Hauchdünn hing die abnehmende Mondsichel am Himmel. Morgen Nacht würde der Himmelskörper ganz vom Firmament getilgt sein, doch heute reichte sein Licht noch aus, um ihr den Weg zu weisen. Sie musste lautlos vorgehen, war ihr die letzte Begegnung mit den wütenden Dorfbewohnern doch noch zu gut in Erinnerung.
Das Haus welches sie suchte lag still und verlassen da. Holzläden standen vor den Fenstern, um die winterliche Kälte so gut wie möglich fern zu halten.
Sie nahm sich eine Hand voll Neuschnee und warf ihn gegen ein ganz bestimmtes Brett. Gespannt wartete sie auf eine Reaktion, nicht ganz sicher, ob sie erleichterter wäre, wenn er öffnete oder wenn er es nicht tat. Die Entscheidung wurde ihr dann recht schnell abgenommen. Entweder er hatte das Gehör deiner Fledermaus, oder er war noch wach gewesen, denn es dauerte nicht lange, bis Odwin durch die Hintertür zu ihr nach draussen schlüpfte.
«Gottseidank, dir geht es gut.» Seine Erleichterung wirkte ehrlich- Aileen lächelte. Im Gegensatz zu Juna hatte sie selbst nach den Ereignissen die Hoffnung in die Menschheit noch nicht ganz verloren, jedenfalls nicht die Hoffnung in ihn.
«Ich möchte mich verabschieden.» Sein Lächeln verblasste. «Ich weiss, was die Dorfbewohner getan haben war schrecklich, aber manche von ihnen haben ihren Fehler eingesehen. Du könntest hier bei uns bleiben.» Er selbst wirkte nicht so entschlossen wie seine Worte. «Es gibt nur einen Ort, an den ich hingehöre und ich bezweifle, dass du mich dorthin begleiten willst.» Selbst wenn sich sämtliche Dorfbewohner auf den Knien bei ihr entschuldigen würden, sie könnte es keinen Tag länger in dieser Siedlung aushalten.
«Das stimmt so nicht. Ich würde dich begleiten- vorausgesetzt, deine Freundin lässt mich.» Ein winziger Hoffnungsschimmer begann in ihr aufzukeimen. Konnte es wirklich sein, dass Odwin sie begleitete? Sie konnte ihre Gefühle ihm Gegenüber nicht ganz einschätzen. Sie liebte ihn nicht, aber er war zu einem guten Freund geworden. Wenn sie sich entscheiden musste, fiel ihre Wahl ohne Zögern auf Juna, doch wenn sie beide in ihrer Nähe haben könnte… «Sie will das ich glücklich bin. Also akzeptiert sie dich.» Er dachte offenbar ernsthaft darüber nach, doch seine schlussendliche Antwort war in seinem Gesicht abzulesen.
«Meine Mutter braucht mich. Vielleicht ändert sich das eines Tages und dann werde ich dich finden das verspreche ich dir.»
Sie seufzte. «Versprich nichts, was du nicht halten kannst.»
Der Morgen begann zu dämmern, als sie den Waldrand erreichte. Mit sich trug sie einen Leinenbeutel voller warmer Kleidung, den Odwin ihr mitgegeben hatte. Macey hatte sich die letzten Wochen offenbar richtig ins Zeug gelegt. Am Anfang würde Juna sicherlich nichts davon annehmen wollen, aber am Ende wäre sie dankbar dafür. Auch wenn sie vorerst ausser Lebensgefahr war, es dauerte bestimmt Monate, bis sie sich vollständig erholt hatte und etwas mehr Wärme konnte da nicht schaden.
Gespannt lauschte sie in die nächtliche Dunkelheit. Sie hatte ihren Kopf auf den Pfoten abgelegt und genoss das Rauschen der Blätter. Ein Kautz im Geäst über ihr begleitete die Melodie der Nacht. Das klang so viel angenehmer als die Rufe der Menschen.
Ihr Ohr zuckte, als sie etwas hinter sich vernahm. Kurz darauf legte Aileen neben sie und stupste sie mit ihrem Kopf an. Als sie nicht reagierte, biss sie ihr spielerisch in den Hals. Das konnte die ältere der beiden Wölfinnen nicht auf sich sitzen lassen und stürzte sich auf ihre Beute. Schmerz durchzuckte die mittlerweile geschlossene Wunde, dennoch übertölpelte sie ihre Angreiferin ohne Mühe. Sie ahnte, dass die junge Wölfin sie hatte gewinnen lassen. Ihr sollte es egal sein, Hauptsache, sie musste sich nicht vor so einem Jungspund geschlagen geben.
Später in derselben Nacht lagen sie Seite an Seite da, wodurch es für sie beide wärmer war. Nicht nur im körperlichen Sinne. Zu Beginn hatte Juna das Gefühl nicht ganz einschätzen können, doch nun war ihr das passende Wort in den Sinn gekommen. Geborgenheit. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich zuhause.