Sie rannte schon wieder. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie den Waldrand erreicht und preschte zwischen den Baumstämmen hindurch. Wieder begann ihre Umgebung zu verschwimmen, wie schon so viele Male zuvor, doch diesmal hatte es nichts mit ihrer Geschwindigkeit zu tun. Sie wurde langsamer. Aber sie rannte. Sie musste rennen. Sie musste weg von diesen Menschen, diesen niederträchtigen Lebewesen, die im letzten Jahrzehnt nichts dazugelernt hatten.
Selbst mit den Schmerzen und dem Blutverlust kam sie erstaunlich weit, bis ihre Vorderläufe einknickten und sie im Morast landete.
Das Blut strömte noch immer aus beiden Seiten der Wunde und verklebte langsam ihr Fell. Es war ihr gleichgültig, sie hoffte einfach nur, dass es nicht umsonst gewesen war und auch Aileen hatte fliehen können. Mit letzter Kraft schob sie sich hinter ein Gebüsch, wo sie sich schliesslich zusammenrollte.
Ein Lichtblitz durchzuckte den Himmel und in einiger Entfernung vernahm sie ein Donnergrollen. Juna war es gleichgültig, sie wollte einfach nur schlafen. Sie wollte das Dorf vergessen, diesen Abend und vor allem ihren Bruder. Was hatte ihn nur dazu getrieben, ihr zur Flucht zu verhelfen? Und vor allem wie hatte er sie überhaupt erkennen können? Das fehlende Auge, schoss es ihr durch den Kopf. Es spielte keine Rolle mehr. Moran hatte seine Entscheidung vor langer Zeit gefällt und Juna aus seinem Leben verbannt. Ebenso wie sie ihn aus ihrem Herzen.
Als sie wieder zu sich kam, war es heller, aber auch nass. Der Morgen graute und noch immer ging ein leichter Nieselregen nieder. Ihr war kalt und sie sah an sich hinab. Natürlich war das Fell gewichen und auf ihrer Haut sah die Wunde sogar noch übler aus, als sie sich anfühlte. Das Schwert hatte ihre Seite durchbohrt und sie blutete noch immer, auch wenn das Blut sogleich vom Regen fortgewaschen wurde. Der Teil von ihr, der durch den Blutverlust noch nicht betäubt war wusste, dass sie handeln musste. Versuchen musste, die Wunde zu schliessen.
Stattdessen liess sie ihren Kopf in die aufgeweichte Erde zurücksinken. Sie hatte es satt zu kämpfen.
Doch offenbar hatten die Götter, so es diese denn geben mochte, anderes für sie bestimmt. Als sie einige Zeit später erwachte, war sie zu schwach um sich darüber zu wundern, dass sie noch lebte. Das einzige Gefühl, welches ihr Denken beherrschte war Hitze. Es fühlte sich an, als stünde ihr ganzer Körper in Flammen. Sie konnte die Augen nicht öffnen, hörte aber ein leises Geräusch. Ein Schluchzen. Sie war nicht alleine. Aber wer war sonst noch da? Dann wurde es wieder still und die Hitze rückte in den Hintergrund.
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Einesteils schämte sie sich für ihre Tränen, ihre Grossmutter hatte immer gesagt, sie wäre zu nahe am Wasser gebaut und mittlerweile glaubte Aileen, dass sie damit nicht ganz Unrecht gehabt haben mochte.
Auf der anderen Seite hatte sie jedes Recht dazu, denn die Verzweiflung war nicht diejenigen eines wütenden Kindes, sondern einer jungen Frau, die gerade im Begriff war den einzigen Menschen zu verlieren, der sie wirklich verstand. Noch ist sie nicht tot, mahnte ein Teil in ihr, doch der andere Teil, der Juna so vor sich liegen sah, weiss wie Schnee, kaum noch atmend und vom Fieber geplagt, konnte sich nicht vorstellen, dass sie das überlebte.
Aileen hatte versucht ihr zu folgen, doch einige lästige Dorfbewohner hatten noch immer nicht genug gehabt und versucht sie aufzuhalten. Aileen hatte sich im Arm eines Bauern verbissen, während Odwin und Moran die restlichen Dorfbewohner auseinandergetrieben hatten. Viele von ihnen waren von dem Anblick der beiden Werwölfinnen so schockiert gewesen, dass sie es einfach so hatten geschehen lassen. Danach war Aileen ihr gefolgt, hatte durch den Regen aber ihre Spur verloren und sie erst am nächsten Morgen gefunden. Warum hatte sie sich auch in einem Gebüsch verstecken müssen?
Sie hatte keine Möglichkeit gehabt, die Wunde zu verbinden und war lange Zeit einfach nur dagesessen. Nie und nimmer wäre sie von sich aus in das Dorf zurückgekehrt.
Umso misstrauischer war sie gewesen, als sie Schritte vernommen hatte. Es war Moran, den Juna offenbar kannte. Er hatte seine Frau Briana mitgenommen und sie hatten Kleider, Decken sowie Stoffe und Kräuter zum Verbinden der Wunde dabeigehabt.
Unter anderen Umständen hätte Aileen protestiert, aber ihr war klar, dass Juna im Wald den Tod fand, wenn ihr niemand half. Gegen ihre Wunde war Aileens damals nur ein Kratzer gewesen. Also nahm sie die Hilfe an, liess Moran aber nicht aus den Augen, während er Juna verband und in eine kleine Jagdhütte trug. Einmal mehr fragte sie sich, was Morans Sorge zu Grunde lag. Was interessierte es ihn ob Juna lebte oder starb?
Nun sass sie also hier, im der Hütte eines Fremden und klammerte sich an das Einzige, was ihr im Moment blieb… Die Hoffnung.