„Lyvê“
Das leise Echo verklingt mit dem Wind, der über mein Gesicht streicht. Warme Sonnenstrahlen kitzeln auf meinen Wangen, während der seichte Wind eine Haarsträhne über meine geschlossenen Augen weht.
„Lyvê“
Sofort schlage ich meine Augen auf, muss sie allerdings wegen dem gleißenden Sonnenlicht sofort wieder zusammenkneifen.
„Mama, Papa?“
Das waren die Stimmen meiner Eltern, da bin ich mir sicher. Umgehend richte ich mich auf und schlage meine Augen ein zweites Mal auf. Da ich dieses Mal nicht in die Sonne blicke, muss ich nur ein paar mal blinzeln.
„Wo bin ich?“
Verwundert schaue ich mich in dieser neuen Umgebung um. Ich befinde mich auf einem hohen Hügel, der mit Grass, Blumen und niedrigen Sträuchern bewachsen ist. Um diesen Hügel herum erstreckt sich sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite endloser Wald. Seltsame Nebelschwaden steigen über dessen Baumwipfeln empor und lösen sich durch die Sonnenstrahlen vollkommen auf. Die Bäume stehen eng beisammen und ragen sehr weit in die Höhe. Zusammen bilden sie eine Masse aus graugrünen Blättern, an denen ab und zu eine Ranke nach unten hängt.
Direkt hinter mir erstrecken sich hohe Berge, die mit ihren Spitzen in den Wolken verschwinden. Dabei ist der Hügel, auf dem ich mich befinde, der erste Ausläufer des Größten dieser Berge. Dichte Nebelschwaden umgeben die hohen Berge, langsam sinken sie allerdings das Tal hinab und lösen sich dort zusammen mit dem Nebel aus den Bäumen in Luft auf.
Vor mir erstreckt sich endloser Ozean, dessen Wasser ruhig liegt und die Sonne widerspiegelt. Keine Welle schlägt an den schmalen Strand, der sich links und rechts vor dem Wald entlang zieht. Mein Hügel fällt zu dieser Seite hin am steilsten ab und wechselt dann zu Dünen, die in den schmalen Strand übergehen. Die Bäume stehen deutlich höher als der Strand, weshalb sich an diesen Stellen hohe Abhänge gebildet haben, an denen man mehrere Wurzeln erkennen kann.
Auch wenn das Wetter direkt über mir klar und sonnig ist, so ziehen am Horizont über dem Ozean dunkle Gewitterwolken auf. Mein Hügel scheint zudem der einzige Ort in der Nähe zu sein, wo die Sonne scheint, da auch die Berge und die Baumspitzen sehr dunkel und unbeleuchtet wirken.
Unruhig stehe ich auf und gehe an den Rand des Hügels. Wie vorgesehen liegt dort ein gewaltiger Felsen, der über den Hügel hinweg ragt und auf den ich mich nun stelle. Von hier aus kann man die Umgebung noch viel besser sehen.
„Lyvê“ Wieder ertönt der leise Ruf meiner Eltern und wird sofort mit dem Wind Richtung Meer getrieben. Verzweifelt schaue ich um mich, in der Hoffnung, die vertrauten Gestalten meiner Eltern zu sehen. Aber vergeblich. Vollkommen alleine stehe ich hier auf dem Hügel und schaue hinunter auf das Meer.
Plötzlich steigt eine Erinnerung in mir hoch, wie meine Eltern und ich im Auto sitzen. Meinte Mutter auf dem Beifahrersitz mit einem Beutel auf dem Schoß und mein Vater auf dem Fahrersitz. Draußen schlagen wilde Regentropfen gegen unser Fenster und lassen die Umwelt verschwimmen. Lautes Zischen zeugt von den anderen Autos und LKW´s, die mit uns auf der Autobahn nach Süden fahren. Die Rückbank gehört mir alleine, drei wunderbare Sitze, auf denen ich mich ausstrecken und nach belieben hinlegen kann. Die getönten Scheiben geben ein Gefühl von Dämmerung Mitten am Tag, doch dieses Gefühl stammt auch von den dunklen Wolken über uns.
„Was für ein Wetter! Hoffentlich wird es besser, wenn wir bei Jonathan ankommen, ansonsten müsst ihr den ganzen Tag im Haus sitzen! Natürlich ist das bei deren Villa auch aufregend, wäre bei dem Park aber ziemlich schade!“ Mein Vater spricht zwar noch vorne, dennoch verstehe ich jedes seiner Worte klar und deutlich. Jonathan. Ich weiß ganz genau, dass mir der Name etwas sagen muss, aber ich kann mich an nichts erinnern. Nur ein verschwommenes Bild von einem riesigen Gebäude schwirrt durch meinen Kopf. Doch seine Fassaden sind so verschwommen, als würde der Regen draußen auch in meinem Kopf existieren. Jonathan muss sehr wohlhabend sein, aber in was für einer Beziehung stehe ich mit ihm? Anscheinend sind wir auf dem Weg zu ihm, dennoch kann ich weiterhin keinen festen Gedanken fassen und bei mir behalten.
Die Radiomusik wechselt auf eine traurige Melodie, sodass mein Vater den Sender wechselt. Sofort dröhnt die fröhliche Musik von „Hello Summer“ in mein Gehör, dennoch passt dieses Lied nicht sehr zu dem Wetter draußen. Während meine Eltern fröhlich mitsummen und Witze reißen, schaue ich aus dem Fenster und höre ihnen nicht mehr zu. Nur die Musik dringt in meinen Kopf und löst die Wolken der Verschwommenheit. Zurück lässt sie endlose Leere und eine gewaltige Langeweile. Wohin auch immer wir fahren, ich möchte so schnell wie möglich dort ankommen.
Mit einem Mal wird die Musik leiser und auch das Lachen und Reden meiner Eltern ist nur noch wie ein schwaches Murmeln, dem ich kein Wort entnehmen kann. Ich will etwas sagen, aber meine Zunge fühlt sich taub und unbeweglich an. Verwirrt reiße ich die Augen auf, aber es wird immer grauer und dunkler. Mein Gefühl sagt mir deutlich, dass jetzt etwas passiert, aber die Szene verschwimmt immer mehr, bis ich meine Eltern weder sehen, noch hören kann.
Plötzlich dringt das Kreischen einer Möwe an mein Ohr und ich stehe wieder auf dem Felsen. Das Grau hat sich in die Wolken über dem Ozean verwandelt und das leichte Murmeln ertönt von dem Wasser, das an den Strand gespült wird. Was war das? Wieso erinnere ich mich an eine Autofahrt mit meinen Eltern? Warum höre ich ihre Stimmen immer wieder klar und deutlich, kann sie aber nicht sehen? Warum rufen sie nach mir, wenn ich nicht antworten kann?
Und wo bin ich hier gelandet?