Lin zwang mit Mühe ein paar Tränen zurück, zu sehr war sie von Bahes Verhalten gerührt. Sie hatte sich schon gewundert, wo er so lange blieb und dann stellte sich raus, dass die Kleinste der Familie solche Sorgen mit sich rumschleppte.
Die Bindung der Zwillinge zu ihrem großen Bruder war einfach etwas anderes, als die zu ihren Großeltern. Es tat gut zu sehen, dass die Kleine endlich mal ihre Ängste aussprach. Lin machte sich keinerlei Illusionen. Egal, wie jung die Kinder waren, sie verstanden schon wesentlich mehr als man glaubte.
Anfangs hatten die Zwillinge noch ständig nach ihrer Mutter und ihrem großen Bruder gefragt, aber mit der Zeit war es weniger geworden. Sie war sich ziemlich sicher, dass dies eher aus Angst vor schlechten Nachrichten geschehen war und nicht aufgrund einer Eingewöhnung.
Sie musste lächeln und gleichzeitig beinahe weinen, beim Anblick wie die Geschwister so liebevoll mit einander umgingen. In welch normaler Situation würde so etwas schon passieren?
Vermutlich würden sie sich eher um das Essen streiten und andere Kleinkriege miteinander austragen.
Lin seufzte innerlich, da sie es nicht wagte auf sich aufmerksam zu machen und zog sich von dem offenen Türspalt zurück, durch den sie zugesehen hatte. Mit leisen Schritten ging sie zurück in die Küche und schob den Topf mit dem aufgewärmten Essen auf die noch leicht warme Herdplatte zurück. Bahe würde schließlich jeden Augenblick nachkommen.
Sie schämte sich immer noch dafür, wie sehr sie heute im Krankenhaus die Fassung verloren hatte. Ausgerechnet vor dem Jungen, der sowieso schon so viel mit sich rum schleppte. Es war ein Wunder, dass Bahe bisher noch nicht an der Last all der Tragödien und Widrigkeiten seines so jungen Lebens zerbrochen war. Sie kannte Menschen, die weit weniger ausgehalten hatten.
Erst der Tod seiner leiblichen Mutter und der Umzug nach China, weit weg von allem Bekannten. Dann lernte er mit seiner neuen Familie gerade wieder zu leben, als auch noch sein Vater und seine Großeltern väterlicherseits verstarben. Anstand in Selbstmitleid zu versinken, wie es sein gutes Recht gewesen wäre, hatte er sich im Folgenden hingebungsvoll seinen Stiefgeschwistern und seiner Stiefmutter gewidmet und geholfen, wo es nur möglich war. Doch trotz all seiner Bemühungen, lag Sulin nun auch im Krankenhaus, während sie das Anwesen seines Vaters verloren und zu allem Überfluss hatte es auch noch Feitong erwischt, der nach einem Herzanfall das Bett hüten musste.
Ihr selbst war die ganze Situation heute Mittag einfach so sehr über den Kopf gewachsen, dass sie sich nicht mehr vollständig unter Kontrolle gehabt hatte. Bahe war hingegen noch immer entschlossen, die Probleme alleine zu bewältigen.
Lin wusste wirklich keinen Ausweg. Sie hatte am Vormittag bereits einen alten Bekannten angerufen, der früher für die Polizei gearbeitet hatte. Bai Tan Mao war ihr jedoch leider keine Hilfe gewesen. Soweit er wusste, hatte Shang wohl im legalen Rahmen gehandelt.
Da Feitong die entsprechenden Unterschriften geleistet hatte, konnte Shang mehr oder weniger tun was er wollte. Tan Mao vermutete, dass Shang das Anwesen später im Auftrag des Kredithais weiterverkaufen würde, um sich den Gewinn mit dem Mistkerl zu teilen. Auf legalem Weg besaß Tan Mao leider keine Möglichkeit ihnen zu helfen und hinsichtlich seines tadellosen Rufs hatte sie es einfach nicht übers Herz gebracht, ihn um ‚inoffizielle‘ Hilfe zu bitten.
Abgesehen davon hatte er ihr stark davon abgeraten sich mit diesem Kredithai Ping Lun weiter anzulegen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Er war den Behörden mit seiner Gang zwar bekannt, bisher jedoch jedem Strafersuchen erfolgreich entkommen, indem die Zeugen verschwanden. Es war offensichtlich, dass er dabei immer eine Hand im Spiel gehabt hatte. Nur nachweisen konnte man ihm nichts. Tan Mao hatte sie sehr ernst gebeten, zu berücksichtigen, dass dieser Typ eben nicht nur ein gewöhnlicher Ganganführer war.
Die schiere Hoffnungslosigkeit der Situation hatte sie im Krankenhaus dann einfach übermannt und dafür gesorgt, dass sie vor Bahe die Fassung verlor.
Es tat ihrem Herzen weh, zu sehen, wie kontrolliert sich Bahe im Gegensatz zu ihr gegeben hatte. Kein Jugendlicher sollte so etwas durchmachen. Auch wenn er nach den Sitten des Landes inzwischen volljährig war… Er hatte viel zu früh erwachsen werden müssen…
Der Inhalt des Topfes fing derweil wieder zu dampfen an und sie rührte schnell noch einige Male um.
Beinahe gleichzeitig erklangen hinter ihrem Rücken leise Schritte, ehe sie Bahes Stimme vernahm.
„Sie schläft jetzt wieder.“
„Gut, dein Essen ist jetzt auch fertig“, erklärte Lin und schaltete die Herdplatte aus.
„Super, ich habe sowas von Hunger“, sagte Bahe grinsend, während er am Esstisch Platz nahm und breit grinsend auf den Topf starrte mit dem sich Lin gerade umdrehte.
„Keine Sorge, ist noch genug da“, musste Lin lächeln und stellte den Topf auf dem Tisch ab.
„Hiermit kannst du dich bedienen“, sagte sie und reichte ihm noch einen großen Löffel.
„Danke“, antwortete ihr Enkelsohn und machte sich sofort daran seinen Teller zu füllen.
„Wir dachten wirklich alle, dass du wieder verschwinden würdest, Bahe“, sagte sie Bahe ernst.
„…“, Bahe hielt einen Moment inne. „Das hatte ich nie vor.“
„Wieso bist du dann verschwunden?“, fragte sie vorwurfsvoll.
„Ich…“
„Warte, Bahe, hör mich erst mal an“, bat sie Bahe und dachte darüber nach, wie sie es am besten zum Ausdruck brachte. „Soweit es Feitong und mich betrifft, sind wir alle eine große Familie und wir halten zusammen. Du bist einfach verschwunden, ohne uns irgendetwas zu erklären. Das geht nicht mehr… Nicht nur wir machen uns Sorgen, selbst deine kleinen Geschwister wurden panisch und wollten unbedingt nach dir suchen…“
„Tut mir Leid…“, antworte Bahe leise. „Daran habe ich gar nicht gedacht…“
„Das ist mir auch klar“, sagte Lin. Fuhr jedoch fort, als sie merkte, dass sie wahrscheinlich gerade zu streng klang. „Wieso bist du überhaupt verschwunden…?“
„Ich… ich wollte einen alten Bekannten meines Vaters aufsuchen. Er war Polizist und ich dachte, wenn uns jemand helfen kann, dann er…“
Wenn es doch bloß so einfach wäre, dachte Lin betrübt.
„Und? Hattest du Erfolg?“
„Leider nicht, er ist wohl angeblich mit seiner Familie nach Dazu gezogen. Da wollte ich Morgen hin…“
„Ich habe auch schon…“, setzte Lin an.
„Ja?“, fragte Bahe.
„Ach, vergiss es“, winkte sie ab. Sie wollte ihm nicht die Hoffnung nehmen, indem sie ihm erzählte, dass sie es mit der Polizei bereits versucht hätte. „Aber wie willst du denn in Dazu vorgehen? Er könnte doch überall stecken… Das ist ja noch schlimmer als eine Nadel im Heuhaufen zu suchen…“
„Na ja, ich gehe davon aus, dass er immer noch als Polizist arbeitet. Sofern ich die ganzen Polizeireviere abklappere, sollte ich doch eine Chance haben ihn zu finden.“
„Dir ist schon klar, dass du niemals an einem Tag ganz Dazu durchkämmen kannst?“
„Ähm, ja…?“, fragte Bahe verunsichert.
„Hast du dir mal darum Gedanken gemacht, wie das Ganze ablaufen soll? Wo schläfst du? Und was ist mit deinen Geschwistern und deiner Mutter?“, erklärte Lin fragend.
Bahe schwieg darauf, offensichtlich ertappt.
Lin fasste sich seufzend an den Kopf und schloss kurz die Augen. Ach, bei allen Himmeln… wenn der Junge damit seinen Frieden finden würde, dann soll er eben nach Dazu fahren…
„Ich erlaube es dir Morgen nach Dazu zu reisen unter einer Bedingung“, setzte Lin schließlich an.
„Und die wäre…?“, horchte Bahe auf.
„Du kommst jeden Abend zurück und isst mit deinen Geschwistern und Großeltern zu Abend“, erklärte Lin.
„Aber dann brauche ich ewig!“, versuchte es Bahe.
„Nichts da! Entweder du kommst nach Hause oder ich erzähle deiner Mutter davon. Ich bin mir sicher, dass sie sogar die Klinik verlässt, um nach dir suchen zu können.“
„Oma, das ist unfair…“, lamentierte Bahe.
Lin grinste: „Das sollte es ja auch sein.“
„…“ Bahe schien sprachlos zu sein.
Setzte nach einigen Augenblicken aber doch nochmal an: „Was machen wir denn, wenn wir den Verkauf nicht aufhalten können? Was, wenn wir wirklich nicht genug Geld für die Operation bekommen, Oma?“
„Für den absoluten Notfall, haben dein Großvater und ich noch etwas angespart. Sollte es nicht anders gehen, werden wir unser letztes Konto plündern. Das Geld reicht gerade aus, um die Operation zu bezahlen. Die Reha-Behandlungen werden dann halt hier zu Hause stattfinden müssen“, sagte sie.
„…“ Bahe schwieg zunächst und schaute sie skeptisch an.
Lin lächelte und erklärte: „Eigentlich solltest du davon noch nichts erfahren, aber wir haben für dein Studium an einer Universität gespart und dafür ein Konto angelegt. Das Geld wollten wir jedoch nicht anrühren, solange es nicht notwendig ist…“
Bei der Nachricht machte Bahe ungläubig große Augen und kaum einen Moment später stahl sich ein echtes Lächeln auf sein Gesicht.
„Das ist ja super! Wieso habt ihr das nicht schon viel eher erzählt?“, fragte Bahe freudestrahlend.
„Es sollte halt ein Geheimnis bleiben!“, antwortete Lin gespielt genervt und fuhr fort. „Jetzt iss erst mal in Ruhe und dann leg dich schlafen, wenn du wirklich Morgen nach Dazu willst. Du wirst lange unterwegs sein.“
Bahe nickte nur noch und schaufelte sich noch mehr Essen auf seinen Teller.
Zehn Minuten später verließ Bahe eifrig die Küche, unter dem Vorsatz, alles für Morgen vorbereiten zu wollen.
Lin sah ihm nach und räumte den Tisch ab. Als Bahe Anstalten gemacht hatte, sein Geschirr wegzuräumen, hatte sie ihn gebeten einfach alles liegen zu lassen.
Hätte er sich noch länger in der Küche aufgehalten, wäre ihm vielleicht doch noch etwas aufgefallen. Nur mit Mühe hatte Lin sich die ganze Zeit nichts anmerken lassen.
Natürlich verfügten sie gerade nicht über dieses besagte Konto, auf dem noch Geld vorhanden sein sollte… Ihr war nur schlicht weg keine bessere Notlüge eingefallen.
Feitong hatte nie genug verdient, um auch nur Geld für die Universitätsgebühren der eigenen Tochter ansparen zu können, ganz zu schweigen für die der Enkelkinder…
In dieser Verzweiflung hatte es Bahe kaum in Frage gestellt…
Lin hasste sich selbst für diese Lüge. Morgen würde sie als erstes sämtliche Banken der Umgebung, um einen Kredit anbetteln. Es musste irgendeine Möglichkeit geben Sulin zu retten, aber es war nicht Bahes Pflicht eine Lösung zu finden.
Feitong und sie selbst mussten sich darum kümmern. Schließlich hatten sie diese Situation erst heraufbeschworen. Würde ihr Mann sich nicht solche Vorwürfe machen, wäre sie vermutlich wütend auf ihn gewesen. So aber, konnte sie sich nur eingestehen, dass sie beide blind im Angesicht von Shangs Niederträchtigkeit gewesen waren.
Ihre Augen wurden für einen Moment feucht und die Mundwinkel zuckten, ehe sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zwang und erneut die Maske aufsetze, mit der sie Bahe in den letzten Minuten begegnet war.
Trauer oder Verzweiflung konnte sie sich nicht leisten, nicht mehr. Sie hatte mit Feitong gesprochen, sobald er entlassen wurde, würde er sich an der Suche nach einem bezahlbaren Kredit beteiligen.
Hoffnung… sie war winzig… aber noch nicht vollends gestorben.
Mit einem tiefen Atemzug und angespannter Miene spülte sie noch den Teller und machte sich danach Bett fertig. Morgen musste sie schließlich früh raus.