Johannes atmete ein mal tief durch und legte die Stirn auf das Lenkrad. Er hatte diese Aktion so oft überdacht, dass er bis spät in die Nacht herumgesessen hatte. Außerdem hatte er nicht gut geschlafen und jetzt, wo er bei Raffaelas Zuhause um die Ecke parkte, war er sich auch gar nicht mehr so sicher, ob er das alles wirklich durchziehen sollte. Aber jetzt zu kneifen wäre feige gewesen, gerade nachdem er gestern so große Töne gespuckt hatte.
Nach einem tiefen Seufzer öffnete er die Autotür und schlenderte möglichst unauffällig um die Ecke. Die Hausnummer hatte er schnell ausfindig gemacht. Die beste Gegend war es hier nicht, voll mit Plattenbauten, die nie saniert worden waren und deshalb heruntergekommen wirkten. Der Abendwind ließ wenigstens die Temperaturen angenehm werden.
Gegenüber des Wohnblocks waren ein paar Büsche gepflanzt und als Johannes diese näher begutachtete, stellte er fest, dass sie einen Kinderspielplatz säumten. Das würde für seinen Plan kein schlechtes Versteck abgeben, entschied er und stieg über die ersten Dornen hinweg.
Seine Sicht auf die Hausblöcke war zwar ebenfalls beschränkt, aber auch Johannes war zwischen dem Gestrüpp nicht mehr allzu einfach auszumachen, das war sein Ziel. Die Hände zitterten ein wenig, als er sein Handy hervorholte und auf Raffaelas Nummer tippte, um ihr eine Nachricht zu schreiben. Die Angst packte ihn wieder und es war für ihn nicht einfach, mit zittrigen Fingern die Nachricht zu verfassen. Er hoffte nur, dass Raffaela reagieren würde, bevor er seine Drohung bei ihr zu klingeln wahr machen musste.
Es dauerte auch nicht lange, da vibirerte sein Handy und kündigte einen Anruf von Raffaela an.
"Hey", flüsterte Johannes mit rauer Stimme.
"Spinnst du?", fauchte Raffaela aufgekratzt, "Wehe du klingelst, dann sind wir beide tot, das ist dir hoffentlich klar?! Was willst du überhaupt, wieso soll ich zu dir runterkommen?".
"Ich will dir helfen! Jeff hat mir ein paar Dinge über dich erzählt und ich kann dich einfach nicht bei deinem Vater lassen", antwortete Johannes nun schon bestimmter, erntete aber nur ein trockenes Lachen.
"Was hat er denn erzählt? Mir kann keiner helfen, vielen Dank für deine Mühe. Fährst du jetzt wieder nach Hause?".
Ihre Sturheit hatte Johannes' Kampfgeist geweckt.
"Nein, das werde ich nicht. Wenn du nicht kommst, werde ich klingeln, das habe ich dir geschrieben und das ziehe ich auch durch. Ich gehe da nicht ohne dich weg."
"Vergiss es, mit dir gehe ich ganz bestimmt nicht, wieso sollte ich? Ich kenne dich kaum", giftete Raffaela zurück. Sie war schon im Begriff aufzulegen, da hörte sie es im Hörer rascheln.
"Was machst du da?".
"Ich gehe aus dem Gebüsch. Dann klingele ich halt. Ich hoffe, dann kommst du wenigstens runter", gab Johannes die trockene Antwort.
"Du kennst aber meinen Nachnamen gar nicht", versuchte Raffaela einen zögerlichen Einwurf.
"Doch kenne ich, Frau Ludwig. Letzte Chance, kommst du runter oder nicht? Meine Hand schwebt schon über dem Klingelknopf".
Raffaela lief der kalte Angstschweiß den Nacken hinunter. Sie konnte Johannes überhaupt nicht einschätzen, also wusste sie nicht, wie ernst sie seine Drohung nehmen musste. Eigentlich wollte sie ihn nicht sehen, aber bevor er tatsächlich klingelte, war es die einfacherere Lösung, kurz mit ihm zu sprechen.
"Halt warte! Ich komme runter. Wo bist du? Mein Vater darf uns nicht sehen. Er schläft gerade, aber das ist keine Garantie."
Lächelnd wandte sich Johannes wieder den Büschen zu. "In den Büschen vor deinem Haus. Da sieht man uns kaum, ich habe es vorhin ausprobiert. Bis gleich."
Er legte auf und kämpfte sich wieder in das Gestrüpp zurück, noch überrascht davon, dass er tatsächlich Erfolg gehabt hatte. Zumindest hoffte er, dass Raffaela nicht gerade geblufft hatte und tatsächlich nach draußen kam.
Die Augen fest auf den Hauseingang gerichtet duckte sich Johannes noch ein wenig tiefer in das Gebüsch.
Schließlich öffnete sich die Tür und eine zierliche Gestalt in weiten Klamotten trat hinaus. Sie besah sich ihre Umgebung genau, dann eilte sie über die Straße und stieg über die ersten Büsche.
"Ich bin hier", raunte Johannes halblaut und Raffaela drehte sich nach rechts. Immer noch wusste sie nicht, was genau sie ihm sagen sollte, aber alles war besser als ihren Vater zu reizen. Sie stieg über ein paar kniehohe Büsche, bis sie schließlich vor Johannes stand. Der Größenunterschied war gar nicht so groß, wie sie es in Erinnerung hatte.
"Und, was ist jetzt? Jetzt bin ich da gewesen, kann ich wieder gehen?", gab sie patziger als gewollt zurück.
"Nein, verdammt. Ich gehe erst, wenn du mit mir kommst. Du kannst doch da nicht bleiben! Dein Vater macht dich krank, wie kannst du da nicht gehen wollen?".
Die sonst antrainierte Wut wich einer Traurigkeit und Raffaela schlang beschützend die Arme um ihren Körper. Sie musste an ihre Mutte denken.
"Ich habe doch nur noch ihn", flüsterte sie leise.
Überrascht von der Verletzlichkeit versagte Johannes ein Moment lang die Stimme.
"Das ist furchtbar, okay, aber noch kein Grund, dich zu schlagen oder ähnliches mit dir zu machen. Dazu hat niemand ein Recht. Und Leuten, die das mit dir machen, musst du aus dem Weg gehen."
Seine Blicke waren schon fast zärtlich und bohrten sich tief in das Bewusstsein von Raffaela. Sie vertraute Männern nicht, aber diese Worte waren so wunderschön, er konnte doch gar nicht lügen. Unsicher musterte sie Johannes. Waren seine Worte ehrlich?
Als er seine Hand ausstreckte, um sie zu berühren, zuckte sie trotzdem zurück.
"Ich will dir nicht wehtun, überhaupt nicht. Ich will dir nur helfen, das musst du mir glauben."
"Warum willst du mir helfen?", flüsterte Raffaela , dabei lief ihr eine Träne über die Wange. Sie hatte noch nie erlebt, dass jemand ihr so hartnäckig helfen wollte und Johannes war kurz davor, ihren Widerstand zu brechen.
"Weil keine Frau auf der Welt es verdient hat, so behandelt zu werden, wirklich keine. Und wenn ich auch nur einer Frau helfen kann, da raus zu kommen, dann mache ich es, ganz egal wie."
Vorsichtig schob Johannes ihr die Kapuze von den Haaren und erschrak, als er ein blaues Auge erblickte. Das bestärkte ihn allerdings nur in seinem Vorhaben.
Raschelndes Gebüsch ließ die beiden aufschrecken und Raffaela konnte sich gerade noch herumdrehen, bevor sie an den Haaren gerissen wurde.
Ein stechender Schmerz brannte ihr durch den Kopf und sie konnte dank des Tränenschleiers nur an der Stimme erkennen, wer der Übeltäter war.
"Was machst du denn hier im Gebüsch du kleines Miststück? Hast gedacht, dein Vater kriegt das nicht mit, dass du mit Männern vögelst, mh? Dich werde ich prügeln bis dir hören und sehen vergeht, vielleicht kapierst du es dann."
Raffaelas Vater stank entsetzlich nach Alkohol und sie musste sich beherrschen, davon nicht zu würgen, denn selbst ihre Schmerzen vertrieben den Gestank nicht ganz.
Johannes hatte einen Moment gebraucht, um die Situation zu erfassen, aber jetzt machte er einen Schritt nach vorne und straffte die Schultern.
"Lassen Sie ihre Tochter los, sie tun ihr weh!"
Erst als sich ihr Vater ihm ganz zuwandte, erkannte Johannes, wie breit sein Kreuz wirklich war und allmählich konnte er verstehen, wieso jeder Angst vor Raffaelas Vater hatte. Seine Statur war sehr stattlich und sein Auftreten ließ ihn nicht weniger bedrohlich wirken.
"Was willst du denn von mir?", lallte er und riss dabei Raffaela so fest an den Haaren, dass ihr ein Aufschrei entfuhr.
"Lassen Sie Raffaela los, sie will das nicht", verlangte Johannes bestimmter, aber er wurde nur ausgelacht.
"Aha, das weißt du", meinte ihr Vater und riss an ihren Haaren. "Was meinst du, Mädchen, willst du das oder willst du das nicht? Wage es nicht, das Falsche zu sagen."
So gut es ging, nickte Raffaela. "Ich komme mit dir", versprach sie unter Tränen, "aber bitte lass mich los, es tut so weh."
Er ließ sie los und Raffaela plumpste auf den Boden. Sie betastete sich ihre schmerzende Kopfhaut und stand dann mit hängendem Kopf auf, um wieder zurück in die Wohnung zu gehen.
Ihr Vater schubste sie selbstzufrieden vor sich her, aber er widerstand dem Drang, sich noch einmal zu diesem Mistkerl umzudrehen und triumphierend zu grinsen.
Mit vor Erstaunen geöffnetem Mund hatte Johannes der Szene zugesehen, und er fühlte sich, als wäre er in einem schlechten Hollywoodstreifen gelandet. Er konnte nicht begreifen, dass Raffaela sich so leicht klein kriegen ließ. Fest stand, dass er ihr helfen musste, aber ihr Vater war so betrunken, dass er unberechenbar war.
Einem Instinkt folgend hechtete er aus dem Gebüsch und trat ihm mit so viel Wucht wie nur möglich zwischen die Beine, in der Hoffnung, dass es helfen würde. Raffaelas Vater ließ sie los und klappte zusammen, die Hände fluchend im Schritt versenkt.
Johannes reichte Raffaela die Hand.
"Komm, solange du noch gehen kannst", forderte er sie auf, aber Raffaela starrte wie versteinert auf ihren Vater.
"Ich kann ihn doch nicht alleine lassen, vor allem nicht so", stotterte sie geistesabwesend.
"Natürlich kannst du, du musst! Von mir aus rufen wir einen Krankenwagen, aber du musst hier raus, bitte!".
Immer noch unsicher, was sie tun sollte, beugte sich Raffaela zu ihrem Vater, um ihn genauer zu betrachten.
"Wenn ich dich kriege, bringe ich dich um, verlass dich drauf!", fauchte er gut hörbar.
Ohne nachzudenken nahm Johannes Raffaela an der Hand und zog sie aus der Reichweite ihres Vaters.
"Wir rufen einen Krankenwagen aber bitte komm. Bitte."
Raffaela warf noch einen unsicheren Blick zu ihrem Vater, dan holte sie ihr Handy hervor und wählte die Notfallnummer.
"Was machen wir jetzt?", fragte sie dann, immer noch unter Schock stehend.
"Wenn du willst, kannst du bei mir auf dem Sofa schlafen heute Nacht, wir finden sowieso nichts mehr, es ist schon spät", meinte Johannes mit einem Blick auf seine Handyuhr, "und morgen suchen wir mal nach einer Lösung?".
Das Angebot war einfach zu verlockend, aber dennoch plagten Raffaela noch Zweifel.
"Was ist wenn mein Vater dich findet? Und mich?".
"Uns fällt bestimmt eine Lösung ein wie er dich nicht findet, und ob er mich findet ist erst mal egal. Kommst du?".
Johannes reichte ihr wieder seine Hand und dieses Mal griff Raffaela zu. Noch war es zögerlich, aber selbst das wertete Johannes als Triumph.
In seinem Auto sitzend schickte er ein Dankgebet nach oben, weil alles gut gegangen war und gleichzeitig hoffte er, dass es so weitergehen würde.