Es war gerade erst richtig hell geworden, als Raffaela schließlich das Gebäude der Caritas gefunden hatte. Zu Fuß durch Kassel zu laufen war langwierig, denn Johannes' Wohnung lag am anderen Ende der Stadt. Deshalb schmerzten ihre Füße ein wenig, als sie endlich vor dem Gebäude stehen blieb. Das Wohngebäude sah trotz heller Fassade für sie wenig einladend aus. Man hatte sie aber an diese Adresse verwiesen, deshalb atmete sie zur Beruhigung ein Mal tief durch, dann drückte sie die Klingel rechts neben der Tür.
Sie musste nicht lange warten. Eine zierliche Frau mit kurz geschnittenen, blonden Haaren öffnete ihr die Tür. "Was kann ich für dich tun?", fragte sie.
Raffaela schluckte schwer. Sie brachte kein Wort über die Lippen, der gestrige Tag ging ihr noch viel zu nahe.
"Komm erst mal rein, du kannst einen Kaffee trinken und dann erzählen, einverstanden?".
Scheu nickte Raffaela und ließ sich in das Haus bitten. Der weiß gestrichene Hausgang war mit abstrakten Bildern dekoriert. Die hellen Farben der Bilder sorgten für eine angenehme Atmosphäre und Raffaelas Anspannung begann, sich zu lösen.
"Was möchtest du trinken? Wir haben alles da, auch Kaffee ist schon gekocht", bot ihr die Frau an.
"Vielleicht einen Tee", nuschelte Raffaela.
"Ist Früchtetee für dich in Ordnung? Dann koche ich schnell Wasser."
Raffaela nickte kurz, dann wurde sie in die Küche geleitet.
Obwohl die Küche ein wenig vollgestopft aussah, versprühte sie irgendwie einen gemütlichen Charme. Raffaela setzte sich an den Küchentisch, während die Frau den Wasserkocher bediente und Tassen und Teebeutel aus Schränken holte.
Während das Wasser begann zu kochen, nahm die Frau gegenüber von Raffaela Platz.
"So, entschuldige bitte, dass du kurz alleine warst. Ich heiße Tanja, und wer bist du?".
"Raffaela", murmelte sie leise und starrte auf die Tischplatte, um Tanja nicht in die Augen sehen zu müssen.
"Ein schöner Name", lächelte Tanja, "und Raffaela, woher kommst du? Was machst du so? Gehst du noch zur Schule?".
"Nein, ich studiere schon, Medizin, hier. Und ich spiele Handball in der Nationalmannschaft."
"Wow, das ist ja wirklich beeindruckend, da hast du ja schon eine Menge geschafft. Aber ich denke, deshalb bist du nicht hier, stimmts? Möchtest du schon erzählen oder dich erst einmal ausruhen? Wir haben ein Zimmer frei, da könntest du mal zur Ruhe kommen wenn du magst."
Raffaela wog kurz die Möglichkeiten ab, aber nach der positiven Erfahrung gestern wollte sie ihre Geschichte erzählen. Sie hatte gemerkt, wie gut es ihr getan hatte, sich alles von der Seele zu reden.
"Ich bin hier wegen meinem Vater", begann sie noch zögernd, "ich meine, er war nicht nett zu mir und, naja, deshalb bin ich gegangen. Und da ist da noch so ein Junge, Johannes, er hat mir geholfen und ich habe bei ihm geschlafen und jetzt bin ich eben hier und ich weiß nicht, was dann noch kommt, das ist so viel...".
Tanja stellte ihr den Tee hin, dann nahm sie sich einen Block und Kugelschreiber.
"Okay Raffaela, das klingt ziemlich hart. Jetzt erzähl das mit deinem Vater nochmal, wenn du das schaffst. Was macht er?".
Unbewusst griff sich Raffaela an die Stelle am Hals, die blaue Flecken davongetragen hatten.
"Er... naja, er trinkt viel und dann wird er schnell sauer und dann... naja, dann...".
"Okay, du musst es nicht sagen, ich kann es mir schon denken", beruhigte sie Tanja und beendete ihre Notiz.
"Gut, und du hast noch was erzählt von einem Jungen, irgendwie etwas mit J... Johannes, oder? ja genau, was hat es mit dem auf sich?".
Beim Gedanken an Johannes schlich sich ein kleines Lächeln auf Raffaelas Gesicht, gleichzeitig aber auch das schlechte Gewissen, weil sie ihn alleine gelassen hatte.
"Johannes hat mir geholfen, er hat auch vorgeschlagen, hier her zu gehen, also er ist nett und ohne ihn wäre ich da vielleicht noch gar nicht raus und naja...".
Schmunzelnd notierte sich Tanja ihre Worte. "Gut, das ist ja schon mal eine Menge. Darf ich dich noch fragen, ob du irgendwelche Erkrankungen hast? Hat ein Arzt schon mal etwas bei dir diagnostiziert?".
Raffaela schüttelte den Kopf. Vielleicht war es gar nicht gut, zu sagen, dass sie sich die Medikamente über Medizinkomilitonen besorgte.
"Gut. Hast du Hunger? Dann könnte ich schauen, ob noch etwas zu Essen da ist vom Frühstück."
Wieder schüttelte Raffaela den Kopf.
"Okay. Dann würde ich sagen, ich zeige dir dein Zimmer und du kannst ma lin Ruhe ankommen. Wenn etwas ist, bin ich hier in der Küche, du kannst jederzeit kommen."
Sie erhoben sich vom Tisch, Raffaela hatte ihren Tee nicht angefasst, und Tanja führte sie in das Obergeschoss, wo mehrere Zimmer nebeneinander lagen, teilweise mit bunten Buchstaben, die Namen formten, alle weiblich.
Vor einem Zimmer ohne Namen blieb Tanja schließlich stehen und öffnete die Tür. Das ZImmer war karg, besaß nur ein Bett, einen Schreibtisch mit Stuhl und einen Kleiderschrank, aber es war alles frisch bezogen.
"Hier kannst du dich erst mal ausruhen und einrichten, was du mitgebracht hast. Ich kann dich zum Mittagessen abholen und würde dich dann dort vorstellen, wenn das für dich in Ordnung ist?".
Raffaela zuckte mit den Schultern, noch ein wenig überwältigt von dem Einzelzimmer. Sie machte ein paar Schritte hinein.
Tanja schmunzelte. Sie schien bei dem Mädchen schon jetzt einen Nerv getroffen zu haben und das war immer eine gute Ausgangsbasis für ihre Arbeit.
"Raffaela, du kannst so lange hier bleiben, wie du möchtest. Nur musst du das, was du mir erzählt hast, wohl auch nochmal anderen Leuten erzählen, heute Abend oder morgen früh. Ich muss selbst noch fragen, wann sie Zeit haben, aber ich sage dir dann bescheid. Das kann ich dir leider auch nicht ersparen, das muss dir bewusst sein, ja?".
Wiederum nickte Raffaela. Sie setzte sich auf das Bett. Die Bettwäsche fühlte sich frisch an und die Decke war weich und kuschelig.
"Dann herzlich willkommen bei uns", grinste Tanja, "und nochmal: Wenn irgendetwas ist, wenn du doch Hunger bekommst oder noch Durst hast oder sonst irgendetwas, dann komm einfach runter in die Teeküche. Ich bleibe die ganze Zeit dort unten und du kannst immer zu mir kommen."
Raffaela lächelte ihr scheu zu und Tanja erwiderte das Lächeln.
"Bis später dann", meinte sie noch, dann schloss sie leise die Tür und Raffaela war wieder alleine.
Im ersten Moment wusste sie nicht, ob sie traurig sein sollte oder es genießen sollte, endlich frei zu sein. Schließlich war sie zwar alleine, aber auch vor ihrem Vater geschützt, vorläufig jedenfalls. Die Einsamkeit konnte sie nur schwer ertragen, sie vermisste vor allem Johannes jetzt schon. Sie war unschlüssig, ob sie sich bei jemandem melden sollte, vermutlich würde sie ja länger hier bleiben und ihre Freunde sollten wissen, wo sie war.. Andererseits wusste sie ja bis jetzt noch gar nicht, was auf sie zu kam, ob sie wirklich länger bleiben würde oder nur ein paar Tage hier übernachten durfte, nachdem sie alles erzählt hatte. Tanja hatte sehr nett gewirkt und das war auch der Grund, wieso sie ihr einiges erzählt hatte, sie vertraute ihr. Raffaela hoffte, dass alle in diesem Haus so waren, dann würde es ihr leicht fallen, sich zu erholen.
Sie zog die Schuhe aus, legte sich auf das Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Das Bett war wirklich bequem, sie sank förmlich in die weichen Kissen ein. Die Augen geschlossen überlegte sie, was sie noch tun könnte. Sie war nicht müde, aber auch nicht hungrig. Dann kam ihr eine Idee und sie zog ihr Handy aus der Hosentasche. Damit telefonierte sie die Krankenhäuser ab, bis sie schließlich herausgefunden hatte, in welches man ihren Vater gestern gebracht hatte.
Die Frau, mit der sie am Telefon sprach, weigerte sich allerdings, Informationen weiterzugeben, bevor Raffaela nicht persönlich erschienen war und sich ausweisen konnte. Raffaela versuchte es noch mit gutem Zureden, aber die Dame blieb hart.
Enttäuscht beendete Raffaela ihr Telefonat. SIe versuchte sich damit zu trösten, dass sie wenigstens herausgefunden hatte, in welchem Krankenhaus ihr Vater untergebracht war, aber das wollte ihr nicht so recht gelingen.
Unruhig drehte sie sich im Bett von der einen auf die andere Seite und wollte Ruhe finden, aber ihre Gedanken kreisten ständig um ihren Vater. Es war gut, dass sie jetzt Abstand von ihm hatte, aber sie konnte ihn einfach nicht ganz vergessen, schließlich war es ihr Vater. Langsam stiegen ihr Tränen in die Augen. Hoffentlich war ihm nicht allzu viel passiert, aber eigentlich sollte es ihm bald wieder gut gehen, denn die Verletzungen waren ja nicht schwer.
Raffaela wurde sich bewusst, dass sie ihren Vater trotz alledem vermisste. Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten, obwohl sie sich die ersten noch mit dem Kissen aus den Augenwinkeln wischte. Stumm weinte sie, das Gesicht ins Kissen vergraben, und gab sich ihrer Trauer hin.
Die Tränen ermüdeten sie schließlich so sehr, dass sie sich unter die Bettdecke verkroch und sie bis fast zum Kinn hinaufzog.
Raffaela war davon so abgelenkt, dass sie nicht einmal merkte, wie die Tür aufging, leise jemand in ihr Zimmer schlich und sie ein bisschen fester zudeckte, bevor man ihr sanft über die Haare strich und das Zimmer auf Zehenspitzen wieder verlies.
Bis dahin war Raffaela längst weggedämmert in unruhige Träume.