[Der Briefumschlag]
Beachte diese Wünsche, für mein Wohlergehen. Bitte.
Lies erst zuhause, nicht auf dem Weg von der Schule. Warte, bis du allein bist.
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[Ein Klebezettel im Brief]
Liebe Sophie,
ich möchte nicht, dass du diesen Brief irgendjemanden zeigst, oder mit jemandem anderen außer mir darüber redest. Ich bitte dich darum. Vielleicht werde ich nicht einmal dir den Brief geben.
Meine Eltern wissen es nun. Bitte, behalte es als ein Geheimnis. Erwähne es nicht in einem deiner folgenden Briefe an mich.
Danke,
Elli
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[Der Brief]
Hey du,
ich versprach dir schon vor langer Zeit, diesen einen Brief zu schreiben. Meine Ostererlebnisse an dich zu schicken. Heute ist der 22. April, also der Tag nach dem Freitag an welchem Jesus ans Kreuz genagelt wurde, nur viele, viele Jahre später.
Der heutige Tag war schön, morbid und gleichzeitig auch angsteinflößend. Und das schreibe ich nicht, weil mir langweilig ist, tatsächlich habe ich noch verdammt viel vor.
Schön war der Tag, weil Sarah da war. Sie hat uns besucht. Wir haben unsere traditionelle Osterwanderung mit anschließendem Mittag und Abendessen gemacht.
Also dachte ich daran, ihr unsere Schule zu zeigen. Mein Großonkel wohnt ganz in der Nähe, nur den Berg hoch.
Wir sind die Stufen zum zweiten Schulgebäude hinuntergegangen und ich habe ihr die Turnhalle und den Hof gezeigt. Dann sind wir weiter zum ersten Schulgebäude gegangen, haben aber bei dem dazwischen liegenden Spielplatz eine improvisierte Pause eingelegt. Du weißt, der der neben dem kleinen Bächlein, was wir großzügig Fluss nennen, fließt.
Wir setzten uns auf dieses Drehkarussell, schoben uns gegenseitig an, um schneller zu werden. Und du kennst doch diese komischen Tiere, wo unten eine Feder befestigt ist, sodass man darauf hin und her schaukeln kann. Wir haben geschaukelt und erzählt.
Dann kamen zwei Mädchen — eine kleiner als ich, schwarze, leicht gelockte Haare, zu viel Schminke, und mit einer Flasche, lass es Wein oder so etwas in der Art sein, in der Hand, und offensichtlich ihre Freundin, ein großes Mädchen mit langen, glatten blonden Haaren und auch mit einer Flasche (was auch immer) in der Hand — auf uns zu und legten ihre Taschen auf die Bank, welche dort steht.
Die Schwarzhaarige sagte, dass wir nicht so viel Lärm machen sollten (wegen den kleinen Kindern [wer's glaubt wird selig]) und dass wir leiser sein sollten (nicht einmal lachen) weil sie sich unterhalten wollen.
Dummerweise erwiderte ich, dass es ganz uns überlassen sei, was wir tun wollten und dass sie unabhängig von uns reden konnten. Kinder seien auch nicht da.
Irgendwie eskalierte die ganze Situation dann. Sie fragte, ob ich „einen Schlag ins Gesicht haben will". (Sie nannte es „Todesschlag".) Und ich solle nicht so „professionell" reden bzw. solle nicht angeben (was ich wirklich nicht getan habe). Wenn ich nicht damit aufhören würde, würde sie mir mit ihrem Messer den Kopf abschneiden. So was wie köpfen.
Ich musste sie mit wenigen Worten fürchterlich provoziert haben, denn sie wollte mir damit Angst einjagen, dass sie zu mir nach Hause käme und meine ganze Familie umbringen würde. Daraufhin sagte ich, dass sie gar nicht wisse, wo wir wohnten.
Dann fragte sie danach und ich habe mir irgendeine andere Stadt einfallen lassen. So ging es weiter und sie versuchte (ich finde keinen besseren Ausdruck als verzweifelt) verzweifelt mich mit ihren Worten zu verletzten.
Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass ich nicht anfing zu schreien oder sonst wie ausgerastet bin.
Vielleicht „nervte" ich sie dann so sehr, dass sie versuchte, mich körperlich zu verletzen. Plötzlich griff sie mit einer Hand an meinen Hals und drückte zu (sie war schwach, sehr schwach). Um sie loszuwerden, schlug ich ihre Hand weg und umfasste ihr Handgelenk.
Deswegen rief sie, dass ich sie nicht anfassen sollte. Und dann hat ihre blonde Freundin die Worte wiederholt. (Ich glaub, es sollte aggressiv klingen. Sie war aber zu betrunken für den richtigen Tonfall.)
Ich ließ ihre Hand los, aber die Schwarzhaarige griff nach meinen Arm und versuchte, mich mit ihren Nägeln zu kratzen (aber verfehlte ihre Absicht um Einiges).
Dann hatte ich wieder ihr Handgelenk. Sie sagte wieder ihren Satz und ihre Freundin wiederholte das Ganze und stellte sich demonstrativ neben sie.
Für einen Moment hatte ich Angst, die Blonde könnte mit ihrer Flasche auf mich losgehen (oder das Messer ihrer Freundin holen). Zum Glück tat sie nichts. Ich würde jetzt fast mit Sicherheit sagen, dass sie nicht einmal daran gedacht hat, mich zu verletzten.
Die Schwarzhaarige umgriff wieder mein Handgelenk. Dann drohte sie damit, mich zu köpfen (wie schon erwähnt) und meinen Kopf in den Briefkasten meiner Eltern zu stecken.
Am Ende liefen Sarah und ich weg.
(Innerlich habe ich darüber debattiert, wie hoch mein Überlebensinstinkt sei, der entschied sich ganz deutlich für Abhauen.)
Denn es war egal, ob ich ihr antwortete oder nicht, auch was ich ihr sagte, sie schien es ausschließlich als Provokation aufzunehmen. Und die ganze Zeit starrte ich in ihre Augen. Wahrscheinlich nur, weil ich unter dem Einfluss von Adrenalin stand.
Als wir zu meinem Großonkel zurück rannten, fragte Sarah mich nach Angst. Und seitdem zerbricht mich dieses Debakel. Den ganzen Abend dort konnte ich es nicht vergessen.
Wir sagten es nur ihrer Oma. Niemandem anderen. Also sind du, ihre Oma und Sarah (und natürlich die anderen beiden) die einzigen „Zeugen" zu diesem Fall.
Ich kann noch immer ihr Parfüm riechen. Es scheint an meinem Handgelenk zu kleben. Bestimmt habe ich es schon vier Mal mit Seife abgewaschen.
Von da an konnte ich mich nicht mehr beruhigen. Den restlichen Abend schwieg ich und ging gedanklich jede mir erdenklich „Was wäre, wenn..." Frage durch.
Was, wenn sie uns wirklich gefolgt wären? Oder zumindest den Versuch unternommen hätten? Wohin hätten wir verschwinden können? Wo verstecken? Wie hätte ich Sarah beschützen können? Müssen? Sollen? Wie hätte ich die beiden Mädchen loswerden können?
Möglicherweise bin ich gerade in einem Schock, ich weiß es nicht.
Ich wusste, wie man reagieren soll, habe aber komplett in die falsche Richtung gestartet. Ich weiß, dass sie uns nicht wiedererkennen wird, aber ich habe Angst, dass es trotzdem so ist. Oder dass ihre (sogenannte) Freundin es könnte.
Wobei ich vermute, dass die Blonde sich nur wegen ihrer dunkelhaarigen Freundin so verhalten hat. Sie hätte wahrscheinlich alles gemacht, was die Kleinere, offensichtlich die Wortführerin, gesagt, getan oder ihr befohlen hätte.
Doch, ich denke, dass ich einen Schock habe. Seit der letzten halben Stunde weine ich ununterbrochen, bin nah an dem, was als Hyperventilation beschrieben wird und versuche verzweifelt Luft zu bekommen. Es ist, als ob mein Brustkorb von irgendetwas zugedrückt würde. Außerdem hämmert es in meinem Kopf ohne Pause. Die ganze Szene wiedeholt sich immer und immer wieder. Oder nennt man es Hysterie?
Hoffentlich werde ich wieder meine Gedanken wieder kontrollieren können. Zumindest für diese Nacht.
Tschau für heute,
Ellie
[Später hinzugefügt, mit anderer Tinte]
Papa hat vorgeschlagen die Polizei einzuschalten, aber das will ich nicht. Es ist nur ein kleinerer Unfall. Wie stark auch immer meine Reaktion darauf sein mag.
Er hat versucht, mich abzulenken und ich bin mit hinuntergegangen um Fernsehen zu gucken. Aber das Bild war nur verschwommen und der Raum stickig und gleichzeitig eiskalt.
Wenn du den Brief nicht behalten willst, kannst du ihn mir zurückgeben oder sonst was damit anstellen. Oder ich werde den Brief irgendwo verstecken, so dass ich ihn für eine ungeheure lange Zeit nicht mehr wiederfinde. Oder so lang, bis ich frei darüber sprechen kann.
Bitte, ich möchte, dass es so bleibt. Dass es keiner wissen wird.