk angekommen stampft sie über den Holzboden und schlägt ihre Zimmertür hinter sich zu. Das schallende Geräusch klingelt in meinen Ohren. Wir alle zucken im selben Moment zusammen. Nun folgt auch meine Augenbraue der von Miles in die Höhe und eine kleine Sorgenfalte, die mich sehr stört, bildet sich auf meiner Stirn. Mein Kiefer beginnt zu nachdenklich zu mahlen. Das war gerade irgendwie mehr als merkwürdig. So einen Wutausbruch habe ich nicht erwartet und bisher auch noch nicht erlebt. Es wundert mich, dass meine eigene Schwester vermutet, dass ich einen Plan gegen sie schmiede. Zwar tue ich das, aber das kann sie nicht wissen. Wutausbrüche und Stimmungsschwankungen liegen, soweit ich weiß, nicht in meiner Familie und die Vermutung, dass sie nicht meine Schwester, sondern eine Fremde, ist, wächst und gedeiht in meinem Hirn immer weiter. Es wirkt, als hätte sie uns gerade eine Seite von sich gezeigt, die sie bisher gut versteckt und niemandem gezeigt hat, weil sie nicht zu der Sarah gehört, die sie sich für uns überlegt hat. Mit schnellen Schritten husche ich, gefolgt von den anderen, die Treppe hinauf und reiße meine Zimmertür auf. Wie müde ich eigentlich bin, merke ich erst, als ich die Akten unter meinem Bett verstaut habe und dann, ohne mir etwas Vernünftiges anzuziehen, ins Bett falle. In Sekundenschnelle bin ich eingeschlafen.