Als das nächste Treffen bevorstand, hatte zumindest Johannes den Streit schon vergessen, immerhin waren wieder vier Wochen vergangen. Außerdem war es seine Art, nie lange über einen Streit nachzudenken, schließlich liebte er Raffaela und da verzieh man Streit einfach. Raffaela hingegen versuchte es zu verbergen, aber an ihr nagte nach wie vor die Ungewissheit, ob Johannes sie nun wirklich mochte oder nur verarschte, wie alle anderen auch. Trotzdem hatte sie einem weiteren Treffen zugestimmt und freute sich sogar darauf, denn irgendwie empfand sie doch Liebe für ihn.
Mittlerweile war das neue Jahr schon einige Wochen alt und eine dünne, aber durchgängige Schneedecke hatte sich über die Straßen und Wiesen von Kassel gelegt. Auch heute schneite es sanft vor sich hin, und die klirrende Kälte machte Verabredungen im Freien zur Herausforderung. Dementsprechend waren die Leute auch nur auf der Straße unterwegs, wenn sie mussten, denn an die hereinbrechende Kälte hatten sie sich noch nicht gewöhnt und verschoben ihre Spaziergänge lieber.
Johannes hatte ein wenig Angst vor dem Treffen, das musste er sich eingestehen, da er nicht wusste, wie Raffaela die letzte Trennung voneinander verkraftet hatte. Sie hatte so kühl und beherrscht gewirkt, so hatte er sie noch nie gesehen, und im Nachhinein war er sich sicher, dass sie sauer auf ihn gewesen war. Er hoffte natürlich, dass er Unrecht hatte, aber da er im Allgemeinen eine gute Menschenkenntnis besaß, konnte er sich damit wohl eher nicht trösten. Deshalb hoffte er einfach, dass die Wut auf ihn mittlerweile vergangen war und sie wieder in Ruhe und friedlich miteinander reden konnten.
Von weitem sah er Raffaela bereits und er atmete tief durch, um sich mental auf das Treffen vorzubereiten. Eigentlich freute er sich, aber die Freude konnte nicht ganz die Oberhand über seine Zweifel gewinnen. Er versuchte, das schlechte Gefühl zu verdrängen und ganz unbefangen an das Treffen heran zu gehen und als er Raffaela länger betrachtete, überwog sogar die Freude, sich endlich wieder zu sehen.
Er ging auf sie zu und lächelte. "Hey, Raffa, schön dich zu sehen", begrüßte er sie.
"Hallo Jojo. Danke, dass du kommst", begrüßte ihn Raffaela ebenfalls. Sie hatte sich zu ihm umgedreht, aber nur den Ansatz eines Lächelns gezeigt. Sie sah nicht aus, als würde sie sich wahnsinnig freuen, ihn zu sehen. Ihre Stimme klang ähnlich monoton wie noch beim letzten Treffen und Johannes fragte sich automatisch, was er bereits jetzt falsch gemacht haben könnte. Er überging ihre Bemerkung, wieso sollte er nicht kommen? Aber er wollte keinen Streit provozieren, deshalb sprach er es nicht an.
"Wie geht es dir denn?", fragte er stattdessen, "wie läuft die Therapie? Du hast im letzten Brief so wenig geschrieben, ist wenig passiert? Ich habe mir schon Sorgen gemacht".
Raffaela schwieg erst einige Momente. Sie konnte das Interesse nicht deuten, ob es echt war oder gespielt. Falls es aber echt war, wollte sie Johannes nicht vor den Kopf stoßen. Schließlich hatte ja sonst niemanden mehr außer ihn.
"Richtig viel Neues ist leider nicht passiert und ich wusste nicht, ob du dich dafür interessierst, was genau ich in der Therapie mache, deshalb war der Brief nicht mehr so lang, das war der einzige Grund", erklärte sie schließlich.
"Du kannst mir immer alles erzählen was du möchtest, ich interessiere mich für alles, was mit dir zu tun hat. Erzähle mir was du willst, wirklich."
Johannes versuchte, sie dadurch zu ermutigen, aber er war sich nicht sicher, ob er damit Erfolg gehabt hatte. Er griff nach ihrer Hand, um seine Ermutigung zu unterstreichen, aber Raffaela zog sie zurück.
"Bitte nicht, heute kann ich Berührungen überhaupt nicht ertragen", flüsterte sie heiser. Ihr ganzer Körper war sofort in die Verteidigungshaltung gegangen und ihr Blick strahlte Angst und Verzweiflung aus, ähnlich wie bei ihrem ersten Treffen.
Johannes schluckte seinen Groll hinunter. Wieder versuchte er, Verständnis dafür aufzubringen, dass Raffaela Berührungen nicht ertrug, aber die Enttäuschung war trotzdem groß. Nach einem halben Jahr hatte er sich Besserung erhofft, aber seitdem Raffaela vom Tod ihres Vaters wusste, schien es sogar fast noch schlimmer geworden zu sein als vor der Therapie.
"Was kann ich denn dann für dich tun?", fragte er, nachdem er sich wieder ein wenig beruhigt hatte.
"Einfach nur da sein und mit mir reden, das ist schon oft genug für mich. Ich bin froh, dass du das für mich machst."
Raffaela lächelte ihm zu, weil sie merkte, dass Johannes irgendwie nicht so gut gelaunt war, das konnte sie an seinem Gesichtsausdruck lesen.
"Und wann darf ich dich mal anfassen?", rutschte Johannes raus, aber er bereute es im nächsten Moment schon wieder. Raffaela verkrampfte sich. "Es tut mir leid", schob er hinterher.
"Als ob", spie Raffaela aus, "denk doch auch mal an miene Bedürfnisse! Ich kann das mit dem Anfassen einfach noch nicht, darüber haben wir doch schon gesprochen und ich dachte das ist für dich in Ordnung, aber anscheinend hast du mich ja angelogen?!".
In diesem Moment platzte Johannes der Kragen, die Vorwürfe waren völlig unangebracht und vor allem stimmten sie in seinen Augen kein bisschen, Raffaela war unfair zu ihm.
"Ich habe überhaupt nicht gelogen! Das Problem ist, dass es immer nur um dich geht, egal was wir machen. Du entscheidest wo wir hingehen, was wir machen, wann wir uns treffen. Du hast nicht ein Mal gefragt, was ich möchte oder ob ich Bedürfnisse habe. Aber ich habe auch welche!".
Johannes atmete schwer, das schreien hatte ihn angestrengt. Er beobachtete Raffaela ganz genau, konnte aber zuerst keine Regung feststellen, sie wirkte genau so kaltherzig wie beim letzten Treffen.
Dann aber verlor sich ihr Gesichtsausdruck und sie weinte. Sie weinte hemmungslos, weil sie so enttäuscht von ihm war und nichts, was Johannes hätte sagen können, hätte das alles wieder gut gemacht.
"Mist, Raffa, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschreien, wirklich nicht. Bitte hör auf zu weinen. Ich will dir alle Zeit der Welt geben, bitte nimm das nicht ernst, was ich gesagt habe."
Johannes verzweifelte fast an ihren Tränen. Raffaela schien nichts davon zu hören, was er sagte. Er versuchte, sie zu berühren, aber Raffaela wich ihm aus. Da begriff er, dass er gerade ziemlichen Mist gebaut hatte. Er hatte selbst Tränen in den Augen, als er flüsterte:"Bitte, verzeih mir."
Raffaela wandte sich von ihm ab, als er nach ihr greifen wollte schlug sie seine Hand weg.
"Du bist genau so wie alle anderen! Lass mich in Ruhe!", schluchzte sie, dann begann sie zu rennen.
"Raffaela, bleib stehen, warte!".
Das rennen fiel ihm neben dem Reden nicht so leicht, deshalb konzentrierte er sich darauf, sie einzuholen. Obwohl Raffaela laut eigener Aussage schon wochenlang keinen Leistungssport mehr betrieb, wvar sie zu schnell für Johannes, der Abstand war zu groß.
Als sie um die Häuserecke gebogen war, gab Johannes auf, die Hände auf den Knien sog er gierig frische Luft ein. Was sollte er jetzt machen? Einholen konnte er sie nicht mehr. Er zog sein Handy aus der Tasche und rief sie an, denn an den Besuchswochenenden, das wusste er, war ihr Handy an.
Das Klingeln ging maximal lange, er sprach sogar noch eine weitere Entschuldigung auf die Mailbox und versuchte es dann noch zwei weitere Male. Aber Raffaela ging nicht ans Telefon. Schließlich schrieb er ihr noch eine SMS mit einer Entschuldigung.
Mit einem tiefen Seufzer steckte er sein Handy wieder weg. Für seinen Fehler hätte er sich am Liebsten selbst geohrfeigt, aber er hatte die Worte nun einmal gesagt. Aber er hatte auch einiges unternommenm, um die Worte wieder rückgängig zu machen.
Jetzt musste er darauf hoffen, dass er Raffaela irgendwie erreicht hatte. Konnte er noch etwas tun? Er kannte die Nummer ihrer Wohngruppe, vielleicht könnte er dort anrufen. Weil er die Idee für gut hielt, setzte er sie gleich in die Tat um und informierte in einer kurzen Schilderung über den Streit. Die Frau am anderen Ende der Leitung bedankte sich für seinen Anruf und versicherte ihm, dass sie sich sofort um Raffaela kümmern würden.
Das Telefonat hatte Johannes wieder ein bisschen beruhigt, auch wenn er sich weiterhin Sorgen machte. Immerhin schien auch irgendetwas in ihrer Beziehung nicht zu stimmen. Er ging zurück zu dem kleinen Park und ließ sich dort auf die erstbeste Bank fallen.
Dort verbarg er sein Gesicht in den Händen und versuchte so, einen klaren Kopf zu bekommen. Wann war in ihrer Beziehung etwas schief gelaufen, dass sie sich so stritten? Er mochte Raffaela doch eigentlich unwahrscheinlich gerne und sie ihn auch, dachte er zumindest. Nein, eigentlich war er sich sicher, dass es so war. Deshalb verstand er umso weniger, dass sie sich gerade gestritten hatten.
Er hoffte jee Sekunde darauf, dass sein Handy vibrieren würde und Raffaela wieder vor ihm stand, aber den Gefallen wollte sie ihm nicht tun. Schließlich stand er resigniert seufzend auf und verließ den Park in Richtung seines Autos. Heute würde er wohl keinen Kontakt mehr zu ihr haben, aber vielleicht konnten sie sich ja morgen wieder sehen, schließlich war morgen Sonntag und Raffaela hatte theoretisch noch einen Tag Ausgang.
Johannes hoffte, dass sich morgen alles in Ruhe klären ließ, aber er wusste jetzt schon, dass er die Nacht nicht ruhig würde schlafen können. Dafür gingen ihm zu viele Gedanken durch den Kopf.