Trotz ihres Misstrauens hatte sie keine bessere Möglichkeit gesehen und war Odwin gefolgt. Es war ihr zwar unangenehm, sich nun doch so verschmutzt in der Öffentlichkeit zu zeigen, doch durch Odwins Anwesenheit fühlte sie sich etwas sicherer. Zielstrebig und ohne auf die neugierigen Blicke der Leute zu achten, führte er sie zu einer kleinen aber gemütlich aussehenden Hütte, vor der eine rundliche Frau gerade dabei war, die Blumen zu giessen.
«Mutter, hast du vielleicht noch ein paar von Marys Kleidern?» Die Angesprochene drehte sich um und wirkte erschrocken. Aileens erster Reflex war es, sich irgendwo zu verstecken, doch die Frau wirkte weder angewidert, noch besonders neugierig. Lediglich besorgt.
«Oh Kindchen, was ist denn mit dir passiert?» Sie war viel zu überrascht von der ihr entgegengebrachen Freundlichkeit, als dass sie ihre Lüge einfach so hätte wiederholen können. Etwas in ihr wollte nichts als die Wahrheit sagen, auch wenn ihr klar war, dass sie das nicht konnte.
«Nach dem Tod ihrer Eltern ist sie von zuhause weggelaufen. Ich habe sie am Waldrand aufgelesen, sie sagt, sie sucht Arbeit.» Zum Glück war Odwin geistesgegenwärtiger als sie. Aileen vermutete zwar, dass er ihre Lüge durchschaut hatte, aber wenn dem so war, liess er es sich nicht anmerken.
«Später vielleicht. Erstmal verbrennen wir diese Fetzen und besorgen dir etwas Anständiges zu essen», entschied die Frau und scheuchte sie in die kleine Hütte. Sie warf einen Blick über ihre Schultern, doch Odwin grinste nur und verschwand auch schon wieder zwischen den Häusern.
«Ich bin übrigens Macey», stellte ihre Gastgeberin sich vor, während Aileen die verschmutzten Kleider auszog und Wasser über einem kleinen Feuer erwärmt wurde. Odwins Mutter versuchte nicht, Aileen auszuhorchen, was sie in ihren Augen gleich nochmal sympathischer machte.
«Danke.» Sie machte nur eine wegwerfende Handbewegung «Bedanke dich erst, wenn du meinen Eintopf probiert hast.»
Nun wo das Wasser heiss war, schüttete Macey es in ein Becken und Aileen zog sich in den hinteren Teil der Hütte zurück, um sich zu waschen und danach die Kleidung anzuziehen, die für sie bereitgelegt geworden war. Es war ein einfaches Kleid und ihr obenherum etwas zu weit, passte ansonsten aber erstaunlich gut. «Na sieh einer an. Unter dem ganzen Schmutz steckt doch ein ganz adrettes Mädchen.» Sie war verlegen, merkte aber, dass Odwins Mutter sie nicht aufzog, sondern es ernst meinte. Sie hatte schon lange nicht mehr in einen Spiegel geblickt und wusste daher nicht, ob es auch der Wahrheit entsprach. Aus ihrem Aussehen hatte sie sich noch nie sonderlich viel gemacht.
«Woher habt Ihr denn das Kleid?» Es gehörte eindeutig nicht Macey, dafür war es zu lang.
«Als meine Älteste Mary letzten Herbst geheiratet hat, hat sie ein paar ihrer Sachen hiergelassen. Sie erwartet schon ihr erstes Kind, ich glaube also nicht, dass sie das Kleid in nächster Zeit brauchen wird.» Danach stellte sie ihr eine dampfende Schüssel des besagten Eintopfes hin- Aileen wusste beim besten Willen nicht, wann sie zuletzt so etwas Köstliches gegessen hatte.
Sie war Macey unglaublich dankbar für ihre Hilfe. Auch wenn sie ihr klar gemacht hatte, dass es nur eine vorübergehende Lösung war, wenigstens hatte man Aileen nicht gleich wieder fortgejagt. Im Gegenteil, Odwins Mutter gab sich alle nur erdenkliche Mühe, sie mit den Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes vertraut zu machen. Sie nahm sie gleich am Tag nach ihrer Ankunft auf den Markt mit und nach drei Tagen schickte sie sie bereits alleine dorthin.
Nach einem halben Jahr ganz für sich war sie von der Anwesenheit all der Menschen schon beinahe überfordert. Doch zugleich fühlte sie eine seltsame Leere. Ja, fühlte sich in den Nächten sogar einsamer als zuvor. Denn niemand von ihnen kannte ihr zweites Wesen. Auch wenn es nur zwölf Nächte im Jahr waren, es war ein Teil von ihr und je näher sie dem achten Vollmond kamen, desto grösser wurde auch wieder die altbekannte Anspannung. Diese rührte aber nicht nur vom Vollmond her. Denn die offene Art ihrer Gastfamilie war in dem Dorf einzigartig, fast alle anderen beäugten sie bestenfalls mit unverhohlener Neugierde, die meisten Blicke hingegen zeugten von Misstrauen und das meiste des Getuschels konnte sie sogar mit ihren eigenen Ohren hören.
«Ja, ganz alleine. Wetten das ihre Eltern noch leben? Die ist sicher nur von zuhause weggelaufen.» Und das waren noch die harmlosesten der Beschuldigungen. Denn einige der jüngeren Mädchen hatten doch tatsächlich das Gerücht gestreut, dass sie eine Hexe sei und mit dem Teufel im Bunde stand- und ab da hatte der Spass schliesslich sein Ende genommen.
Die Stimmung, zuvor noch von Neugierde und verhaltenem Misstrauen geprägt, schlug schlagartig um. Die Mütter zogen ihre Kinder von ihr weg und mehr als einmal musste sie auf dem Markt einem verfaulten Stück Obst ausweichen. Macey tat so, als würde das Gerede sie nicht kümmern, doch bemerkte Aileen, dass auch sie nun gemieden wurde. Sie wollte nicht die Verantwortung für noch ein zerstörtes Leben tragen und entschloss sich schliesslich bei Vollmond, gerade einmal etwas mehr als drei Wochen nach ihrer Ankunft, wieder zu verschwinden. Sie wusste nun, warum Juna die Menschen nicht ausstehen konnte.
Zu ihrem Erstaunen gab es einen Dorfbewohner, der versuchte die Gemüter zu beruhigen. Er versuchte an den gesunden Menschenverstand zu appellieren, doch der war in diesem Dorf offenbar nur sehr begrenzt ausgeprägt.
Aileen wusste nicht, warum dieser Moran versuchte ihr zu helfen und sie hatte nie die Gelegenheit, ihn danach zu fragen. Ernst genommen wurde er sowieso nicht, denn wie sie von Macey erfuhr, erschien er ähnlich wie sie, von irgendwo aus dem Nichts. Nur wurden bei Männern generell weniger Fragen und Vermutungen gestellt als bei Frauen, was Aileen nur noch wütender machte.
Sie war also am Ende fast dankbar, als der Abend des Vollmondes kam und sie sich zurück in die Wälder schlich. Für Odwin und Macey liess sie einen Zettel da, der zwar nichts erklärte, sich aber für ihre Hilfe bedankte.
Dann machte sie sich davon- sich nicht im Klaren darüber, dass ihre Chance auf Flucht schon längst vertan war. Sie hatte noch nicht einmal den Dorfrand erreicht, als sie von einer Gruppe Menschen eingekreist wurde. Die meisten waren Männer, es waren aber auch ein paar Frauen und Mädchen dabei, allen voran diejenigen, die Gerüchte über sie in Umlauf gebracht hatten.
«Wo willst du hin, Hexe», zischte eines der Mädchen. Aileen hatte bisher nie wirklich etwas zu den Vorwürfen gesagt, ausser vor Macey und Odwin ihre Unschuld zu beteuern, denn noch nie hatte ihr jemand den Vorwurf ins Gesicht gesagt, immer waren es nur Gerüchte gewesen. Also war es auch das erste Mal, dass sie sich wirklich dagegen zur Wehr setzen konnte.
«Ich bin keine Hexe! Ausserdem habt ihr euer Ziel bereits erreicht, ich gehe.» Sie wandte sich wieder Richtung Waldrand, nur um zu sehen, dass sie auch von dieser Seite her eingekreist war.
Sie blickte zum Horizont, wo die Sonne gerade endgültig verschwunden war. Nicht mehr lange und sie würde den Dorfbewohnern ein Spektakel liefern, das diese sicher nicht so schnell wieder vergassen.
Da sie nicht alle gleichzeitig im Blick haben konnte, sah sie nicht, wie jemand ein Seil nach ihr warf, bis sich die Schlinge im ihren Oberkörper legte und sich dort zuzog. Mit einem heftigen Ruck wurde sie zu Boden gerissen. Sie wusste selbst nicht, warum sie nicht sofort in Panik verfiel. War es der herannahende Vollmond? Sie wusste es nicht, aber irgendetwas verlieh ihr das Gefühl von Sicherheit.
«Stoppt den Wahnsinn!» Sie sah, wie sich zwei weitere Gestalten vom Dorf her näherten. Es waren Moran und Odwin.
«Meine Güte, lasst das Mädchen los! Wir sind doch keine Barbaren!»
«Halt dich da raus, du…» Der Dorfälteste, welcher den Angriff auf sie führte, verstummte und sah sie nur mit grossen Augen an. Sie konnte ihn sogar verstehen, es musste schon einen ziemlich eindrucksvollen Anblick bieten, wenn sich jemand innerhalb kürzester Zeit von einem Menschen in ein Tier verwandelte. Aileen nutzte die kurzzeitige Verwirrung aus, um sich aus dem Seil zu winden und durchdrang den Kreis aus Menschen mit einem einzigen Sprung. Sie kam jedoch nicht weit, als sich schon zwei neue Schlingen um sie legten. Auch gegen diese wehrte sie sich, doch ein harter Tritt in die Magengrube liess sie kurz zusammenfahren, während sich immer mehr Seile um sie schlangen. Nun redeten alle wirr durcheinander. «Los, nimm den Sparten und schlag dem Vieh den Schädel ein.» «Nein, verbrennt sie.» Aileen wehrte sich und zerrte an ihren Fesseln, aber es waren sechs ausgewachsene Männer die die Seile festheilten und sie machte es ihnen nicht einfach, befreien konnte sie sich aber nicht.
Immer weitere Tritte malträtierten sie, einige warfen sogar mit Steinen nach ihr, was sie aber eher weiter reizte, als sie ernsthaft zu verletzen. Den Speer, welchen der Dorfälteste auf einmal in den Händen hielt wäre dazu jedoch sehr wohl in der Lage und er wirkte mehr als entschlossen diesen einzusetzen, als er auf sie zutrat.
«Ihr seht ja, wie ausser Kontrolle es ist. Wir können nicht riskieren, es nur gefangen zu nehmen.» Er hob den Speer- und ab da ging alles sehr schnell, selbst für ihre geschärften Sinne.
Wie ein dunkler Blitz schoss Juna aus Richtung des Waldrandes hervor, bahnte sich ihren Weg durch die Menschen und verbiss sich im Arm des Dorfältesten, der den Speer- natürlich nicht ohne schmerzerfüllten Aufschrei- fallen liess. Innerlich sprach sie ein Stossgebet zu allen Göttern die sie kannte und die ihr Juna als Vertraute und Beschützerin zur Seite gestellt hatten. Sie konnte ihre Dankbarkeit kaum in Worte fassen.
Im Getümmel der ausbrechenden Panik war es auf einmal ein Leichtes, sich von den Seilen loszureissen. Sie wollte schon Richtung Waldrand losstürmen, doch Juna heulte auf eine Weise auf, die Aileen das Blut in den Adern gefrieren liess.
Auch wenn der letzte Krieg in diesem Teil des Landes schon eine Weile her war, einige Schwerter waren dennoch in Umlauf und eine ebensolche Waffe hatte sich in Junas Seite gebohrt- und zwar so tief, dass die Klinge unten wieder heraustrat.
Aileen war zu perplex um zu reagieren, doch gab es jemanden, der schneller war und den Angreifer mit einem Stein zu Boden streckte. Moran. «Lauf!», schrie er. Dabei sah er jedoch nicht sie, sondern Juna an. Diese warf ihm noch einen langen Blick zu, ehe sie der Aufforderung nachkam und das Weite suchte. Bei dem Blutverlust konnte sie aber nicht sehr weit kommen. Aileen wollte ihr folgen, war aber fest entschlossen, zuerst diese lästigen Menschen abzuschütteln. Dabei versuchte sie, die Angst um Juna auszublenden. Denn wenn diese Nacht eines klar gemacht hatte, dann, dass sie sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen konnte. Sie war nicht nur ihre Heldin, sie war ihre Mutter, mehr als ihre eigene es je gewesen war.