Nach einer Woche Trainingslager war die Reise noch nicht zu Ende, denn die Damenmannschaft fuhr zu einem Testspiel gegen Dänemark, das in Kassel stattfinden sollte.
Bis dahin hatte Raffaela die Begegnung mit dem jungen Mann verdrängt und bereits vergessen, als sie fröhliche Lieder singend im Bus nach Kassel fuhren. Sogar ihren Vater hatte sie ein wenig verdrängt, weil sie nun schon über eine Woche nur noch telefonischen Kontakt hatten. Raffaela merkte selbst, dass es ihr gut tat, aber sie verbat sich den Gedanken.
Shenia beugte sich zu ihr hinüber, sie saß neben ihr.
"Sag mal, wenn wir in Kassel sind, hast du Lust mit Jeff Eis essen zu gehen oder so? Wir haben bestimmt den Abend frei und niemand kriegt was mit. Ich sorge auch dafür. Was meinst du?", versuchte sie Raffaela aus der Reserve zu locken. Raffaela war nach der Begegnung mit dem Kerl etwas seltsam gewesen und Shenia hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sie wieder aufzumuntern.
Raffaela öffnete den Mund, um aus Reflex zu verneinen. Dann aber überlegte sie es sich anders. Ihr Vater war nicht hier und sich mit Jeff zu treffen hatte bisher immer irgendwie geklappt. Sie hatten sich lange nicht gesehen.
"Ja, das können wir machen, das mit meinem Vater kriegen wir irgendwie hin, oder? Hast du Jeff schon gefragt?".
Shenia schüttelte den Kopf.
"Ich wollte warten, bis ich dich gefragt habe. Ich frage ihn jetzt."
Dann wandte sie sich ab um auf ihrem Handy herumzutippen.
In Gedanken versunken starrte Raffaela aus dem Fenster. Die Bäume und Felder neben der Autobahn rasten vorbei und ebenso schnell taten es ihre Gedanken.
Es war Zufall, dass sich Raffaela und Jeff kennengelernt hatten. Beide waren beim selben externen Physiotherapeuten gewesen und hatten dann herausgefunden, dass beide denselben Beruf hatten: Handballprofi. Darüber waren sie ins Gespräch bekommen und auch wenn Raffaela vor Männern Angst hatte, hatte es Jeff mit seiner zurückhaltenden, vorsichtigen Art irgendwie geschafft, sich mit ihr anzufreunden.
"Ich habe Jeff bescheid gesagt, wir gehen heute Abend was Kleines trinken", informierte sie Shania nach einer Weile und beobachtete dabei genau Raffaelas Reaktion.
Sie meinte, wenigstens ein bisschen Freude in ihrem Gesichtsaudruck erkennen zu können und dafür hatte sich die Mühe schon gelohnt.
Sie hatten heute das Glück, auf der Autobahn nicht allzu viele Kilometer zurücklegen zu müssen. So waren sie schnell in Kassel angekommen und hatten schon am Nachmittag freie Zeit.
Jeff hatte für das Treffen aufgrund der Hitze eine Eisdiele vorgeschlagen, und so war der Treffpunkt mitten in der Kasseler Altstadt bei einer Eisdiele. Da ein Werktag war, war es jedoch nicht allzu voll in der Fußgängerzone.
Raffaela beschlich ein seltsames Gefühl, sie war nicht gerne unter Menschenmengen, aber glücklicherweise war das Café noch sehr leer, lediglich zwei Tische waren besetzt. An einem saß Jeff.
Der große, blonde Handballer mit dem hellen Taint stand auf, als er die biden Frauen sah, und winkte glücklich. Er freute sich auf Shenia, die er schon viele Jahre kannte, aber genau so auf Raffaela. Zwar wusste er nicht alle Details, aber er schätzte es sehr, dass sie ihn zu ihren Freunden zählte, nachdem sie eigentlich solche Probleme mit Männern hatte.
Die drei umarmten sich zur Begrüßung und tauschten Oberflächlichkeiten aus, bis sie von einer Bedienung nach ihrer Bestellunge gefragt wurden. Nachdem auch das erledigt war, lehnten sie sich zurück.
"Mädels, ich habe noch einen Freund aus der Mannschaft mit eingeladen, beziehungsweise er hat sich eingeladen, indem er gesagt hat, dass er auch vorbei kommt. Ist das okay für euch?".
Dabei schaute Jeff besonders aufs Raffaela.
Sie versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber ihr Lächeln war seltsam steif und ihre ganze Sitzhaltung verkrampfte sich.
"Wir kriegen das schon hin", meinte Shenia und klang dabei nicht sehr zuversichtlich. Insgeheim fragte sie sich, wieso Jeff das zugelassen hatte, wo er doch Raffaela kannte.
Sie wollte aber keinen Streit anfangen und so hoffte sie einfach, dass es aushaltbar für Raffaela wäre, wenn Jeffs Freund käme.
Raffaela wog währenddessen ab, wie unhöflich es wäre, einfach zu gehen. Neue Männer, die sie nicht kannte machten sie immer so nervös, dass sie ein Treffen lieber absagen würde.
Da sie aber gegen ihre Ängst kämpfen wollte und Jeff wirklich gerne sehen wollte, entschied sie sich dagegen und blieb sitzen.
Als sie dann aber den Kerl sah, der gerade im Begriff war, Jeff zu begrüßen, wurden ihre Hände feucht und ihr Herzschlaf beschleunigte sich um ein Vielfaches.
Hastig stand sie auf und schlängelte sich durch die Tische zur Damentoilette. Es fühlte sich an, als würde aus all ihren Poren der Angstschweiß quellen, den sie sich am Waschbecken abwusch.
Durch das Spiegelglas starrte sie mit angsterfüllten Augen zurück in ihr eigenes Gesicht. Hatten etwa alle davon gewusst und sie betrogen? Oder wollte das Schicksal ihr nur einen fiesen Streich spielen? MIt verkrampften Fingern klammerte sie sich an das Waschbecken und versuchte, ihren Atem zu beruhigen.
So viel Zufall konnte es doch einfach nicht geben, die anderen mussten etwas mit ihr vorhaben!
Ihre Gedanken wurden von dem penetraten Quietschen der Toilettentür unterbrochen und sie spürte, wie sich ein Arm um ihre Schultern legte. Shenia war zu ihr gekommen und musterte ihre Freundin besorgt.
"Hey sag mal, was ist denn los?", fragte sie und versuchte dabei, aus Raffaelas Gesichtsausdruck irgendetwas herauszulesen. Sie schien Angst zu haben, aber wovor genau? Shenia wusste, dass neue Männer nicht sehr angenehm waren für Raffaela, aber eine derart heftige Reaktion hatte sie noch nie gezeigt.
"Ist es wegen Jeffs Kumpel?", fragte sie vorsichtig.
Raffaela nickte nur steif, unfähig, nur ein Wort dazu zu sagen.
"Kennst du ihn etwa? Also ich meine, persönlich?".
Weil sie Shenia nicht enttäuschen wollte, schließlich kümmerte sie sich um sie, würgte sie ein paar Worte hervor.
"Wald... joggen... letzte Woche...".
Obwohl Shenia nicht verstand, wieso man dann Angst vor einem Mann haben konnte, entschied sie sich für Verständnis
"Okay. Meinst du, du kannst trotzdem mit raus kommen oder sollen wir gehen? Jeff hat schon ein bisschen komisch geschaut, als du einfach aufgespritzt bist. Ich glaube, das hat ihn ein bisschen verletzt, er dachte eigentlich, dass du dich mit Johannes ganz gut verstehen könntest."
"Wer ist Johannes?", fragte Raffaela, immer noch schwach.
"Na, sein Kumpel, der draußen sitzt. Johannes Sellin von der MT, kennst du den etwa nicht?".
Raffaela fiel es wie Schuppen von den Augen: Daher kam das Gefühl, ihn irgendwie zu kennen: Er spielte in der Handballbundesliga, sie waren also quasi Kollegen.
Sie haute sich mit der flachen Hand an die Stirn. "Oh je, und ich habe ihn nicht erkannt. Das ist schon ein bisschen peinlich."
Shenia grinste. "Verrat's Jeff nicht, aber die sind beste Freunde. Was meinst du jetzt, sollen wir nochmal rausgehen?".
Raffaela atmete ein Mal tief ein und aus und fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Mittlerweile war sie wieder ein wenig ruhiger und konnte ihrem Spiegelbild sogar ein leichtes Lächeln schenken.
"Hm. Ich muss ja nicht mit ihm reden, ich finde die Begegnung im Wald immer noch gruselig. Aber wir können uns dazu setzen. Ich will nur neben Jeff sitzen und du neben diesem da, okay?".
"Das ist kein Problem, das können wir machen. Gehen wir?".
Shenia bot Raffaela ihre Hand an und lächelte dazu. Innerlich seufzte sie auf, sie war froh, dass die Sache noch glimpflich ausgegangen war.
Raffaela ergriff ihre Hand und gemeinsam gingen die beiden Frauen wieder zurück zu Jeff und Johannes.
Während Johannes irritiert von Raffaelas Reaktion war, bemühten sich Jeff und Shenia darum, ganz normal weiter zu reden. Alle bestellten ein Eis und das Gespräch, an dem sich weder Johannes noch Raffaela beteiligten, plätscherte vor sich hin.
Johannes runzelte die Stirn und legte den Kopf schief. Das Mädchen kam ihm vage bekannt vor, aber er brauchte eine Weile, um sie wieder richtig einzuordnen.
Als er sie schließlich erkannte, fragte er sich, womit er sie dermaßen erschreckt haben konnte, dass sie vor ihm weglief. Sie gab ihm Rätsel auf und er nahm sich fest vor, zumindest Jeff nach dem Treffen ein wenig damit auf die Nerven zu gehen, denn er war neugierig.
Raffaela hingegen war froh, dass Shenia und Jeff sich um Normalität bemühten. Schließich kam sie aus ihrer Grüblerei heraus und hörte Jeff und Shenia wenigstens eine Weile zu, auch wenn sie sich immer noch nicht beteiligte.
Nachdem das Eis leer gegessen war, schwang die Stimmung in ein erzwungenes Gespräch um, da Jeff und Shenia langsam die Gesprächsthemen fehlten.
"Lasst uns gehen", seufzte Shenia irgendwann und schien damit einen magischen Bann zu lösen, denn von allen vieren fiel eine große Anspannung ab. Sie zahlten und schlängelten sich der Reihe nach aus dem kleinen Eiscafé. Jeff nahm Raffaela kurz zur Seite.
"Es tut mir leid, dass es dich so gestresst hat heute, das habe ich nicht gewollt", entschuldigte er sich mit zerknirschter Miene.
"Ich weiß, dass du mir nichts Böses willst", antwortete Raffaela, selbst mit zittriger Stimme noch. "Du wusstest ja nicht, dass ich ihn letzte Woche gesehen habe. Ich bin nicht böse."
Jeff lächelte erleichtert.
"Das ist gut. Sehen wir uns bald wieder? Gerne alleine, jetzt bringe ich Johannes nicht mehr mit, jetzt weiß ich es besser."
"Ich weiß nicht genau wann, ich hab jetzt Prüfungen in Medizin, ich muss mal schauen. Aber alleine eigentlich gerne."
Zum Abschied drückte er kurz ihre Hand, dann ging Raffaela zur bereits wartenden Shenia, während Jeff zu Johannes ging.
"So mein Freund, jetzt bin ich aber sehr neugierig, was du mir über Raffaela zu erzählen hast", forderte Johannes mit verschränkten Armen.
"Vergiss es. Es ist unkomplizierter, wenn ihr euch nicht kennt", wiegelte Jeff ab, dann verabschiedete er sich, ging ebenfalls und ließ einen bedröppelten Johannes zurück.