Einmal mehr hatte sie sich auf der Hügelkuppe eingefunden. Es war so etwas wie ein Ritual geworden. Der Hügel bildete das einzige Fleckchen Erde meilenweit, das nicht dicht mit Bäumen bewachsen war. Es wirkte fast so, als hätten sich die Fichten und Tannen gar nicht erst die Mühe gemacht, sich bis hier oben auszubreiten.
Die Wahrheit sah etwas anders aus. Der kleine Stamm, dessen Bewohner diesen Teil des Waldes einst besiedelte, hatte die Bäume gefällt um ihre Feste hier zu feiern- und natürlich um ihre Hütten zu bauen. Welches Volk das war wusste Juna allerdings nicht, vielleicht hatte sie den Geschichten ihrer Urgrossmutter auch einfach nur zu nachlässig gelauscht.
Im Schneidersitz sass sie da und Blickte auf das Meer aus schneebedeckten Wipfeln, die in der Abendsonne golden schimmerten. Jedem anderen hätte es bei diesem Anblick den Atem verschlagen doch Juna war mit ihren Gedanken an einem ganz anderen Ort, zu einer ganz anderen Zeit, in einem ganz anderen Leben. Gedankenverloren strich sie über die Narbe, an der sich einst ihr rechtes Auge befunden hatte. Sie konnte von Glück reden, dass die Narbe vollständig verheilt war, auch wenn sie hin und wieder noch juckte.
Mit jedem Augenblick, an dem die Sonne sich dem Horizont näherte, stieg die Anspannung. Ihr Körper bereitete sich schon einmal darauf vor, sich zur Unkenntlichkeit zu verformen. Es tat nicht halb so weh wie man meinen müsste, aber angenehm war es trotzdem nicht.
Als die Anspannung so gross wurde, dass es sie aus ihren Gedanken riss, erhob sie sich seufzend und liess das Fell, welches sie gegen die Kälte um sich geschlungen hatte, zu Boden gleiten.
Das Adrenalin in ihrem Blut verhinderte, dass sie die beissende Kälte auf ihrer nackten Haut wahrnahm und kurz darauf begann die Verwandlung. Sie hatte noch nie vor einem Spiegel gestanden während es geschah, aber ihrem Empfinden nach dauerte es nicht allzu lange. In ihren Ohren erklang jedes Mal ein unschönes Knacken, wenn ihre Muskeln die Form veränderten und sich von Mensch zu Tier wandelten. Ihre Haut juckte, sobald das Fell darauf zu spriessen begann. Und zugleich veränderten sich auch ihre Sinne zum Besseren.
Nun in ihrer tierischen Gestalt setzte sie sich wieder hin und wartete. Sie hatte nicht vor, den Mond anzuheulen oder etwas zu zerfleischen, denn egal was die Menschen glauben mochten, die Gestalt sagte nichts über ihre Gedanken aus. Im Inneren war und blieb sie Juna. Ja, ihre Sinne schärften sich und ja, sie liess sich eher von ihren Instinkten, als von ihrem Verstand leiten, doch sie war nach wie vor in der Lage zu denken und sich zu beherrschen- wenn sie es denn wollte.
Ruhig lauschte sie den Klängen des Waldes. Was vorhin noch so vollkommen ruhig gewirkt hatte, war auf einmal zum Leben erwacht. Nachtigallen, Eulen, Eichhörnchen- die Bäume wirkten noch belebter als der Boden darunter.
Nur in einem Teil des Waldes schien die Symphonie gestört. Da sie nach allem lechzte, was die Eintönigkeit ihrer Verbannung etwas schmälerte, trottete sie langsam los.
Zuerst hörte sie nur ein weit entferntes Winseln, das fast so wie ein Fuchsjunges klang, das nach seiner Mutter rief. Aber nur fast.
Der Wind kam aus der Richtung des Geräusches und sie verlangsamte ihre Schritte. Es roch nach einem Menschen. Aber es roch auch nach einem Tier. Es roch verdächtig wie ein Werwolf.
Sie sträubte ihr Fell und blechte die Zähne. Ihr Revier würde sie sich auf keinen Fall teilen, auch wenn sie in ihrem ganzen Leben noch keinem anderen ihrer Art begegnet war.
Der Geruch wurde stärker und es mischte sich etwas anderes hinzu. Blut. Na bestens, wenn ihr Gegner schon verletzt war, fiel es ihr leichter, ihm oder ihr den Rest zu geben.
Etwas Dunkles kam in Sicht, das zusammengerollt auf dem Boden lag. Es war um einiges kleiner als sie. Ein Wolf, das ja, aber noch nicht ausgewachsen. Aber ein Welpe war es auch nicht mehr, sondern irgendetwas dazwischen.
Mittlerweile war es verstummt. Sie stupste es mit der Nase an, doch es regte sich nicht. Wäre es eine ernstzunehmende Gefahr gewesen, hätte sie ihm vielleicht die Kehle durchgebissen, aber ihre menschliche Seite war dann doch zu stark, um einem hilflosen Jungtier den Gar auszumachen. Stattdessen legte sie sich daneben, auch wenn das Blut nun ihr eigenes Fell besudelte. Sie wollte wissen, woher es kam und das setzte voraus, dass es die Nacht über nicht erfror.
Beim ersten Licht der Morgendämmerung stellte sich heraus, dass es sich bei dem Es um eine Sie handelte. Das Mädchen konnte noch keine Vierzehn sein. Juna hatte sich alle Mühe gegeben, die Kleine in der Nacht warm zu halten, doch der Winter war erbarmungslos und die Lippen des Mädchens bläulich angelaufen. Sie bereute es, das Fell auf dem Hügel zurückgelassen zu haben, doch sie hatte sich zum Glück mehrere Unterschlüpfe in diesem Wald geschaffen und einer davon lag recht nahe.
Sie hob das Mädchen auf ihre Arme und stampfte los, auch sie war inzwischen bis auf die Knochen durchgefroren.
Neben dem gerodeten Hügel hatten ihr die früheren Bewohner dieses Ortes auch die ein oder andere zerfallene Hütte hinterlassen. Zwei davon hatte sie wieder so weit instandgesetzt, dass sie diese durch den Winter als Unterschlupf benutzen konnte. An beiden Orten befanden sich ein Notvorrat an Kleidung, Nahrungsmitteln und Holz den sie sich zugelegt hatte und an diesem Tag dankte sie ihrem vorausschauenden Selbst für diese Massnahmen.
Sie legte das Mädchen auf eines der Bärenfelle, deckte es aber noch nicht zu, da sie sich zuerst um die Wunde kümmern musste. Sie blutete noch immer, wenn auch schwächer. Sie war nicht gross, aber erschreckend tief, was auf einen Pfeil oder ein dünnes Messer hinwies. Sie öffnete die Wunde wieder ein Stück um zu sehen, ob sich nicht doch noch eine Pfeilspitze dort verbarg, doch dem war nicht der so. Ebenso wenig schienen wichtige Organe verletzt zu sein. Also wusch sie die Wunde aus so gut sie konnte und verband sie, ehe sie die Kleine fest in einen Stapel Felle wickelte. Während sie das alles tat, fragte sie sich unweigerlich, was sie sich da nur wieder eingehandelt hatte.