Es war dunkel, als Johannes aufwachte. Da er eigentlich immer durchschlafen konnte, runzelte er verwirrt die Stirn und warf einen Blick auf seinen Tischwecker. Um halb vier Morgens war er noch nie aufgewacht, höchstens ins Bett gegangen. Er setzte sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht, um die Müdigkeit zu vertreiben und klarer denken zu können. Langsam kam die Erinnerung an den letzten Abend zurück.
Aus seinem Wohnzimmer hörte er Geräusche und im ersten Moment erschreckte er darüber. Dann fiel ihm allerdings der gestrige Tag wieder komplett ein. Raffaela hatte er sein Sofa angeboten, nachdem es gestern pt geworden war und er auch nicht mehr wusste, wo er sie um die Uhrzeit noch hinbringen konnte.
Es musste also Raffaela sein, die in seinem Wohnzimmer umherwanderte. Er quälte sich aus dem Bett und öffnete die Schlafzimmertür leise, denn er wollte ihr helfen, was auch immer ihr Problem war. Im Wohnzimmer lief Raffaela umher, sie wirkte ruhelos und gequält.
"Guten Morgen. Ist alles okay?", versuchte sich Johannes bemerkbar zu machen, ohne sie zu erschrecken.
Raffaela zuckte dennoch kurz zusammen, auch die Erschöpfung tat ihr übriges, sie bemerkte nicht, dass Johannes ins Zimmer gekommen war. Sie wandte sich ihm zu und schützte ihren Körper sofort mit ihren Armen. Es war ihr immer noch unangenehm, mit einem Mann im selben Raum zu sein, auch wenn Johannes immer freundlich zu ihr gewesen war.
"Oh, hallo. Naja, ich kann nicht schlafen", erklärte sie mit einem unsicheren Zittern in der Stimme. Er bemerkte das Zittern und fragte sich nicht zum ersten Mal in dieser Nacht, ob er sich nicht vielleicht zu viel aufgebürdet hatte. Raffaela ging es sehr schlecht und sie brauchte mehr als nur seine Hilfe. Trotzdem wollte er versuchen, sein Bestes zu geben.
"Das merke ich. Kann ich dir irgendwie helfen?".
"Nein, ich habe einfach meine Schlaftabletten nicht dabei. Außer natürlich du hast welche da mit denen ich es vielleicht probieren kann", schüttelte Raffaela den Kopf.
Johannes hob die Augenbrauen. Ohne Schlaftabletten nicht schlafen zu können hielt er für nicht besonders gesund. Da er sie aber nicht belehren wollte, sagte er nichts weiter dazu, sondern überlegte, was er stattdessen tun könnte.
"Nein, ich habe leider überhaupt keine da. Gibt es denn sonst nichts, wie ich dir helfen kann? Hilft reden vielleicht?".
Scheu richtete Raffaela ihren Blick zu Boden. Bisher hatte sie mit Jeff nur oberflächlich über ihre Probleme geredet, aber sie fühlte sich, als wäre sie Johannes mehr schuldig als nur oberflächliche Informationen. Ob sie dazu schon bereit war, wusste sie allerdings nicht so recht. "Ich weiß nicht ob reden hilft, mit mir hat noch nie jemand so geredet, also darüber. Meinst du, das es hilft?".
"Also mir hilft es, zu reden, wenn es mir nicht gut geht. Aber ich habe nie so krasse Sachen erlebt wie du. Ich würde mir für dich wünschen, dass es hilft", antwortete Johannes, dann setzte er sich auf sein großes Ledersofa und wies einladend auf die andere Seite. Zögerlich setzte sich Raffaela dazu und Johannes bemerkte erfreut, dass sie wenigstens nicht den maximalen Abstand einhielt, den sie hätte einhalten können.
"Über was denkst du denn gerade am meisten nach?", eröffnete Johannes das Gespräch in der Hoffnung, sie nicht gleich verstört zu haben. Eine andere Frage irgendwie unverfänglicher zu stellen schien ihm allerdings absurd.
"Ich weiß gar nicht, wie es weitergehen soll", meinte Raffaela nach einigem Zögern, "ich meine, ich weiß nicht, wo ich hin soll, wie es weitergehen soll, was ich als nächstes machen soll. Ich habe das Gefühl, ich weiß gar nichts und ich stehe vor dem Nichts jetzt ohne meinen Vater."
Der Gedanke an ihren Vater ließ sie gleichzeitig erschaudern und ihr stiegen Tränen in die Augen bei dem Gedanken, wie schlecht es ihm jetzt gehen musste. Sie konnte sich immer noch nicht entscheiden, ob sie ihn lieben oder hassen sollte für das, was er ihr über die Jahre angetan hatte. Aber er war schließlich ihr Vater.
"Ich verstehe dich. Hast du denn noch Verwandte zu denen du gehen kannst? Vielleicht einen Onkel oder eine Tante?".
Raffaelas Haltung veränderte sich schlagartig, sie wirkte, als würde sie versteinern. Schützend hatte sie die Arme um sich gelegt und starrte Johannes aus ängstlichen Augen an. Natürlich konnte es Johannes nicht wissen, aber der Vorschlag war das schlimmste, was er hätte Raffaela antun können. Johannes hingegen zermartete sich den Kopf darüber, wieso sie so reagierte, und während er über einzelne Punkte nachdachte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
"Dein Onkel... hat er dich angefasst?", fragte er vorsichtig.
Der Blick, den Raffaela ihm zuwarf, ließ ihn bis ins Mark erschaudern. Sie versteifte sich noch mehr und Johannes wünschte sich, in einem tiefen Loch zu verschwinden, nachdem er sie darauf ansprechen musste.
"Okay, dann vergiss meinen Vorschlag", murmelte Johannes, er musste die neue Information immer noch verarbeiten. Ihm war weder begreiflich wie man seiner Tochter soetwas antun konnte noch wie soetwas ein einzelner Mensch aushalten konnte. Und er wusste nicht, wie er jetzt am Besten mit ihr umgehen sollte. Gleichzeitig wurde ihm aber auch klar, wieso Raffaela Männer nicht besonders mochte. Ihm wäre es in der Situation vermutlich nicht anders gegangen.
"Vielleicht könntest du in ein Wohnheim oder so? Ich weiß nicht aber ich denke mal dass die Caritas oder so dir bestimmt helfen kann", schlug er schließlich vor. Er hoffte, Raffaela noch nicht zu sehr verängstigt zu haben. SIe saß einfach nur da, stumm und bewegungslos und zeigte kein Anzeichen dafür, dass sie ihn gehört hatte.
Erst tat Raffaela lange nichts, dann ruckte sie mit dem Kopf, unschlüssig, ob sie an diese Hilfe glauben sollte. So oft hatte man ihr schon Hilfe versprochen und sie hatte keine bekommen, wieso sollte es heute anders sein? Ihr Vater und ihr Onkel hatten ihr ständig Dinge versprochen, aber was hatten sie davon eingelöst? Nichts. Nur Leid und Schmerzen hatten sie ihr gebracht.
Andererseits war Johannes bisher wirklich nett gewesen und hatte sie nicht enttäuscht, im Gegenteil. Er war hartnäckig genug geblieben, um sie zu sich zu holen. Unsicher warf Raffaela einen Blick zu ihm. Ihr Verstand sagte ihr, dass die Idee mit der Caritas gar nicht schlecht war, aber ihr Herz warnte sie davor, denn woher sollte sie wissen, dass er sie auch wirklich dort hin brachte und nirgendwo anders?
Johannes fluchte leise. Er konnte immer noch nicht glauben, dass man soetwas seiner eigenen Tochter antun konnte. Ihre ganze Gestik und Mimik wirkte seit dem Geständnis so unsicher, dass er ihr diese Erfahrung am liebsten genommen hätte. Aber das festigte ihn in der Meinung, dass sie professionelle Hilfe dringend brauchte.
"Was meinst du zur Caritas? Oder eine andere Organisation mit professioneller Hilfe, da gibt es ja sicher noch mehr", fragte er noch einmal nach.
"Ich weiß nicht, aber ich denke, vermutlich ist es das Beste", antwortete Raffaela schließlich leise.
Johannes kam plötzlich ein Gedanke, von dem er sich fragte, wieso er ihn erst jetzt hatte. "Ich kann dich gerne begleiten, wenn du willst, aber ich kann auch Shenia irgendwie erreichen oder du gehst alleine, wenn du keinen Mann bei dir haben willst. Das kannst du ganz alleine entscheiden, ich denke, du hast von Männern wohl erst mal genug", bot er an.
Tatsächlich schlich sich bei der Aussage sogar ein kleines Lächeln auf Raffaelas Lippen. Diese Rücksichtnahme war sie nicht gewohnt und sie fühlte sich gut damit.
"Das ist eine gute Idee. Vielleicht versuche ich nochmal drüber zu schlafen und entscheide mich dann", sagte sie mit festerer Stimme. Das Angebot war für sie der Beweis, den sie gebraucht hatte, um Johannes zu vertrauen.
Sie dachte schon darüber nach, sich zu entscheiden, aber ihre Müdigkeit war mittlerweile weit fortgeschritten und lähmten ihre Gedanken. Auch ihre Augen waren nach so langer Zeit schwer und wollten von selbst zufallen, Raffaela hatte Mühe, dagegen anzukämpfen. Je mehr sie versuchte, sich für eine von den Möglichkeiten zu entscheiden und alles gegeneinander abzuwägen, desto bleierner wurden ihre Gedanken. Schließlich gähnte sie hinter vorgehaltener Hand und gab ihr Vorhaben auf. Sie war zu müde, um sich jetzt zu entscheiden.
"Meinst du, du kannst noch ein wenig schlafen?", unterbrach Johannes ihre Gedanken, "denn ich bin noch müde. Aber wenn du willst, können wir gemeinsam nach einem neuen Platz für dich suchen, wenn ich nachher aufgewacht bin. Auf jeden Fall darfst du gerne so lange auf meinem Sofa schlafen, bis du etwas gefunden hast. Und vielleicht weißt du ja nach deinem Schlaf auch schon, wer dich begleiten kann. Ich sehe schon, dass du müde bist."
Er grinste und Raffaela erwiderte sein Grinsen.
"Okay, du hast Recht. Ich bin mittlerweile wirklich müde. Wir machen es so, wie du vorgeschlagen hast", meinte sie dann.
Johannes stand vom Sofa auf und streckte sich.
"Das ist gut, ich bin mittlerweile nämlich auch wieder ziemlich müde. Dann schlaf gut und wir sprechen dann nach dem Schlafen weiter."
Gähnend tapste er in Richtung seines Schlafzimmers, drehte sich dann aber noch einmal um, weil er meinte, Raffaelas Stimme gehört zu haben.
Sie hatte sich bereits wieder unter die Decke gesetzt.
"Danke, Johannes", hörte er leise und er lächelte.
"Kein Problem. Gute Nacht."