Stellas Sicht
Als ich aufwache, schmerzt mein Kopf schrecklich und erst dann merke ich, dass ich mit dem Schädel auf dem hölzernen Schreibtisch in meinem Zimmer liege. Mein Mund ist ganz trocken, meine Augen sind noch verschlossen und an meiner Wange klebt ein Blatt Papier. Schnell entferne ich das, an meiner Wange klebende, Papier. Langsam gähne ich und versuche meinen Mund wieder zu befeuchten. Ich brauche ganz dringend was zu trinken. Mehrmals blinzele ich und blicke mich dann nach einer Wasserflasche um, die ich aber nicht finde. Na toll, dann muss ich nach unten gehen und welches holen. Da kommt mir aber noch etwas anderes in den Sinn. Ich könnte auch einfach meine Kräfte benutzen. Die zweite Möglichkeit gefällt mir viel besser. Mit flinken Fingern hebe ich die Platte des Schreibtisches an und nehme den Stein aus seinem Versteck. Den Stein drehe ich zwischen meinen Fingern und konzentriere mich.
Das Bild eines hohen Wasserfalles, der vor mir aufragt, erscheint vor meinem inneren Auge. Das Wasser stürzt schnell und kräftig hinunter auf die Steine und spritzt in alle Richtungen. Einige Tropfen treffen meine Kleidung und meine Haut und sorgen dafür, dass mein ganzer Körper von Energie durchflutet wird. Es ist einfach wunderbar.
Als ich die Augen wieder öffne, schwebt eine faustgroße Wasserkugel vor mir in der Luft und ein zufriedenes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Das war ja mehr als leicht. Wenn ich noch besser werde, brauche ich den Kristall bald nicht mehr. Durstig reiße ich den Mund auf und lenke den Ball hinein. Dort angekommen platzt sie wie ein “Nimm 2“-Bonbon, wenn man darauf beißt und die Flüssigkeit schwappt in meiner Mundhöhle herum. Die Energie durchflutet mich und endlich ist mein Mund nicht mehr so trocken. Schnell schlucke ich alles hinunter und putze mir den Mund mit dem Handrücken ab. Dann fällt mir endlich ein, wieso ich überhaupt hier sitze. Zwar hatte ich mich in der Nacht ins Bett fallen lassen, doch beim Morgengrauen bin ich wieder aufgestanden und habe mich dazu entschieden damit anzufangen die Akten zu lesen. Bevor ich jedoch überhaupt einen Satz lesen konnte, bin ich eingeschlafen. Dann ist alles schwarz und ich erinnere mich an rein gar nichts mehr. Ich weiß jedoch, dass ich die Akten wegräumen wollte, aber davor eingeschlafen bin und es nicht mehr geschafft habe. Mit einem kurzen Blick prüfte ich nach, ob noch alles da ist. Zum Glück weiß ich, was genau in die Akten gehört, da ich selbst schonmal so eine Akte hatte. Das weiß jeder im Waisenhaus. Grinsend erinnere ich mich daran, dass ich mit zehn Jahren einmal ins Büro der Leiterin eingebrochen bin und einen ganzen Tag lang, meine Akten lesend, unterm Schreibtisch gehockt habe, bis es Mittagessen gab. Nun sortiere ich jedoch alle Papiere nach Themen und beginne dann Sarahs Akte gewissenhaft zu lesen.
Dort steht, dass das Mädchen, welches bei meinen Eltern gefunden wurde nicht klar als Sarah Valerios identifiziert werden konnte, da es keine Person gab, die sie hätte identifizieren können. Die Verwandten wurden aus irgendeinem Grund nicht um ihre Hilfe gebeten. Als Todesgrund wird angegeben, dass bei ihrem Tod Erde in der Lunge hatte. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Erde? Wie kann sie denn Erde in die Lunge bekommen haben? Schließlich erinnere ich mich daran, dass meine Eltern erschossen wurden und nicht, dass sie lebendig begraben wurden oder vorher ein Getränk mit viel Erde darin getrunken haben. Nun stellt sich mir die Frage, ob meine Erinnerungen an die Todesnacht vielleicht falsch sind. So schnell ich kann, lese ich alle Einzelheiten, die im Autopsiebericht geschrieben stehen, durch, doch es will nicht wirklich in meinen Kopf hinein. Wenn die Leiche aber nie identifiziert wurde, kann es sein, dass das schwarzhaarige Mädchen mit den Dreadlocks, welches nun schon lange in diesem Haus residiert, meine Schwester ist. Vielleicht ist die Leiche ja ein Mädchen, welches nur eine große Ähnlichkeit zu ihr hat. Einerseits wäre es super, wenn ich eine Schwester hätte, die noch am Leben ist, aber andererseits bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich will, dass das Mädchen, welches sich nur einige Zimmer weiter befindet, meine Schwester ist. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob ich mit einem Mädchen, welches unter schrecklichen Wutanfällen, wie wir sie gestern Nacht gesehen haben, leidet. Sie hat mir ein Gesicht von sich gezeigt, dass sie vorher gut versteckt gehalten hat. Wenn ich jedoch die Wahl gehabt hätte, hätte ich es lieber nicht gesehen. Schon lange habe ich gedacht, dass sie uns ihr wahres Selbst noch nicht gezeigt hat.
Als ich die Seite umschlage und die ersten Zeilen zu lesen beginne, erstarre ich regelrecht zu einer Eisskulptur. Dort steht, dass die Leiche meiner Schwester verschwunden ist. Und zwar nach genau einem Jahr. Am 22.01. 2021 ist sie gestorben und am 22. 01. 2022 ist ihre Leiche verschwunden. Zufall? Möglich, aber ich glaube nicht an Zufälle. Damit muss es etwas Besonderes auf sich haben. Misstrauisch werfe ich einen Blick in die Akten meiner Eltern und finde auf Anhieb, was ich gesucht habe. Ich schlage mir die Hände vor den Mund und Tränen steigen mir in die Augen. Alle drei Menschen sind am 22.01. 2021 gestorben und alle drei Leichen sind am 22.01.2022 verschwunden. Das kann unmöglich ein Zufall sein. So viele Zufälle gibt es gar nicht. Was kann nur mit ihnen geschehen sein? Möglicherweise hat jemand die Leichen gestohlen oder sie wurden weggeschafft. Beides klingt mehr als abwegig. Wenn Leichen gestohlen wurden, muss es auch jemanden geben, der sie gestohlen haben. Doch welcher gesunde Mensch würde so etwas tun? Und vor allem warum? Vielleicht waren Spuren an den Körpern zu sehen, die zeigen, dass es Mord oder etwas Ähnliches war. Das Krankenhaus hätte aber auch alles wegschaffen können. Auch das wäre dann ein Zeichen dafür, dass etwas an den Leichen war, was keiner sehen sollte. Tränen laufen mir die Wangen hinunter. Wieso sollte jemand sowas tun? Ich weiß nicht, wer auf so eine Idee kommen sollte, aber es ist einfach nur schrecklich und ich hätte niemals erwartet, dass ich so etwas finde, wenn ich ein wenig tiefer in meiner Vergangenheit grabe. Ich hatte gedacht, dass ich entweder die Bestätigung dafür finde, dass das Mädchen, welches gestern Nacht fast einen Wutausbruch hatte, meine Schwester ist oder nicht. Niemals hätte ich gehofft etwas von meinen Eltern herauszufinden, sondern lediglich von ihr. Mein Herz schmerzt bei dem Gedanken an die Nacht, in der sie starben und versetzt mir einen tiefen Schlag, der mir den Boden wegreißt, bis sich auf einmal die Tür öffnet und Aria in mein Zimmer stürzt. Ich zucke erschrocken zusammen und finde zurück in die Realität. “Oh, du arbeitest an den Akten“, stellt sie energiegeladen fest. Mit flinken Fingern verstecke ich die zwei Akten, von denen sie noch nichts weiß, unter Sarahs und reicht meinen Blick dann auf sie: “Ja, ich habe angefangen ein bisschen zu lesen.“ Freudig lässt sich Aria auf mein Bett fallen und ich erhebe mich vom Stuhl, was ich besser gelassen hätte. Als ich mich erhebe, knackt mein kompletter Rücken und ich schnaufe vor Schmerzen auf. Es ist echt nicht empfehlenswert auf einem Stuhl mit dem Kopf auf dem Tisch in einem Haufen von Papieren einzuschlafen. “Was hast du herausgefunden?“ “Ich habe erfahren, dass meine Schwester an Erde in der Lunge gestorben ist“, erleichtert lasse ich mich aufs Bett neben sie fallen und seufze erleichtert auf. Die Matratze unter meinem Rücken ist so weich. “Das ist alles?“, Aria klingt jedoch total enttäuscht. Ist aber verständlich! Schließlich weiß sie noch nicht, was ich weiß und ich bin fest davon überzeugt, dass ich es ihr jetzt auch noch nicht sagen kann. Wenn man einmal ein Geheimnis kennt, kann man es nicht mehr vergessen. Egal wie sehr man es versucht!