Es war wirklich erstaunlich, dass die Wunde sich nicht entzündete. Sie hatte keine Kräuter gehabt, um die Stichwunde- oder was immer es auch war- richtig zu säubern und beim kleinsten Anzeichen von Wundbrand hätte sie die Verletzung ohne zu zögern ausgebrannt.
Doch der Wundbrand setzte nicht ein und das leichte Fieber liess sich auch mit der Nacht auf dem eisigen Waldboden erklären.
Der Blutverlust tat sein Übriges und so war der Tag bereits wieder zur Nacht geworden, als das Mädchen die Augen aufschlug. Juna besserte gerade im Schein des kleinen Lagerfeuers ihre Fallen aus, als sie das Rascheln hörte. Das Mädchen setzte sich sofort kerzengerade auf, nur um gleich darauf mit einem schmerzerfüllten Stöhnen wieder in die Felle zurück zu sinken.
«Du solltest dich nicht so schnell bewegen.» Sie beendete den Knoten und legte das Seil beiseite.
«Wer seid Ihr?» Die Stimme des Mädchens glich dem Krächzen einer Krähe und so half Juna ihr dabei, einen Becher Wasser zu trinken. Sie brauchte viel Flüssigkeit, wenn sie gegen das Fieber ankämpfen wollte. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, der Kleinen die Antwort auf diese Frage zu verweigern, allerdings hatte sie ihrerseits selbst einige Fragen und da war es sicher nicht hilfreich, sich selbst auch schon stur zu stellen. «Mein Name ist Juna. Und mit wem habe ich das Vergnügen?» Sie konnte den leichten Spott nicht aus ihrer Stimme heraushalten, denn ein Vergnügen war es nicht. Eher Pflichtgefühl, auch wenn sie beim besten Wille nicht wusste, woher dieses auf einmal kam.
«Aileen.» Sie stütze sich auf den Ellenbogen um sich etwas besser in der kleinen Hütte umzuschauen. Viel zu sehen gab es da nicht. Es gab zahlreiche Felle und die Wände standen eher schlecht als recht. Doch es war besser als nichts. «Lebst du hier?» Juna nickte. «Vorzugsweise alleine. Darum will ich, dass du gehst, sobald du wieder laufen kannst.»
Das Mädchen wirkte verunsichert durch ihre Antwort. «Aber wohin denn?»
Juna füllte eine Schüssel mit dem Eintopf, der seit einigen Stunden über dem Feuer geköchelt hatte. «Nachhause, schlage ich mal vor. Deine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen.» Sie drückte dem Mädchen die irdene Schüssel in die Hände.
«Sorgen?» Aileen stiess etwas aus, das wie eine Mischung aus einem Lacher und einem Schluchzer klang. «Mein Vater hat mit einer Armbrust auf mich geschossen. Das Einzige, worum er sich sorgt wenn ich daheim auftauche ist, dass er mich nicht gleich beim ersten Versuch getötet hat.»
Ohne weiter darüber nachzudenken fuhr Juna mit den Fingern ihrer rechten Hand über die altbekannte Narbe. Auch sie war von Menschen verraten worden, denen sie vertraut hatte. Doch ihre eigenen Eltern waren zu jenem Zeitpunkt schon lange tot gewesen. Hätten sie noch gelebt, wer wusste, wie ihr Leben nun aussehen würde? Jedenfalls war es trotz allem was sie sich von den Menschen gewohnt war ein ekelerregender Gedanke, dass ein Vater versuchte, sein eigenes Kind zu töten.
«Warum? Wusste er denn nicht, dass du ein Werwolf bist?» Aileen riss erschrocken die Augen auf. «W-Woher weisst du das?» Natürlich. Als sie die Kleine gefunden hatte, hatte diese das Bewusstsein bereits verloren gehabt. «Als ich dich gefunden habe, war der Vollmond noch am Himmel. Jetzt sieh mich nicht an als wäre ich ein Jäger. Hätte ich deinen Tod gewollt, würdest du jetzt nicht hier liegen.» Das leuchtete ihr offenbar ein, sie wirkte nun jedenfalls weniger ängstlich und nahm einen Schluck aus der Schüssel. Solch einen Luxus wie Löffel besass sie schon seit über zehn Jahren nicht mehr.
«Woher wusstest du das ich keine normale Wölfin bin?» Sie lächelte verschmitzt. «Du stellst die richtigen Fragen. Ich habe es gerochen.» Alleine der Gesichtsausdruck des Mädchens war diese Antwort wert gewesen. «Ich habe dasselbe… Nun, nennen wir es mal haarige Problem.»
Sie nutzte das verblüffte Schweigen, um nun ihrerseits wieder eine Frage zu stellen. Sie hatte nicht vor, dieses Mädchen lange durchzufüttern, also musste sie wissen, wo sie sie hinbringen konnte. «Und was ist mit deiner Mutter?» Aileen wich ihrem Blick aus.
«Ich vermute mal, er hat sie umgebracht.»
«Warum hätte er das tun sollen?»
«Nun ja. Sie ist ebenso wenig ein Werwolf wie mein Vater. Oder besser gesagt, bisher glaubte ich, dass er mein Vater sei.» Beschämt starrte sie an die marode Wand der Hütte. Juna brauchte ein paar Augenblicke, ehe sie Begriff, was das Mädchen ihr zu erklären versuchte. Offenbar hatte Aileens Mutter einen Seitensprung mit einem Werwolf gehabt und sie war nun das Ergebnis daraus. Das kam allerdings erst ans Licht, als Aileen sich zum ersten Mal verwandelte. Das geschah nämlich in den meisten Fällen erst in der Pubertät, wenn die Hormone im menschlichen Körper die Oberhand gewannen. Niemand wusste genau, wann die Verwandlung zum ersten Mal geschah und so waren die Legenden aufgekommen, dass man durch einen Biss verwandelt wurde. Juna konnte über so viel Unwissenheit nur den Kopf schütteln. Entweder man wurde als Werwolf geboren, oder eben nicht.
Ihr Unterfangen das Mädchen so schnell wie möglich wieder loszuwerden, machte es aber nicht gerade einfacher.
Ein heftiger Windstoss liess einige Schneeflocken durch die Spalten in der Hauswand hineinrieseln. So lange es noch so kalt war, konnte sie das Mädchen nicht alleine losschicken.
«Du kannst bleiben bis der Schnee schmilzt. Danach musst du dir eine neue Bleibe suchen, verstanden?» Das Mädchen nickte eifrig und sah sich nochmal um.
«Lebst du denn ganz alleine hier?»
«Ja. Und ich bin sehr zufrieden damit.» Sie wusste, wie barsch das klang, doch sie wollte dem Mädchen keinesfalls falsche Hoffnungen machen. Sie war kein Monster, aber auch keine Mutterfigur. Aileen musste ihren eigenen Weg finden, so wie sie es getan hatte.
Sie kannte das Gefühl verlassen zu werden und verstand die Lage des Mädchens wohl wie keine Zweite, aber sie war nicht dazu geschaffen, mit anderen Menschen zusammen zu leben. Nicht mehr. Aileen hatte noch die Möglichkeit irgendwo ein neues Leben zu beginnen.
Nach ihren Worten wurde es für lange Zeit ruhig und Juna glaubte schon, das Mädchen wäre wieder eingeschlafen- was sich recht schnell als Irrtum herausstellte.
«Hast du bei Vollmond nie Angst?» Überrascht wandte sie sich um, nicht weil Aileen doch noch wach war, sondern wegen der Frage an sich. Das Gegenteil war der Fall, selten fühlte sie sich so lebendig, so im Reinen mit sich selbst, wie in ihrer tierischen Gestalt. «Nein. Da gibt es nichts, was man fürchten muss.»
«Vielleicht ist Angst auch das falsche Wort. Ich fühle mich nur jedes Mal so... Seltsam. Ich höre Dinge, die ich nicht hören dürfte und selbst in der Dunkelheit wird alles so klar.» Juna glaubte zu verstehen. «Du fürchtest dich nicht, du bist überfordert. Daran wirst du dich schon noch gewöhnen.» Du musst, fügte sie für sich hinzu. Tat sie es nicht, würde sie eines Tages den Verstand verlieren. Aileen erwiderte nichts darauf und nach einer Weile verriet ihr ruhiger Atem, dass sie doch noch eingeschlafen war.
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Ein Vorteil der Jugend bestand eindeutig in der starken Widerstandskraft. Es dauerte eine Woche, bis Aileen wieder halbwegs auf den Beinen war, aber die Wunde hinterliess keine bleibenden Schäden und Juna zögerte auch nicht, sie nach draussen zu schicken um Holz zu holen. Sie musste lernen in der Kälte zurecht zu kommen und Feuer zu machen. Zumindest so viel konnte sie dem Mädchen mit auf den Weg geben. Sie zeigte ihr sogar den Umgang mit Pfeil und Bogen. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass Aileen dafür nicht besonders viel Talent besass. Stattdessen zeigte sie ihr, wie und wo sie Fallen auslegen musste, um Hasen, Füchse und anderes kleines Wild zu fangen. Und natürlich, wie sie die Tiere erlegen- und ausnehmen musste.
Mit den verstreichenden Tagen und Nächten nahm auch die Mondphase ihren Lauf. Tag für Tag wurde die Sichel dünner, bis sie ganz verschwand, nur um danach wieder Tag für Tag zuzunehmen. Dasselbe galt auch für Aileens Nervosität.
In der Nacht vor dem nächsten Vollmond starrte sie den fast runden Himmelskörper mit einer solchen Intensität an, als könne sie ihn alleine mit ihrer Willenskraft dazu bringen, sich nicht weiter zu bewegen.
Juna wich am darauffolgenden Abend nicht von ihrer Seite und gab ihr ein paar letzte Ratschläge.
Aileen hatte sich in den letzten Wochen als gelehrig und folgsam erwiesen. Etwas zu folgsam vielleicht, das Mädchen musste eindeutig noch mehr Selbstvertrauen fassen, um alleine überleben zu können. Und davon war sie noch meilenweit entfernt, das erkannte Juna, als sich das Mädchen in ihrer tierischen Gestalt winselnd in der hintersten Ecke der Hütte verkroch und auch den Rest der Nacht dort verblieb.