Der frühe Morgenhimmel war so blau, wie man ihn sich nur vorstellen konnte. Dennoch waren Aileens Kleider klatschnass. Sie hatte versucht, das Blut daraus fort zu waschen, was ihr nur mässig gelungen war.
Als es losgegangen war, war sie nicht in Panik ausgebrochen. Entgegen den meisten anderen Mädchen war es nicht ihre Mutter gewesen, die sie über die Geheimnisse einer Frau in Kenntnis gesetzt hatte, sondern ihre Grossmutter. Darum wusste sie auch, dass dieses Debakel ihr nun einmal im Monat blühte. Als wäre sie durch ihr anderes monatliches Problem nicht schon genug gestraft.
Wenn sie ehrlich mit sich war, war ihre verschmutzte Kleidung und sogar die Bauchschmerzen ihr kleinstes Problem. Als sie sich nämlich dazu entschieden hatte, Juna zu verlassen, war sie mehr oder weniger Hals über Kopf abgereist, weshalb sie zwar die Richtung kannte, in der das Dorf lag, aber nicht die geringste Vorstellung hatte, was sie den Bewohnerinnen und Bewohnern dort erzählen wollte. Wie sollte sie ihre Anwesenheit auf einmal erklären? Selbst, wenn die Leute ihr wohlgesonnen waren, musste sie eine glaubwürdige Geschichte erzählen können. Oder irgendeine Geschichte. Wenn sie die Wahrheit darüber sagte, aus welchem Dorf sie stammte, käme vielleicht jemand auf die Idee, ihrer Familie zu schreiben.
Kurzum: Sie wusste viel über Pflanzen und das Überleben, hatte aber keine Ahnung, wie sie unter so vielen Menschen zurechtkommen- und wie sie sich ihren Platz unter den Menschen verdienen sollte.
Sie zweifelte nicht daran, dass Juna sie wieder aufnehmen würde, wenn sie jetzt zurückging. Sie tat zwar immer so, als bräuchte sie keine Freunde, doch Aileen wusste es besser, weshalb es ihr auch alles andere als leicht gefallen war, sie alleine zu lassen. Doch sie wollte nicht so enden wie Juna, also musste sie es wagen.
Es dauerte noch fast eine Woche, bis die Bäume sich lichteten und sie in der Ferne aufsteigenden Rauch und Häuser erkannte. Es war später Vormittag und sie hätte es niemals geschafft, ungesehen zu den Häusern zu gelangen. Denn das erste was sie tun musste, war ein paar Kleider von den unzähligen Wäscheleinen zu stehlen, die vor den Häusern aufgebaut waren. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas gestohlen - von ein paar Erdbeeren aus dem Nachbarkarten mal abgesehen. Aber wenn sie so verlumpt wie sie war bei den Häuser auftauchte, würde man sie für eine Bettlerin halten und sofort fortjagen. Soetwas hatte sie auch in ihrem Heimatdorf schon gesehen.
Sie konnte nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit warten, denn bis dahin war die Wäsche sicher längst weggeräumt. Stattdessen harrte sie bis zur Mittagsstunde aus, als sich die meisten Leute nach drinnen verzogen, um ihre Mahlzeit zu sich zu nehmen. Letzten Endes hatte sie vor lauter nach vorne schauen alles andere ausgeblendet, was dazu führte, dass sie entdeckt wurde, kaum hatte sie die letzten Bäume hinter sich gelassen.
«Was ist denn mit dir passiert?» Erschrocken fuhr sie herum und sah sich einem Jungen gegenüber, der zwar nicht viel älter, dafür aber einen guten Kopf grösser war. «Von hier scheinst du jedenfalls nicht zu kommen», fuhr der Junge fort, machte aber nicht den Eindruck, als würde er sich daran stören. Er trug einen Stock über der Schulter, an dem zwei Hasen hingen. Offenbar war er im Wald auf der Jagd gewesen, kein Wunder, hatte sie ihn nicht kommen hören.
«Nein.» Sie räusperte sich. «Nein, ich komme nicht von hier… Aber ich suche Arbeit.» Er kratzte sich am Kopf und schaute sich kurz suchend um.
«Wo sind denn deine Eltern?»
«Tot.» Er hielt inne und sah sie entschuldigend an. «Das tut mir echt leid für dich.» Kurze Zeit schwieg er, aber offensichtlich gehörte er zur neugierigen Sorte Mensch. «Und woher kommst du?»
«Wie du schon sagtest, nicht von hier.» Vielleicht hatte Juna Recht gehabt und es war eine dumme Idee gewesen, hierher zu kommen. Sie machte bereits einen Schritt zurück, doch der Junge ahnte offenbar, was sie vorhatte.
«Geh nicht. Tut mir leid, ich weiss, das geht mich alles nichts an. Aber wenn du Arbeit suchst wird dich sicher jeder dasselbe fragen, darum solltest du dir besser eine gute Ausrede bereithalten.» Sie blieb stehen. «Ich bin übrigens Odwin.» Er streckte die Hand aus und Aileen ergriff sie. «Aileen.»
«Dann komm mal mit, Aileen.»