«Es tut mir leid.» Überrascht sah sie Aileen an und hob fragend eine Augenbraue. «Es tut mir leid, dass ich versagt habe», präzisierte sie. Juna verstand immer noch nicht so recht. «Warum sollte es dir leidtun? Du bist mir keine Rechenschaft schuldig.»
«Ich weiss. Aber du gibst dir Mühe, mir zu helfen und ich kann die Hälfte davon nicht umsetzen.» Juna lachte, was das Mädchen offenbar nur noch mehr verunsicherte.
«Du solltest dich einen Dreck darum scheren, was andere von dir denken, das bringt nichts. Was dir fehlt ist nicht das Können, sondern das Umsetzen. Du hättest die Hütte in der letzten Nacht verlassen können, dir hat lediglich der Mut dazu gefehlt.»
Anscheinend hatte sie mit ihren Worten einen wunden Punkt getroffen, denn für den Rest des Tages war Aileen noch ruhiger als gewöhnlich. Sie dachte bestimmt über das nach, was Juna ihr gesagt hatte. Ihrer Meinung nach ein weiteres Problem. Liesse das Mädchen sich etwas mehr von ihren Instinkten als von ihren Gedanken leiten, hätte sie vielleicht schon bemerkt, dass es kein Fluch war, ein Werwolf zu sein.
Obwohl selbst Juna zugeben musste, dass ein gewisser Respekt vor der Wildnis nicht schaden konnte, denn weiter nördlich von hier gab es richtige Wölfe und gegen die käme auch sie nicht an.
So verstrich auch dieser Monat wie der vorige, mit dem Unterschied, dass sich der eiserne Griff des Winters langsam zu lösen begann. Immer mehr Pflanzen schafften es, die dünner werdende Schneedecke zu durchbrechen und die wagemutigsten der Vögel begannen bereits aus dem Süden zurückzukehren.
Juna ging dazu über, Aileen sämtliche Pflanzen zu zeigen, die im- und um den Wald herum wuchsen. Dabei war sie verblüfft, wie schnell das Mädchen begriff. Sie brauchte ihr nichts zweimal zu erklären und manche der Pflanzen waren ihr sogar schon bekannt.
«Hatte deine Mutter einen Garten?», fragte sie irgendwann, als es zu offensichtlich wurde, dass Aileen Vorkenntnisse besass.
«Meine Grossmutter war Hebamme», erzählte sie. «Sie hat oft auf mich aufgepasst, wenn meine Mutter auf den Feldern gearbeitet hat. Da hat sie mir einiges beigebracht.» Aileen mochte keine besonders talentierte Jägerin sein, aber alleine mit ihrem Pflanzenwissen hatte sie schon gute Überlebenschancen.
Diese Leidenschaft machte Juna sich beim nächsten Vollmond zu Nutze, denn auf der gerodeten Hügelkuppe wuchsen immer ganz besonders viele Pflanzen, die im Schatten der Bäume nur selten gediehen.
So lockte sie Aileen, ohne dass diese es realisierte, auf den Hügelkamm um ihr einige weitere der früh erblühenden Pflanzen zu zeigen. So ganz fasziniert von den Gewächsen bemerkte sie nicht, wie die Zeit verstrich. Erst als es zu dämmern begann und sich die altbekannte Anspannung in Juna breitmachte, sah auch das Mädchen auf. Juna hatte noch nie Kontakt mit anderen ihrer Art gehabt und wusste daher nicht, was in Aileen vorging, aber sie konnte sich denken, dass es ihr ähnlich gehen musste.
Alles in dem Mädchen verkrampfte sich und sie begann unkontrolliert zu zittern. Juna umschloss mit beiden Händen ihre Oberarme und suchte Aileens Blick.
«Entspann dich. Kämpfe nicht dagegen an.» Zuerst erreichte sie nur das Gegenteil und Aileen verkrampfte sich nur noch mehr, doch allmählich- sie hielt den Blickkontakt aufrecht- begann sich das Mädchen etwas zu entspannen und Juna liess die Hände sinken. Es begann.
Zum ersten Mal bekam Juna nicht nur am eigenen Leibe zu spüren wie die Verwandlung vonstattenging, sie sah es auch. Wie sich der Körper verformte, die Muskeln unter der Haut ihre Form veränderten und das Fell aus der Haut zu spriessen begann. Es grenzte in der Tat an ein Wunder, dass dieser Prozess nicht grössere Schmerzen verursachte. Natürlich schmerzten ihre Muskeln an den Tagen nach dem Vollmond, aber es war vergleichbar mit einem üblen Muskelkater.
Sie hörte auch das Reissen des Stoffes und begriff, dass sie völlig vergessen hatte, diese auszuziehen- was für eine Verschwendung. Aber auch der Gedanke verlor an Bedeutung, als sich ihre Sinne schärften und sie sich einmal mehr auf ihre Umgebung konzentrierte.
Mit jedem Tag kehrte immer mehr Leben in den Wald zurück. Und nicht nur in den Wald. Ein Blick in Aileens Richtung zeigte, dass sie zwar noch immer in leicht geduckter Haltung da kauerte, ihre Umgebung aber beobachtete. Nur reichte Beobachten alleine nicht. Wenn sie bei ihr bleiben wollte, musste sie sich ihr unterordnen.
Das war zweifellos der Gedanke einer Wölfin, aber Juna war das im Moment herzlich egal. Sie erhob sich und lief die Hügelkuppe hinunter. Sie wandte sich um, die junge Wölfin folgte ihr noch immer nicht, was sie mit einem ungeduldigen Jaulen zur Kenntnis nahm. Erst jetzt setzte sie sich in Bewegung und die Leitwölfin rannte los, ohne einen weiteren Blick zurück zu werfen. Sie wollte die Nacht nicht mit herumsitzen verschwenden.
Es dauerte nicht lange und sie hörte neben allem anderen das traben von Pfoten direkt hinter ihr. Aileen holte auf, was Juna nicht einfach so auf sich sitzen liess. Sie verlangte ihren Muskeln das Äusserste ab. Nun war es fast so, als würden die beiden Wölfe über den Waldboden dahinfliegen, alles verschmolz zu einer einzigen dunkelgrünen Masse und war dennoch klarer als jemals zuvor. Das Blut rauschte in ihren Ohren und sie wusste nicht, wann sie sich zuletzt so frei und unbeschwert gefühlt hatte. Es jaulte direkt neben ihr und obwohl es das erste Mal war, dass Aileen sich meldete, verstand sie die Wölfin. Es war ein Geräusch der Freude und der Freiheit.