Nach einem Moment der Glückseligkeit, beschäftigte sich Bahe ein Wenig mit den Dreamworld-Foren und stellte zu seinem Erstaunen fest, welch eine Nachrichtenflut seine Versteigerung unter den Fans des Spiels ausgelöst hatte.
Bahe konnte sich noch genau an die Zeit mit seinem Vater erinnern, als sie abwechselnd mit ihrem Charakter ein Verließ oder Labyrinth nach dem Nächsten klärten und am Ende siegreich aus einer unmöglich geglaubten Quest[i] hervor gingen. Er musste immer noch schmunzeln, wie sie sich nach jedem Gegner in der Abschlussphase der Quest abgewechselt hatten und sogar den Boss am Ende abwechselnd bekämpft hatten, weil jeder von ihnen andere Stärken im Spiel hatte.
Scheinbar war der Avatar Anael zur Legende geworden, nachdem er aus dem Nichts gekommen war, den als unbezwingbar geltenden Boss Odragon besiegt hatte und anschließend wieder verschwunden war.
Als auch Monate später immer noch nichts Neues von dem Avatar Anael zu hören war, galt das Phönixfeuerrüstungs-Set als verschollen. Die meisten Spieler fürchteten, dass der Besitzer des Anael-Accounts das Interesse an Dreamworld verloren hatte und es nie wieder eine Möglichkeit geben würde, dass Phönixfeuerrüstungs-Set zu erwerben, das Teil einer fünfteiligen, seltenen Rüstungs-Serie war.
Umso größer war die Aufregung beim plötzlichen wieder Auftauchen des Avatars, zu einer Zeit, als die Rüstung nur noch als Sammlerstück von Nutzen war, da sich ihre Attribute längst nicht mehr gegen die Werte von Rüstungen höherer Ränge durchsetzen konnten.
Bahe konnte von Glück reden, dass die Rüstung ein paar Sammlern so viel Geld wert gewesen war. Andere Rüstungen mit den gleichen Attributen wurden mittlerweile nur noch für wenige hundert Yuan gehandelt. Und sein früherer Avatar Anael hatte mit dem Level 288 nur noch im unteren Mittelfeld gelegen.
Zutiefst zufrieden mit seinem Erfolg löschte Bahe noch schnell seine Benutzerkonten für die Dreamworld-Portale und gönnte sich anschließend zum ersten Mal seit Monaten ein umfangreiches Frühstück in einem Restaurant. Es war ein wunderbares Gefühl sich endlich wieder richtig satt essen zu können.
Danach lief er über die üblichen Umwege durch den slumartigen Vorort schnell nach Hause, wusch sich und machte sich präsentabel, um seine Mutter besuchen zu können. Auch wenn er etwas früher als sonst dran war, konnte er es nicht abwarten die frohen Neuigkeiten zu verkünden.
Zwei Stunden später befand sich Bahe auf dem letzten Stück des Weges zum Krankenhaus seiner Mutter. Er stieg gerade aus der U-Bahn und machte sich schwungvollen Schrittes daran, die Treppen zu erklimmen.
Auf dem Weg hatte er im Geiste bereits Berechnungen angestellt. Die knapp 400 000 Yuan sollten mehr als ausreichen, um die nächsten zwei Wochen vor der Operation und die anschließenden vier Wochen zur Reha im Krankenhaus finanzieren zu können. Außerdem sollte noch ein Teil übrig bleiben, um den Kindergarten seiner Geschwister wieder finanzieren zu können und mehrere Mieten im Voraus zu bezahlen. Er wagte es nicht über zu viel Geld zu verfügen, solange die Schulden bei dem Kredithai noch nicht getilgt waren.
Nach ein paar Gehminuten kam er am Krankenhaus an und fuhr mit dem Fahrstuhl ins vierte Stockwerk zur Abteilung in der seine Mutter untergebracht war. Zweimal musste er noch abbiegen und im letzten Moment einem kleinen Mädchen ausweichen, das ihn mit großen Augen anstarrte.
Natürlich fiel er mal wieder durch sein Aussehen auf. Die Kleine hatte wahrscheinlich noch nie einen Ausländer gesehen, geschweige denn Einen, europäischer Herkunft.
Blind griff er nach der Klinke zum Zimmer seiner Mutter und trat ein, nachdem er das kleine Mädchen umrundet hatte.
„Hallo, Mama!“, rief er leise, um andere Patienten nicht zu stören.
Nachdem er sich von der Tür abwandte, musste er jedoch zu seiner Verblüffung feststellen, dass das Zimmer leer war. Bahe wollte gerade an der Badezimmertür anklopfen als er durch die Verbindungstür zum nächsten Zimmer die gedämpfte Stimme seines Großvaters vernahm.
„Sulin, wir müssen reden!“
Ah, dachte Bahe. Er musste durch das kleine Mädchen abgelenkt gewesen sein und eine Tür zu früh genommen haben.
Mit zwei Schritten war er an der Tür und wollte sie gerade öffnen, als der nächste Satz seines Großvaters ihn innehalten ließ.
„Es kann mit Bahe nicht länger so weiter gehen!“
„Tian, beherrsche dich solange die Kleinen mit im Zimmer sind!“, schimpfte Bahes Großmutter und fuhr an Sulin gewandt fort: „Sulin, ich gehe mit den Kleinen einmal durch den Gang und ihr redet in Ruhe.“
Kurz darauf vernahm Bahe Schritte und ein leises Klacken als die Tür wohl ins Schloss fiel. Bahe überlegte, ob er einfach eintreten sollte. Seine Familie zu belauschen war eigentlich nicht seine Art. Aber die Dringlichkeit im Tonfall seines Großvaters machte ihn stutzig.
„Was willst du mit mir besprechen, Bà?“, hörte Bahe seine Mutter fragen.
„Das weißt du genau! Hast du dir Bahe in den letzten Wochen überhaupt mal angesehen?! Er ist nur noch Haut und Knochen! Die Götter wissen, ob er überhaupt was isst, bei dem ganzen Geld, das er in den letzten Wochen für dich angeschleppt hat.“
„Glaubst du, ich sehe das nicht, Bà?“
„Wieso tust du denn nichts dagegen? Wir waren nie vermögende Leute, aber ich fühle mich beschämt von meinem Enkel Geld annehmen zu müssen, um meine Tochter im Krankenhaus behandeln zu lassen!“
Bahe musste über das Gehörte schlucken. Seine Kehle fühlte sich plötzlich ganz klamm an.
„Was soll ich denn tun, Bà?“, rief Bahes Mutter aufgebracht und steigerte sich zunehmend in eine Redeschwall hinein. „Ich weiß, dass ich keine gute Mutter bin! Erst setze ich die Firma in den Sand, dann mache ich Schulden, weil ich dachte, vorübergehend ohne Krankenversicherung auskommen zu können und kippe am Ende sogar noch bewusstlos um, wenn mich meine Kinder am meisten brauchen! Mir zerreißt es das Herz Bahe so zu sehen! Aber weißt du was noch viel schlimmer ist? Ich weiß nicht mal wo er wohnt! Mein Sohn, der eigentlich noch zur Schule gehen sollte, hat mir gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen! Er würde arbeiten und genug Geld auftreiben! Obwohl es eigentlich umgekehrt ablaufen sollte! Und ich sitze hier… und…“
Die ersten Schluchzer ließen seine Mutter stocken und Bahe traten die Tränen in die Augen.
„Und ich sitze hier, Bà… und kann nichts tun… um ihm zu helfen. Außer Sterben vielleicht…“
„Sulin…“
Es waren ein paar Schritte zu hören und Bettdeckengeraschell. Dann wurde es still, bis auf die immer wiederkehrenden Schluchzer seiner Mutter. Bahe hatte inzwischen von der Klinke abgelassen und ließ sich unter Tränen an der Wand daneben nieder.
„Sulin…“, war sein Großvater erneut zu hören. „Bitte rege dich nicht mehr so auf, das ist nicht gut für dich. Ich habe einen Fehler gemacht. Es ist nicht deine Schuld und bitte denke nie wieder daran deinem Leben ein Ende zu setzen!“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. „Es ist nur… ich bin so frustriert. Wir haben Bahe mit Fragen durchlöchert, wo er wohnt und ob er anständig isst. Aber er weicht uns immer nur aus…“
„Mir hat er mal erzählt, dass er am Stadtrand eine kleine Wohnung gefunden hat, Bà…“
„Am nordwestlichen Stadtrand?“
„Dazu hat er nichts gesagt, aber wo sonst?“, schluchzte Bahes Mutter verzweifelt.
„Sich vorzustellen, dass er ausgerechnet in dem Betonlabyrinth lebt…“, brachte sein Großvater mit brüchiger Stimme hervor. „Wusstest du… wusstest du, dass er jedes Mal, bevor und nachdem er uns besuchen kommt, eine Stunde mit Bussen und U-Bahnen durch die Gegend fährt? Ich habe zwei Mal versucht ihm zu folgen. Beide Male hat er mich abgeschüttelt. Wieso macht er das wohl? Er will seine Geschwister und uns vor den Schuldeneintreibern schützen… Bisher wissen die den Göttern sei Dank noch nicht wo wir wohnen…“
„Bà, du meinst sie sind hinter ihm her?!“, schreckte seine Mutter hoch.
„Ich weiß es nicht, Sulin“, erklärte Bahes Großvater. „Er kann eigentlich kaum Geld verdienen und schafft es trotzdem jeden Monat mindestens 7500 Yuan aufzutreiben. Ihn alle zwei Wochen abgemagerter zu sehen und dann auch noch Geld von ihm annehmen zu müssen, um die Klinikkosten zu bezahlen… Deine Mutter und ich ertragen das nicht länger…“
Es kehrte kurz Ruhe ein und Bahe musste sich zunehmend beherrschen, nicht laut los zu schniefen.
„Es gibt noch ein weiteres Problem, Sulin. Deine Mutter und ich hatten einige Ersparnisse als die Sache mit deiner Krankheit begann. Damals haben wir Bahe einmal beiläufig erzählt, dass, wenn er sich einen Nebenjob suchen würde, allein schon 7500 Yuan pro Monat reichen würden, damit wir genug Geld zusammen hätten und die andere Hälfte der Kosten für deinen Klinikaufenthalt zahlen könnten. Wir hätten uns nie träumen lassen, dass er doch tatsächlich die Schule abbrechen und verschwinden würde, um das Geld aufzutreiben. Bis heute glaubt er, dass wir wirklich nur die Hälfte dazu geben. Ich will mir nicht vorstellen, wie er reagiert, wenn wir ihm nächste Woche die Wahrheit eröffnen müssen.“
Nein! Das konnte nicht sein! Bahe traute seinen Ohren nicht.
„Diese Fachklinik ist die beste auf ihrem Gebiet, kostet uns aber wöchentlich 45 000 Yuan. Dazu kommen noch die neuartigen Medikamente für 30 000 Yuan. Unsere ganzen Ersparnisse sind mit dieser Woche aufgebraucht…“
Bei den Worten seines Großvaters sackte Bahe endgültig in sich zusammen und begann leise vor sich hin zu schluchzen.
„Dann werde ich eben zwei Wochen ohne Behandlung auskommen müssen.“
„Es tut mir so unglaublich Leid, Sulin. Der Verkauf des Hauses sollte spätestens in zwei Wochen abgeschlossen sein und sobald wir das Geld haben, können wir endlich deine Operation finanzieren. Wenn du anfangs doch bloß nicht so gegen den Verkauf des Hauses gewesen wärst…“
„Ich fühle mich immer noch schrecklich damit. Das Haus war das Einzige, das Bahe noch an seinen Vater erinnern konnte. Wie konnte ich zustimmen, es einfach so zu verkaufen?“
Bahe unterdrückte ein Stöhnen. Die Worte seiner Mutter brannten wie Peitschenhiebe auf seiner Seele. Ihm zu Liebe hatte seine Mutter solange gelitten und sich sogar noch gegen den Verkauf gesträubt, als sie mit ihrem möglichen Tod konfrontiert wurde.
„In zwei Tagen, am Montag, werden wir dich abholen. Bis dahin-“, Den Rest verstand Bahe nicht mehr als sich die Tür zum Flur plötzlich öffnete und eine Krankenschwester ihn verdutzt anstarrte. Bahe rappelte sich schnell auf und rannte in den Gang hinaus. Nach den zwei Biegungen lief er diesmal an den Aufzügen vorbei und rannte die Treppen hinunter. Er konnte jetzt einfach nicht seiner Mutter unter die Augen treten.
Wie vom Wahnsinn angetrieben preschte er schließlich aus dem Haupteingang und flüchtete sich in die Zulieferungsstraße des Krankenhauses. Zwischen den Müllcontainern blieb er stehen und reagierte sich ab, indem er auf pralle Müllsäcke und die Container einschlug.
Wie konnte er bloß glauben, dass es einen Unterschied machte, ob er arbeitete oder nicht?! 7500 Yuan! 7500 Yuan, auf die er so stolz gewesen war! Und was kostete der Klinikaufenthalt eigentlich pro Woche? 75 000 Yuan! Verdammte 75 000Yuan!
Bahe schrie ein letztes Mal seine Wut heraus und sackte danach geschafft zusammen. Tränen liefen ihm noch immer übers Gesicht. Wieso musste immer irgendwas schief gehen?!
Er besaß knapp 400 000 Yuan. Das Geld würde nun nicht mal für den Krankenhausaufenthalt seiner Mutter reichen! Hatte sich denn wirklich alles gegen ihn verschworen?
Verzweifelt schluchzte er vor sich hin und schlug zwischendurch immer mal wieder auf die umgebenden Container ein. Die ersten Regentropfen spürte er gar nicht. Erst als der leichte Nieselregen zunehmend vom Himmel prasselte, bekam Bahe wieder einen halbwegs klaren Kopf und bewegte sich zur nächsten Bushaltestelle, um sich unterzustellen.
Es brachte nichts, vor sich hin zu trauern. Bahe zwang sich nach vorne zu schauen. Er konnte etwa fünf Wochen des Klinikaufenthaltes seiner Mutter bezahlen. Das Geld für die letzte Woche würde er noch irgendwie auftreiben. Nur wie?
Bahe zermarterte sich den Kopf darüber, kam aber zu keinem Ergebnis.
Währenddessen nahm der Regen nach und nach an Stärke zu und das erste Donnern war in der Ferne zu vernehmen. Der Regen braute sich offenbar zu einem ausgewachsenen Gewitter zusammen.
Bahes Gedanken rasten noch immer. Verzweiflung spornte ihn an, weiter fieberhaft nach einer Lösung zu suchen. Rein rechnerisch, könnte er fünf Wochen des Klinikaufenthaltes seiner Mutter bezahlen. Danach würden ihm noch etwa 25 000 Yuan bleiben, minus seiner Miete und Lebenshaltungskosten, wären es aber höchstens noch 20 000 Yuan.
Selbst wenn er die nächsten Wochen durchhalten könnte, würde er höchstens 10 000 Yuan erwirtschaften. Auch mit den 20 000 Yuan, die er bereits besaß, war es immer noch zu wenig. Um auf die 75 000 Yuan für die letzte Woche zu kommen, fehlten ihm dann noch 45 000 Yuan. Ein schier unerreichbarer Betrag für ihn.
Gedankenverloren raufte er sich die Haare als ein Blitz vom Himmel zuckte und Bahes Aufmerksamkeit auf sich zog. Für einen kurzen Moment sah er noch das helle Leuchten, ehe es verschwand und einem ohrenbetäubenden Donnern Platz machte. Als Bahe seinen Blick wieder senkte, blieb er an einem Bus hängen, der auf der anderen Straßenseite vor einer roten Ampel stand.
Die Längsseite des Busses war mit Werbung zum neuen Onlinespiel Raoie überzogen. Nicht das er sich jemals die 15 000 Yuan für das teure Dimensional Leap-System leisten können würde, dachte er resigniert. Bahe wollte seinen Blick gerade weiter schweifen lassen, als ihm ein absurder Gedanke durch den Kopf schoss!
Jeder Kommentar motivert mich sehr! Denkt drüber nach mir ein paar Worte da zu lassen, wenn euch das Kapitel gefallen hat. :)
RiBBoN
[i] In Computerspielen sind Quests annehmbare Aufträge, welche im Regelfall von computergesteuerten Figuren (NPC) erteilt werden. Unterschieden wird zwischen Haupt- bzw. Mainquests und Neben- bzw. Sidequests, wobei die Hauptquests in der Regel die Geschichte vorantreiben und die Nebenquests eher dazu dienen, die Charakterwerte des Spielers zu erhöhen, Schätze zu finden und seine Ausrüstung zu verbessern (Mehr Details dazu in den folgenden Kapiteln).