Stramme Schritte hallten durch einen Gang im sterilen Licht greller LEDs. Ein leichter Schatten zeugte von der Person, die schließlich in einem rot markierten Kreis zum Stehen kam.
„Irisabgleich und 3D-Scan wird initiiert“, hallte eine weiblich klingende Stimme durch den Gang.
„Identifizierung abgeschlossen: Bai Hui Ning[i]. Zutritt gestattet. Tür wird geöffnet.“
Mit einem leisen Klicken und mechanischen Summen wurde eine Sicherheitstür in die Wand gezogen und öffnete den Eingang zu einem spärlich beleuchteten Raum.
Ning ging durch die Tür und nahm auf einem großen Sessel vor einer runden Fläche in der Mitte des Raumes Platz. Im schummrigen Licht trat sein hageres Äußeres besonders stark hervor. Sein zerzaustes und bereits schlohweißes Haar verstärkte den Effekt nur noch.
Mit Anfang sechzig gehörte er inzwischen schon mehr als zwanzig Jahre zu den elf Chefentwicklern der TNL-Ideenschmiede und leitete den Abteilungsbereich im Großraum China. Jedem der elf Chefentwickler unterstand ein eigener Abteilungsbereich, der im jeweiligen Bezirk die Dimensional Leap-Systeme und Spieler als auch die Spielwelt Raoie an sich überwachte.
Die elf Chefentwickler stellten zugleich auch den Vorstand TNLs dar. Doch selbst unter diesen Elf besaß Ning einen besonderen Status. Schließlich war er es gewesen, der die künstliche Intelligenz erschaffen hatte, die Raoie kontrollierte und dafür sorgte, dass keine Spieler irgendwelche Programmierfehler ausnutzen konnten.
„Willkommen zurück Ning. Wie geht es dir? Bist du zur täglichen Überprüfung des Spielgeschehens gekommen?“, erklang erneut die weiblich klingende Stimme, während im Raum das Licht langsam zu pulsieren begann.
„Alles Bestens, Aoie und ja, ich bin zur Überprüfung hier. Irgendwelche Besonderheiten?“, fragte er die künstliche Intelligenz.
Er hatte sie ursprünglich Aoie getauft und zusammen mit den anderen zehn Chefentwicklern kam er überein, den Namen der Spielwelt auf ihrem Namen aufzubauen.
„In der Tat, Ning. Eine Anomalie ist aufgetaucht.“
„Eine Anomalie?“, fragte Ning überrascht und spitzte die Ohren. Es war eher untypisch, dass Probleme auftauchten, die Aoie trotz ihrer umfassenden Programmierung melden wollte. „Was ist passiert?“
„Die legendäre Berufsklasse Elementflüsterer wurde durch extrem unwahrscheinliche Umstände erspielt.“
„Was…? Wie war das möglich…“, versank Ning in Gedanken und gab dann den Befehl: „Zeig mir die spielinternen Aufnahmen!“
„Spielinterne Aufnahmen werden projiziert. Verschiedene Optionen verfügbar: Ab heutigen Spielbeginn des Spielers, unmittelbar vor der Entdeckung der Berufsklasse oder selbstgewählter Zeitpunkt. Ich empfehle ab heutigen Spielbeginn des Spielers.
„Dann folge ich deiner Empfehlung, spiel alles von Anfang an ab.“
„Wird gemacht, Ning“, erklang ein letztes Mal die weibliche Stimme, ehe auf der runden Fläche ein dreidimensionales Abbild von Raoie projiziert wurde.
„Ein Spielanfänger…? Und kein Chinese?“, fragte Ning verblüfft, als sich langsam heraus kristallisierte, dass Bahes Avatar Anael scheinbar die Hauptrolle in dieser Anomalie spielen würde.
Ning betrachtete die Aufnahme konzentriert, konnte zunächst jedoch keine Besonderheiten feststellen. Ein Grinsen stahl sich ins Nings Gesicht, als er Anaels Wutanfall über die körperbedingte Reduzierung seiner Stats miterlebte.
Und nach Anaels genialen Einfall, einem der umstehenden Bäume einen Faustschlag zu verpassen, musste Ning laut loslachen.
Es folgten Anaels erste Jagdversuche, sein jämmerliches Scheitern im Rudel der Wurzelkaninchen, sowie die plötzliche Flucht durch das Waldgebiet gen Norden.
Ning musste sich währenddessen darum bemühen vor Lachen nicht von seinem Sessel zu fallen. Anaels Anblick wie er zum ersten Mal gegen die kleinen Monster antrat und anschließend hilflos das Weite suchte, trieben ihm vor Lachen die Tränen in die Augen.
Der Bengel machte so ziemlich alles falsch, schüttelte Ning den Kopf. Dennoch stimmte irgendwas mit Anaels Spielverhalten nicht.
„Aoie, was hast du bisher verheimlicht? Irgendwie wirkt sein Verhalten ein Bisschen zu überzogen.“
„Ah, du hast es schon gemerkt…“, erklang Aoies Stimme mit einem schmollenden Unterton.
Ning verdrehte genervt die Augen, fragte aber dennoch ein weiteres Mal: „Also, was genau stimmt mit ihm nicht?“
„Der Spieler, Bahe Dragon, erlebt die Welt Raoie durch seinen Avatar Anael mit einem Schmerzempfinden von 100%.“
„Er hat sein Schmerzempfinden auf 100% eingestellt?!“, rief Ning aufgebracht. „Hat er etwa mit einem der defekten Mietsysteme gespielt?“
„Ja.“
„Hahahaha!“, jetzt kannte Ning kein Halten mehr. Er plumpste vor Lachen tatsächlich von seinem Sessel. Immer noch den Kopf schüttelnd, setzte sich Ning schließlich wieder hin und Aoie fuhr fort: „Das defekte System ist bereits gemeldet und wird in zwei Wochen eingezogen.“
„Beschleunige das, wir können uns nicht erlauben, dass solche Fehltritte weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich sind.“
„Entsprechende Order wird an die Verantwortlichen umgehend weitergeleitet.“
„Gut.“
Ning beobachtete Anaels Aufzeichnung nun genauer und konnte nicht umhin eine gewisse Ehrfurcht vor diesem jungen Spieler zu entwickeln. Das Durchhaltevermögen des jungen Mannes war wirklich atemberaubend.
Als Anael wenig später in den See fiel, hielt Ning den Atem an. Er wusste welche Kreatur sich in der unmittelbaren Umgebung aufhalten musste. Schließlich hatte er sich stark an der Entwicklung der legendären Berufsklassen und den Bedingungen ihrer Freischaltung im Spiel beteiligt. Es hatte ihm immer eine besondere Freude gemacht, ungewöhnliche Berufsklassen zu entwickeln.
Legendäre Berufsklassen waren nicht grundsätzlich selten, vielmehr begrenzten die umfangreichen und ungewöhnlichen Vorbedingungen ihre Entdeckung. Es fing schon allein damit an, dass die Spieler in ihrem Beruf den Rang der Großmeister erreichen mussten, ehe sie überhaupt eine Chance hatten, vor die Wahl zweier, neuer Klassen gestellt zu werden. Erst nachdem sich die Spieler für eine der beiden Klassen entschieden, wurden ihnen die Bedingungen für den Berufswechsel bekannt gegeben.
Ning freute sich schon innerlich auf die ersten Spieler, die im Glauben den Jackpot geknackt zu haben, zunächst an schier unmöglichen Aufgaben verzweifeln würden. Ja, Schadenfreude war schon eins seiner Laster, grinste er in sich hinein.
Da die Spieler die Welt Raoie jedoch gerade erst seit ein paar Monaten bereisten, war an den Großmeister Rang in irgendeiner Berufsklasse noch lange nicht zu denken.
Ausgerechnet dieser, aus dem Westen stammende, junge Mann hatte mit dem Sturz in den Kathar-See jedoch unwissentlich den ersten Schritt zur Entdeckung der legendären Berufsklasse der Elementflüsterer getan.
Ning lehnte sich zurück und wartete. Er war gespannt darauf, wie der junge Spieler wohl mit der Wächterkreatur des Sees zurechtkommen würde.
Es dauerte nicht lange bis sich der Avatar Anael bereits auf der Flucht befand. Ning sah, wie er den Baum hinauf und hinunter kletterte und anschließend immer weiter nördlich durch den Wald rannte.
Scheinbar hatte sich der Junge im Vorhinein in keinster Weise über das Spiel informiert, dachte Ning resigniert. Sonst hätte er niemals diese selbstmörderische Richtung gewählt.
Es folgte, was kommen musste. An den Klippen der großen Drachenschlucht holte ihn die Wächterkreatur ein und trotz aller Bemühungen Anaels endete es damit, dass sie gemeinsam in den Abgrund fielen.
Angespannt fieberte Ning mit und starrte gebannt auf die fallenden Körper. Es ging unglaublich schnell, ehe sich Anael in einer Verzweiflungstat die Umgebung zunutze machte und das Monster mit dem Kopf voran gegen die Felsen beförderte.
„Wie viele Meter mehr hätten seinen Tod im Spiel bedeutet, Aoie?“
„Wären sie noch zwei Meter tiefer gefallen, hätte seine HP-Zahl nicht mehr ausgereicht.“
Unfassbares Glück!
Aber auch unglaubliche Willensstärke!
Ning war schwer beeindruckt. Wie Anael dagegen angekämpft hatte gefressen zu werden, angetrieben von dem Gedanken, zumindest noch dem Monster den Gar auszumachen, ehe man selbst starb… Sowas war eine Seltenheit.
Er erlebte es jeden Tag auf ein Neues, wie die Spieler sich überschätzen, dies irgendwann merkten und dann schlicht weg aufgaben. Natürlich wollte niemand unnötig Schmerzen erleiden, doch aller Reize eines hohen eigenen Levels zum Trotz, nahmen die Spieler den Tod in Raoie nur zu oft widerstandslos in Kauf.
Zwar war sich Ning nicht ganz sicher, was die plötzliche Entschlossenheit in Anael hervorgerufen hatte, innerlich konnte er jedoch nur Beifall klatschen.
Die Aufnahmen liefen weiter und zeigten Anael, wie er sein Profil aufrief und sich anschließend hektisch an den Abstieg machte.
„Er hat den Abstieg gewählt…?“, flüsterte Ning vor sich hin.
„Erstaunlich, nicht wahr?“, hallte Aoies Stimme ebenso leise durch den Raum.
In den nächsten Szenen wurde Ning Zeuge, wie Anael sich des Horns der Wächterkreatur bemächtigte und nach kurzer Freude wieder dem Abstieg widmete. Langsam machte der Junge etwas richtig, musste Ning ihm zugestehen, als das Bild plötzlich gefror.
„Entschuldige bitte die Störung Ning, aber Herr Rui Ju Fan möchte dich sprechen“, während Aoies Stimme ertönte, öffnete sich über der projizierten Szene eine Liveaufnahme der Überwachungskamera die vor der Sicherheitstür des Raumes platziert war. Die Aufnahme zeigte einen seiner Kollegen und besten Freunde. Verstrubbeltes Haar, ein Kinnbart der das rundliche Gesicht spitzer wirken ließ und leicht übergewichtig in der Statur, grinste Fan in die Kamera hinein.
„Bitte ihn herein, Aoie.“
Mit einem mechanischen Zischen öffnete sich die Tür.
„Hey, Ning! Ist heute irgendetwas Aufregendes passiert?“, schallte es Ning entgegen als Fan eintrat.
„Du hast Glück, es ist tatsächlich eine Anomalie aufgetreten.“
„Äh… was?!“, Fan war stehen geblieben und blickte ihn entgeistert an.
„Halb so wild, setz dich doch“, erwiderte Ning und fuhr an die künstliche Intelligenz gewandt fort: „Aoie, wenn du so lieb wärst uns noch eine Sitzmöglichkeit zu besorgen.“
„Selbstverständlich, treten Sie näher Herr Rui Ju Fan.“
„Aoie, nenne mich bitte nur Fan, das reicht.“
„Wie du willst, Fan“, erklang Aoies Stimme erneut, als sich unweit von Nings Sitzplatz eine Luke öffnete und sich ein weiterer Sessel aus dem Boden erhob.
„Also jetzt mal Klartext, Ning. Eine Anomalie? Was zum Henker, ist passiert? Wenn du so etwas sagst, ist das keine Kleinigkeit!“
„Hmmm… warte mal ab, ich zeige es dir am bestem von Anfang an. Aoie, kannst du die spielinternen Aufnahmen bitte nochmal von vorne abspielen?“
„Wird gemacht.“
Im nächsten Augenblick begannen die Aufnahmen von vorne.
„Kein Chinese?“, erklang Fans fragende Stimme und Ning musste sich ein Schmunzeln verkneifen.
Es dauerte nicht lange, bis der Raum vom schallenden Gelächter Fans erfüllt war. Ning konnte zwischendurch nur den Kopf schütteln. War es ihm beim ersten Mal nicht genauso ergangen?
Letztlich zeigten die Aufnahmen wieder wie Anael die Felswand hinunter kletterte und die Frucht entdeckte. Ning schlug nur die Hände vor sein Gesicht. Wenn der Junge auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte, wie wertvoll die Frucht war, hätte er sie niemals gegessen. Fan grölte währenddessen lauthals los vor Lachen und brauchte ganze zwei Minuten, um sich wieder einzukriegen.
„Na, wieder beruhigt, Fan?“, fragte Ning ihn belustigt.
„Ja… ja…“, meinte Fan glucksend. „Wohin soll das noch führen? Ich meine, dieser Noob hat doch keine Ahnung von Raoie! Was hat er angestellt, dass du ihm deine Aufmerksamkeit widmest? Wenn ich nur daran denke, dass er die Frucht doch tatsächlich gegessen hat! Bahahaha!“
„Nun, soweit war ich vorhin noch nicht, aber wenn ich Aoie glauben darf, können wir uns noch auf eine größere Überraschung freuen.“
„Nur zu, nur zu“, sagte Fan und grinste breit vor sich hin.
Was folgte, war Anaels große Kletterpartie. Die Minuten zogen sich dahin und zwischendurch baten sie Aoie sogar die Aufnahmen etwas vor zu spulen.
Ning war vollkommen verblüfft, wie der Junge die Felswand schließlich bezwungen hatte. Fan hingegen, fiel bei der nächsten Szene regelrecht die Kinnlade hinab. Der Erddrache wurde auf Anael aufmerksam und von da an ging alles Schlag auf Schlag. Man sah wie der Drache Anael verfolgte und dieser schließlich mitten in den Kampf des Erddrachen mit dem Wasserdrachen hinein geriet.
„Der Junge hat so ein verdammtes Glück, dass er immer noch am Leben ist…“, schüttelte Fan zwischendurch ungläubig den Kopf.
Auch Ning staunte über die abgespielten Szenen. Niemals hätte er gedacht, dass sich solch eine Situation bereits in den ersten sechs Monaten nach Spielveröffentlichung ereignen könnte!
„Ist der Ausländer am cheaten[ii]…?“, fragte Fan nach ein paar Minuten entgeistert.
„Da ich die Welt Raoie persönlich überwache, ist dies nicht möglich, Fan“, antwortete Aoies Stimme.
„Aber…“, setzte Fan erneut an.
Wurde aber durch Ning unterbrochen: „Fan, du weißt genauso gut wie ich, dass unser System wasserdicht ist. Niemand hat bisher auch nur eine Ahnung wie unsere Technik funktioniert, geschweige denn wie man sie manipuliert.“
„Und was genau, soll dann bitte schön die Anomalie sein? Ich meine, ich habe mich köstlich amüsiert, Ning, aber sehe immer noch nicht worauf es hinaus laufen soll…“
„Die Aufnahmen gehen noch zehn Minuten, Fan“, antwortete Aoie.
„Ich bin gespannt“, sagte Fan achselzuckend als er ansonsten nur den nichtssagenden Blick von Ning erntete.
Kaum wandte sich Fan wieder der Projektion zu, verschärfte sich Nings Blick. Er hatte eine ziemlich genaue Ahnung worauf es hinaus laufen würde. Zuerst die Bisse und Kratzer, dann der See und die Frucht, sowie letztlich das vom Drachenblut getränkte Wasser am Boden der Grube. Anael hing noch einen Moment an den Felsen, ehe er hinab stürzte und ins blutige Wasser fiel.
Fast im gleichen Augenblick schien Fan endlich zu einer Erkenntnis gekommen zu sein: „Hey, Moment mal! Das ist doch nicht etwa…“, weiter kam er nicht, als Anael mit dem Horn in der Hand plötzlich zu schreien begann.
Ning musste zugeben, dass es schon ein erschreckender Anblick war, wie sich die Adern unter der Haut Anaels wölbten, als ob sie lebendig seien. Der Gedanke, dass der Spieler die Schmerzoption auf den vollen hundert Prozent Stehen hatte, ließ ihm einen Schauder über den Rücken laufen.
Grundgütiger muss der Junge gelitten haben…
Mehrere Minuten hallten Anaels Schreie durch den Raum, ehe sie von einem Keuchen und heftiger Atmung verdrängt wurden.
Dann war es so weit und Anael wurde die legendäre Klasse angeboten. Ning sah noch kurz Anaels vor Freude strahlenden Ausdruck, ehe sich dessen Gesicht in Maske aus Angst und Panik verzerrte.
Der Wasserdrache schnappte nach ihm und riss Anael in Fetzen blutigen Fleisches.
„Die legendäre Berufsklasse der Elementflüsterer?!“, hauchte Fan. „In jeder Simulation, sollten die legendären Klassen frühestens in zwei Jahren freigespielt werden und dieser Junge hat sie bereits nach sechs Monaten? Was machen wir jetzt? Wir werden ihm ja wohl kaum erlauben können, die Klasse beizubehalten. Er wäre bereits nach einer Woche viel zu übermächtig, ganz zu schweigen davon, wenn er seinen Avatar erst mal hoch gelevelt hat.“
Ning musste schmunzeln, als er Fans Meinung hörte und sagte: „Man merkt, dass du dich nie wirklich mit den legendären Berufsklassen auseinander gesetzt hast. Eine legendäre Berufsklasse bringt nicht nur Vorteile mit sich. Tatsächlich könnte es für diesen Anael erheblich schwieriger werden, als für andere Spieler in Raoie zurechtzukommen.“
„Ning, dir ist schon klar, wie mächtig seine Startfähigkeiten sind?!“, meinte Fan aufgebracht.
„Und wenn schon… Er ist mit seinem Tod wieder auf Level 0 zurückgefallen und ist ein vollkommender Spielanfänger. Du weißt genauso gut wie ich, dass er mit diesen Fähigkeiten zunächst überhaupt nichts anfangen kann.“
„Es hatte einen Grund, weshalb wir die Kriterien für die legendären Berufsklassen so hoch angesetzt haben, Ning!“
„Dennoch bestand die Möglichkeit die Klasse zu erspielen.“
Stöhnend verdrehte Fan die Augen: „Aoie, kannst du mir bitte die prozentuale Wahrscheinlichkeit berechnen, dass jemand die legendäre Berufsklasse der Elementflüsterer entdeckt, ohne zuvor die geheime Klasse der Elementbeschwörer entdeckt zu haben?“
„Die Wahrscheinlichkeit liegt bei 0,02%.“
„Bitte sehr, da hast du es! 0,02%! Unwahrscheinlicher geht’s ja wohl kaum noch!“
Ning grinste: „Du hast Recht, unwahrscheinlich aber nicht unmöglich.“
„Boar, komm schon, Ning…“
„Nein, höre du mal zu. Hast du dir eigentlich mal genau angesehen, wie dieser Junge gespielt hat? Wie er doch so offensichtlich ein Anfänger ist und trotzdem alles in Raoie gibt? Wie er sich vor der Wächterkreatur versteckt hat?“
„Hinter Felsen kann sich doch wohl jeder verkriechen“, winkte Fan ab.
„Er ist perfekt umher geschlichen und hat sogar noch auf die Windrichtung geachtet, Fan! Hättest du den Abstieg an der Felswand geschafft? Welche normale Spieler beschäftigt sich denn Stunden lang damit an Fels und Lianen hinab zu klettern?! Die Meisten hätten sich einfach in den Abgrund gestürzt und am nächsten Tag von vorne begonnen. Aber dieser Junge nicht!“
„Zugegeben, der Abstieg war eine Leistung. Aber alles andere war einfach nur reines Glück! Du kannst mir nicht erzählen, dass er genau geplant hatte die Wächterkreatur durch einen Sturz in die Schlucht zu erlegen. Mit den Drachen wollen wir mal gar nicht anfangen.“
„Da hast du natürlich Recht. Auch wenn er sich gewehrt hat, war schon viel Glück dabei. Aber kannst du dich an die besondere Wirkung der Frucht erinnern? Und du weißt noch nicht mal das Wichtigste! Der Junge hat mit einem Schmerzempfinden von 100% gespielt.“
„Was?!“, Fan blickte Ning schockiert an. „Du meinst, er hat diesen schrecklichen Tod mit dem vollen Schmerzempfinden erlebt?!“
Ning nickte nur.
„…“, Fan war zunächst sprachlos.
„Ursprünglich haben wir Raoie entworfen, um den Menschen eine neue Welt zum Leben zu geben. Eine Fantasy-Welt die voller Möglichkeiten steckt und sich unheimlich real anfühlt. Die Erfolge des jungen Mannes beruhen nicht allein auf Glück oder seinen Fähigkeiten sich zu verstecken. Er hat sich in Raoie so bewegt, wie wir es uns immer erhofft hatten. Mit vollem Körpereinsatz und Schmerzempfinden hat er nie aufgegeben, obwohl Raoie letzten Endes doch nur ein Spiel ist. Welch anderer Spieler hätte schon so lange solche Schmerzen ertragen und sich mit den unendlichen Strapazen abgeplagt, anstatt sich einfach schnell in den Tod zu stürzen und am nächsten Tag weiter zu spielen? Ich werde ihn nicht dafür bestrafen, dass seine Taten ihm zum Erfolg verhalfen.“
„Ich verstehe das schon“, meinte Fan. „Aber was machen wir, wenn die Spielbalance dadurch gestört wird?“
„Vertrau mir, dass wird sie nicht“, sagte Ning geheimnisvoll.
„Wie du meinst, ich muss wieder an die Arbeit“, erklärte Fan Kopf schüttelnd und ging Richtung Tür. „Bis später.“
„Ja, bis nachher“, rief ihm Ning nach.
Mit einem metallischen Surren schloss die Sicherheitstür wieder und es kehrte Ruhe in den Raum ein.
„Ist meine Annahme richtig, dass wir in dieser Sache nichts unternehmen?“, erklang Aoies Stimme.
„Deine Annahme ist richtig, Aoie“, lächelte Ning vor sich hin.
„Die Grundsätze, Paragraph 14, nicht wahr?“
„Ganz genau“, Ning nickte gedankenverloren vor sich hin, während er an einen der wichtigsten Grundsätze bei der Erschaffung von Raoie dachte: ‚Paragraph 14: Eine Welt und ihre Bewohner sind nur dann wirklich frei, wenn niemand von außen versucht sie zu kontrollieren‘
Er selber war sich noch nicht so sicher, ob er Anael beglückwünschen oder bemitleiden sollte. Ursprünglich war immer geplant gewesen, dass die Spieler zunächst die geheime Weiterentwicklung der Magierberufung, die so genannte Klasse der „Elementbeschwörer“ entdecken mussten. In dieser mussten sie es dann noch bis zum Rang eines Großmeisters schaffen und ein paar ungewöhnliche Parameter erfüllen, die dann schließlich zum Auslöser des legendären Berufsklassenpaars führten.
Dieser Anael hatte eine unglaubliche Abkürzung genommen und ohne es zu wissen, die aberwitzigen Voraussetzungen erfüllt, die zum Erlagen der legendären Klasse von Nöten waren.
Ning lachte in sich hinein, schon bald würde der Junge sein reines Wunder erleben. Er konnte es kaum abwarten die Reaktionen Anaels zu sehen, wenn er feststellte, dass er in seiner Berufsklasse bereits den Rang Legende inne hatte.
Oh ja, Schadenfreude war wirklich eins seiner größten Laster!
Jeder Kommentar motivert mich sehr! Denkt drüber nach mir ein paar Worte da zu lassen, wenn euch das Kapitel gefallen hat. :)
RiBBoN
[i] Bai Hui Ning ist, wie unschwer zu erkennen, ein chinesischer Name; sie unterscheiden sich in der Hinsicht von westlichen Namen, dass der Nachname (hier: Bai) zuerst genannt wird. Darauf folgt dann gewöhnlicher Weise ein Mittelname (hier: Hui), der die Bedeutung des Vornamens noch verstärken kann bzw. erkenntlich machen soll. Der Vorname (hier: Ning) wird dann als letztes genannt. Während der Nach-/Familienname ohne Bedeutung ist, wären die ungefähren Übersetzungen des Mittel- und Vornamens wie folgt: Intelligent (Hui) Gelassenheit (Ning).
[ii]cheaten = Computerspieljargon und englisches Wort für „betrügen“. Darunter ist im Allgemeinen die Nutzung illegaler Soft-/Hardware zur Beeinflussung des Spielausgangs zu verstehen.