Langsam begann das Schwarz vor ihren Augen zu verblassen und zeigte stattdessen die Konturen von zwei Personen. Es dauerte einen Moment, ehe sie ihre Erinnerungen zurückerhielt und diesen Gestalten ihre Namen zuordnen konnte. Aileen. Also war ihr Eingreifen doch nicht umsonst gewesen. Und das sie selbst noch hier war, hatte sie Moran zu verdanken, so ungerne sie sich das auch eingestand.
«Warum hast du mir geholfen?» Ein Dankeschön wäre wahrscheinlich angebrachter gewesen, doch es war schon viele Jahre her, seit Juna unter Menschen gelebt hatte und schon damals hatte sie sich recht wenig um Anstandsfloskeln geschert. Aufgrund ihres trockenen Halses waren die Worte aber ohnehin kaum verständlich, das sah wohl auch Aileen so, die ihr einen Becher Wasser hinhielt. Kurz trafen sich ihre Blicke und Aileens Mundwinkel zuckten, denn nun hatten sich ihre Rollen getauscht. Vor fast neun Monaten war Juna es gewesen, die Aileen das Wasser gereicht hatte, nachdem diese von ihrem Stiefvater mit einer Armbrust angeschossen worden war.
«Weil die meisten Dorfbewohner sich wie Monster benommen haben.»
«Du hast dich damals für diese Monster entschieden.»
«Ich habe mich für Briana entschieden.» Wenigstens versuchte er sich nicht hinauszuwinden und ihr eine Lüge aufzutischen. Er hatte sich für seine Geliebte entschieden und sie, seine eigene Schwester, zurückgelassen. Dass er sie nun gerettet hatte, minderte ihren Groll nur geringfügig.
Sie schlug die Bettdecke zurück und stellte fest, dass sie ein dünnes, knielanges Leinenhemd trug. Nach dem Fieber, das in ihr gebrannt hatte, war die kühle Luft auf ihrer Haut eine wahre Wohltat und sie schwang die Beine über die Bettkante, blieb dort aber sitzen. Sie befürchtete, dass ihre Beine sie noch nicht tragen würden, doch mit Aileens Hilfe würde sie es sicher in den Wald zurückschaffen. Dort konnte sie die Verletzungen zur Gänze heilen lassen.
«Dass ich mich für Briana entschieden habe heisst nicht, dass ich dich weniger liebe. Als ich gegangen bin, war noch alles in Ordnung, was danach passiert ist, konnte ich nicht voraussehen.» Sie war froh, dass sie ihm in dieser Position den Rücken zugewendet hatte, sonst hätte sie ihm eine reingehauen. Aileen, die vor ihr sass, spürte ihre innere Unruhe und nahm ihre Hand. Das machte es etwas besser.
«Du wusstest, dass ich ausser dir und Grossmutter niemanden hatte. Zu gehen war dein Recht, aber tu´ nicht so, als hättest du nicht gewusst, in was für einer Situation du mich zurücklässt.» Darauf konnte er nichts mehr erwidern. Als sich das Schweigen allzu unangenehm in die Länge zog, liess er die beiden Frauen unter sich. Der letzte Rest Anspannung löste sich und sie liess sich erschöpft auf ihr Lager zurücksinken.
Aileen nutzte die Gunst der Stunde und schob das Hemd hoch, um die Wunde zu begutachten. Ja, sie hatte eindeutig viel von ihr gelernt.
«Die Wundränder sehen gut aus.»
«Gut. Ich werde morgen aufbrechen.» Sie hatte halb erwartete, dass Aileen es ihr auszureden versuchte. Sie sah war in der Tat nicht begeistert aus, nickte aber. «Unter einer Bedingung. Erzähle mir, was damals geschehen ist.» Juna hasste es, wenn man etwas von ihr verlangte, doch die ein oder andere Antwort hatte Aileen sich verdient.
«Wahrscheinlich hast du dir schon selbst zusammengereimt, dass Moran mein Bruder ist.» Hatte sie nicht, das verriet ihr Blick eindeutig. Nun gut, dann wusste sie es eben jetzt. «Er war nicht nur mein Bruder, sondern auch mein Beschützer. Er hat dafür gesorgt, dass niemand von meinem pelzigen Geheimnis erfahren hat. Meine Mutter starb im Kindbett, mein Vater hat uns bei seiner eigenen Mutter zurückgelassen. Er hat ihr immer Geld geschickt, aber grossziehen konnte er uns nicht.» Sie merkte, dass Aileen Mitleid hatte. «Hör auf damit. Meine Familie war nicht da Problem, mein Problem war, dass ich nicht besonders viele Freunde hatte. Meine Grossmutter galt als sonderbar und ich war schon als Kind recht wild. Die Kinder selbst hatten damit kein Problem, aber ihre Mütter haben sie nicht mit mir spielen lassen.» Wie aufs Stichwort begann die Narbe, an der sich einst ihr rechtes Auge befunden hatte, zu jucken. «Wie die vorhin mitbekommen hast, ist mein Bruder mit Briana durchgebrannt. Sie ist die Tochter eines Kaufmannes. Danach hatte unsere Familie, die nur noch aus Grossmutter und mir bestand, noch einen schlechteren Ruf. Wir standen unter ständiger Beobachtung, doch merkte ich zu spät, dass mir bei Vollmond jemand gefolgt war. Es war zum Glück nur ein Junge mit einer Steinschleuder, aber er wusste damit umzugehen.» Sie lächelte verbittert.
«Und dann? Ist er ins Dorf zurückgelaufen und hat die anderen geholt?», wollte Aileen wissen. Juna schüttelte den Kopf. «Er ist nie mehr ins Dorf zurückgekehrt. Nachdem der Stein mein Auge zerstört hatte, habe ich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben die Kontrolle verloren.» Wenn Aileen schockiert war, so liess sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Danach stellte sie keine weiteren Fragen mehr, blieb aber an ihrer Seite, bis sie eingeschlafen war.
Am nächsten Tag löste sie ihr Versprechen ein und trotz der Proteste von Briana und ihrem Bruder kehrte sie in die Wälder zurück.
«Du gehst wieder?», mutmasste sie, als sie Aileens schuldbewusstes Gesicht sah.
«Ich möchte nur etwas herausfinden. Doch keine Sorge, du wirst mich so oder so wiedersehen, das verspreche ich dir.» Sie schlang die Arme um Juna, die etwas tat, was noch vor einiger Zeit undenkbar gewesen wäre. Sie erwiderte die Umarmung.