Schon beim Betreten der Wohnung schlug ihr der Geruch entgegen wie eine massive Wand, eine Mischung aus Alkohol und Tabak. Raffaela atmete durch den Mund, um weniger davon riechen zu müssen, stellte ihre Taschen an der kleinen Kommode aus dunklem Holz ab und setzte Fuß um Fuß voran durch den engen Hausgang in die kleine Küche hinein.
Wie nicht anders zu erwarten saß ihr Vater am Küchentisch, Zeitung lesend, in seiner rechten Hand eine Zigarette. Eine angebrochene Schnapsflasche thronte auf weiteren Zeitungen, ein Glas entdeckte sie nicht.
„Hallo Papa, ich bin wieder da vom Training“, begrüßte sie den kahlköpfigen, breiten Mann und berührte mit den Lippen kurz seine Glatze. Er sah nicht mal von seiner Zeitung auf, brummte nur kurz vor sich hin. Bevor Raffaela den Raum allerdings verlassen konnte, richtete er doch noch das Wort an sie. „Du gehst jetzt lernen und dann musst du den Abwasch noch machen, klar?“.
Sie drehte sich um und nickte fast schon mechanisch. „Klar, mache ich“.
Raffaela beeilte sich, in ihr Zimmer zu kommen, bevor ihrem Vater noch mehr Ideen kamen, wie beispielsweise ihr noch mehr Leid anzutun als er über die Jahre ohnehin schon getan hatte.
Als die Zimmertür ins Schloss fiel, atmete Raffaela erleichtert aus. Deutlich entspannter ging sie zu ihrem Schreibtisch, wo die Lernunterlagen von letzter Nacht noch verstreut waren. Bevor sie einen Blick auf die Unterlagen warf, blieb ihr Blick an dem kleinen, gerahmten Foto hängen. Es war, als würde Raffaela in den Spiegel schauen. Sie hatte die gleichen roten Locken, die gleiche schlanke Figur, die gleichen grünen Augen. Und doch war auf dem Bild ihre Mutter zu sehen, kurz vor ihrem Tod. Lachend trug sie die gerade mal dreijährige Raffaela auf dem Arm und bis heute konnte sich ihre Tochter nicht richtig erklären, wieso sie Halbwaise war. Ihrem Vater jedenfalls konnte sie kein Wort entlocken und wenn sie seine gewalttätigen Ausbrüche vermeiden wollte, mied sie das Thema am besten ganz, hatte sie mit dem Jahren gelernt.
Seufzend wandte sich Raffaela ihren Lernunterlagen zu, um sich von den Gedanken abzulenken. Medizinerlatein eignete sich dafür ganz hervorragend, zumal die Klausur nicht mehr allzu fern war. Sie hatte sich noch nicht richtig wieder hineingedacht, als es durchdringend an der Tür pochte. Sofort sah sie wieder von ihren Unterlagen auf, Gedanken rasten durch ihren Kopf. Hatte sie etwas vergessen? Gab es einen Grund zur Konfrontation?
„Raffaela!“, brüllte ihr Vater, „wir haben was vergessen!“.
Nervös zuckte sie zusammen, aber als ihr Vater wiederum mit der Faust gegen die Tür donnerte, stand sie auf. „Moment, ich mache auf, Sekunde“, beeilte sie sich zu sagen und schickte ein Stoßgebet, dass ihr Vater nicht gegen die Tür hauen möge, sobald sie öffnete.
„Handykontrolle“, blaffte er, sobald die Tür vollkommen offen war und streckte eine seiner Pranken aus. Raffaela unterdrückte ein genervtes Seufzen und ging zu ihrer Tasche im Gang, um das Handy herauszufischen. Wahrscheinlich hätte ihr jeder normale Mensch einen Vogel gezeigt, aber auch hier wollte sie Streit umgehen. Gehorsam reichte sie ihrem Vater das Handy und wartete, bis er seine Kontrolle beendet hatte, dabei entdeckt sie eine tiefe Falte, die sich auf seiner Stirn bildete. Normalerweise verhieß das nichts Gutes, aber ihr Vater wirkte im Kontrast dazu ungewohnt ruhig.
„Das ist gut, nur Anrufe von Shenia. Und wer ist diese Lucy? Von der weiß ich nichts. Ist das ein Deckname?“.
„Nein, Medizinkommilitionin“, beeilte sich Raffaela zu sagen und trat instinktiv einen Schritt zurück, um ihrem Vater nicht die Möglichkeit zu geben, sie zu packen. „Wir haben den Präparierkurs zusammen und wollen zusammen lernen.“
Das entsprach der vollen Wahrheit und sie konnte nur hoffen, dass ihr Vater das auch so sah. Heute schien er milde gestimmt. Er gab ihr das Handy mit einem zufriedenen Grunzen zurück und nickte.
„Gut, vergiss aber nicht dein Handballtraining wenn du so viel lernst. Du sollst in beidem gut sein, das weißt du“, mahnte er mit ernster Stimme
Ihr Vater umarmte sie ungelenk und Raffaela hielt die Luft an, um die Alkoholausdünstungen nicht riechen zu müssen. „Ich weiß, ich vernachlässige nichts. Nächste Woche ist Nationalmannschaftslehrgang, da werde ich wieder mehr dafür tun“, würgte sie hervor, als ihr Vater sie freigab. Er nickte zufrieden und schlurfte wieder in die Küche zurück. Kurz wog Raffaela ihre Abendplanung ab und entschied sich dann, den Abwasch jetzt zu machen, wo ihr Vater gute Laune hatte. Deshalb folgte sie ihm in die Küche und machte sich gleich an die ersten Teller.
„Wann sind denn deine nächsten Prüfungen?“, hörte sie ihren Vater unvermittelt fragen, während sie die Teller trocknete und wegräumte.
„In zwei Wochen, ein paar Tage nach dem Lehrgang habe ich eine Klausur und danach den Präparierkurs, dann ist erst mal wieder zwei Wochen nichts.“
‚Und wenn ich dieses Studium hinter mir habe bin ich heilfroh‘, fügte sie in Gedanken noch hinzu.
„Mh“, grunzte der Vater, „und wieso lernst du nicht gerade dafür? Hast wohl besseres zu tun, was?“.
Raffaela blinzelte verwirrt und hielt inne, das Trinkglas abzutrocknen. „Ich mache doch gerade den Abwasch, wie du mir aufgetragen hast“.
In dem Moment der Stille spürte sie, wie sich die Haltung ihres Vaters veränderte und sie war sich sicher, in seinen Augen zu weit gegangen zu sein. Er hatte den Blick von der Tischplatte gelöst und starrte sie mit missbilligend nach unten gezogenen Mundwinkeln an.
„Dein Ton gefällt mir nicht, Mädchen!“.
Mit zur Faust erhobenen Hand stand er auf und schlurfte hinter seiner Tochter her, die instinktiv rückwärts zu ihrem Zimmer schlich. Diese Faust hatte sie im Alkoholrausch ihres Vaters schon zu oft gespürt.
„Du lernst gefälligst, damit aus dir was wird, hast du mich verstanden! Sonst wird aus dir noch genauso ein nutzloses Miststück wie deine Mutter. Einfach weggestorben…“.
Raffaela blinzelte die Tränen aus den Augen, während sie den Weg zurück in ihr Zimmer suchte. Sie wusste aus Erfahrung, dass ihr nur eine geschlossene Tür helfen konnte, der Mischung aus Wut und Trauer ihres Vaters zu entgehen. Die eigene Trauer wurde verdrängt von dem Lamentieren ihres Vaters.
Den Rest blendete Raffaela aus, sie verschloss ihre Zimmertür, ließ sich auf ihr Bett fallen und drückte die Kissen über ihre Ohren. Durch den gedämpften Geräuschpegel war ihr erst durch einen tiefen Schluchzer bewusst, dass sie hemmungslos weinte. Wie so oft griff sie auf den Schreibtisch nach dem Bild ihrer Mutter, drückte es an ihre Brust und weinte. In ihr wechselten sich Erleichterung darüber, dass sie nicht geschlagen worden war mit der Trauer über den Tod ihrer Mutter ab. Sie fühlte sich von ihr im Stich gelassen und zu Unrecht beschuldigt, sie war doch nicht wirklich Schuld an ihrem Tod?
Bevor die Gefühle sie zu sehr beherrschen konnten, griff sie nach einer kleinen Medikamentenpackung auf ihrem Nachttischschränkchen und spülte die kleine Tablette mit dem Namen Faustan mit einem Schluck ihrer Wasserflasche hinunter. Für solche Fälle stand immer eine Wasserflasche neben ihrem Bett. Die beruhigende Wirkung würde binnen Minuten einsetzen und Raffaela helfen, sich wieder in den Griff zu kriegen. Bis dahin presste sie das Bild fest an ihre Brust, schloss ihre Augen und überließ ihre Gedanken dem Schmerz, den der Tod ihrer Mutter verursachte.
Langsam, aber dennoch stetig ebbte der Schmerz ab und zurück blieb eine wohlige Ruhe, wenn das Mittel einsetzte fühlte sich Raffaela immer ein bisschen wie in Watte gepackt. Ohne eine negative Gefühlsregung setzte sie sich zurück an ihren Schreibtisch und vertiefte sich in ihre Unterlagen, bis die Wirkung des Schlafmittels seine volle Kraft entfaltete. Vor Müdigkeit gähnend schob sie die Blätter zur Seite und streckte sich ein Mal ausgiebig, um ihre eingerosteten Muskeln zu dehnen. Das lange Sitzen über den Tag hatte die Beine taub gemacht und wäre sie jetzt nicht so müde, hätte sie noch überlegt joggen zu gehen. So aber stand sie auf und schlurfte zu ihrem Bett.
Bevor sie es sich im Bett zu gemütlich machte, griff sie nach ihrem Handy, das bei der Flucht auf das Nachttischschränkchen gewandert war, und rief die SMS auf, die sie bekommen hatte. Lucy hatte ihr geschrieben, wegen dem Treffen morgen. Aber nicht nur sie, sondern auch Jeff. Jeff, der Handball Kollege, den sie vor ein paar Jahren bei einem Physiotherapeuten kennengelernt hatte und der es irgendwie verstand, mit ihr zu reden, ohne ihre Ängste zu entfachen. Der Kontakt nach außen tat Raffaela gut. Das war das einzige, kleine Stück Rebellion, das sie sich ihrem Vater gegenüber erlaubte: den, wenn auch nur platonischen, Kontakt zu einem Mann. Es gab ihr das Gefühl, ihrem Vater nicht völlig verfallen zu sein und noch ein kleines Stück Selbstbestimmung in sich zu tragen.
Lächelnd stimmte sie einem erfragten Treffen bei ihrem Physiotherapeuten zu, das sie in zwei Wochen ausmachten. Hastig schickte sie auch noch eine Antwort an Lucy, bevor der Schlaf übermächtig wurde. Sie spürte noch im Halbschlaf, wie das Handy ihr aus den Fingern auf die Matratze glitt, dann war sie auch schon im Land der Träume versunken.