„Han Ning, beeil dich, du musst zur Arbeit!“
Genervt öffnete er die Augen und starrte sein Spiegelbild an.
Seine Haare färbten sich seit einigen Jahren bereits zunehmend grau. Die kleinen Fältchen um seine Augen und Mundwinkel wurden auch immer mehr. Es war nicht zu übersehen, dass der Stress der letzten Jahre ihm zugesetzt hatte. Aber wozu das alles?
Stöhnend bemerkte er ein weiteres Mal wie seine Augen ihn stumpf aus dem Badezimmerspiegel anstarrten. Solch ein lebloser Blick...
Es war der Blick eines Versagers, der sich mit dem Unvermeidlichen bereits abgefunden hatten. Seit zwölf Jahren war er nun bereits bei der Kanzlei und war doch nur Senior Associate. Was im Endeffekt hieß, dass er zwar eigene Fälle bearbeiten konnte, sich aber nicht aussuchen durfte, welche.
Würde es nicht die Reglementierungen geben, dass ein Anwalt mit zunehmendem Dienstalter mehr verdiente und diese Stellung automatisch erhielt, wäre es wahrscheinlich nicht mal dazu gekommen. Zu oft war er bei Beförderungen inzwischen übergangen worden, als dass er noch Kraft gehabt hätte, sich darüber zu beschweren.
„Han Ning! Du musst los!“, brüllte seine Frau erneut aus der Küche.
Familie… früher hatte er durch sie die Ungerechtigkeiten auf der Arbeit ertragen können. Heute erinnerte ihn das Geschrei seiner Frau nur erneut daran, wie sehr sie sich inzwischen auseinander gelebt hatten.
Er hatte noch mehr als genug Zeit die nächste Bahn zu bekommen, aber seine Frau konnte es scheinbar nicht erwarten ihn loszuwerden.
Wenigstens würde er heute die Ergebnisse seines Privatdetektives bekommen. Schon lange hegte er die Vermutung, dass seine Frau eine Affäre hatte. Wann genau es begonnen hatte, wusste er gar nicht mehr. Aber mit der Zeit hatte er festgestellt, dass seine Frau mehr Zeit außer Haus verbrachte als gewöhnlich.
Es wunderte ihn gar nicht so sehr… Sie hatten zuletzt vor knapp einem Jahr miteinander geschlafen und auch das war mehr ein Pflichtakt als alles andere gewesen.
Begehrte er sie noch? Liebte er sie noch?
Er wusste es nicht.
Im Grunde war es ihm auch egal. Im war so vieles egal geworden.
Von der Midlife-Crisis sprachen einige seiner Kollegen, wenn sie mal eine deprimierte Phase hatten. Doch die Idioten hatten keine Ahnung. Abgesehen davon, dass sie noch viel zu jung dafür waren, machte ihnen der Chef auch nicht das Leben zur Hölle. Er selbst hingegen, stand seit Jahren auf der Abschussliste des neuen und damit zugleich auch jüngsten Vollpartner der Kanzleigeschichte.
Bei En Rui der Star des Rechtssystems der Stadt! Bei En Rui, der Wohltäter! Bei En Rui, der Vollstrecker!
Es verging kaum ein Tag, an dem sich dieses Arschloch nicht in den Medien präsentierte. Wahrscheinlich bezahlte er so manchen Reporter sowieso dafür, damit sie ihm besonders wohl gesonnen waren. Pah!
Dieser Bastard hatte dafür gesorgt, dass er bereits mehrere Jahre in Folge bei den Beförderungen übergangen worden war und noch immer keine richtigen Fälle bekam. Vor Jahren hatte er einmal mit ihm zusammenarbeiten müssen. Es war einer der wichtigsten Fälle seiner Karriere gewesen. Beim Sieg hätte ihm entweder eine Junior-Partnerschaft oder zumindest die Position eines Salary-Partners zugestanden. Und was passierte?
Bei En Rui, der damals noch als Han Nings Assistent arbeitete, nutzte seine Befugnisse schamlos aus, um die Anhörung vorzuverlegen, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzten!
Doch damit nicht genug. Er gab zudem an, dass Han Ning durch einen Autounfall verhindert wäre und führte die Verteidigung ihres Klienten selbst durch. Selbstverständlich mit nichts anderem als dem von Han Ning über Wochen vorbereitetem Material.
Die Kanzlei hatte den Prozess gewonnen, wenn hinsichtlich der Unfähigkeit Bei En Ruis auch nur knapp. Aber selbstverständlich wurde damals darüber hinweg gesehen, da er eigentlich gar nicht für den Fall verantwortlich war und die Kanzlei vielmehr vor einer Blamage bewahrt hatte.
Han Ning hatte im Gegenzug sämtliche Verantwortung tragen müssen und war im Ansehen des Vorstands vollends abgesunken. Während ihm sein damaliger Chef noch darüber belehrte, dass er Bei En Rui dankbar sein sollte, dass dieser so viel Eigeninitiative gezeigt hatte, hatte dieser Mistkerl, mit dem für ihn typischen, arroganten Engelslächeln der ganzen Szene beigewohnt und nichts unternommen.
Eine solche Unverschämtheit war Han Ning noch nie untergekommen. Er hatte damals einfach nicht gewusst, wie er darauf reagieren sollte und ehe er sich versah, war Bei En Rui vom Assistenten zum vollwertigen Anwalt und weiter zum Junior-Partner aufgestiegen.
Was folgte waren Jahre der Quälerei, in denen dieser Bastard alles tat, um ihn vor der Kanzleiführung möglichst schlecht da stehen zu lassen.
Dann, vor zwei Monaten, war es soweit und Bei En Rui stieg zum vollwertigen Partner der Kanzlei auf. Seitdem war alles nur noch schlimmer geworden, da dieses Arschloch sich ihm gegenüber nun erlauben konnte was er wollte, ohne irgendjemanden Rechenschaft ablegen zu müssen.
Han Ning seuftze.
Ein furchtbarer Job… Eine untreue Ehefrau…
„Papa, kann ich in’s Bad? Ich muss mich fertig machen.“
„Aber natürlich, Mu Rui, ich bin fertig“, antwortete er schnell und öffnete die Tür.
Seine siebzehnjährige Tochter gab ihm einen flüchtigen Schmatzer auf die Wange und machte sich dann eiligst daran ihr bescheidenes Make-Up aufzutragen.
Trotz aller Widrigkeiten musste Han Ning lächeln. Seine beiden Töchter waren sein einziger Lichtblick. Ihretwegen schuftete er Tag für Tag im Büro, auch wenn es bedeutete sich weiter von En Rui erniedrigen zu lassen.
Ohne es noch länger heraus zu zögern, zog er sich seine Anzugsjacke über, prüfte ein letztes Mal, ob seine Krawatte richtig saß und ging in die Küche, um sich seine Mittagsmahlzeit abzuholen, die seine Frau immer noch aus Gewohnheit machte.
Die Küche fand er jedoch leer vor. Verdutzt schaute er sich um, entdeckte seine Frau aber nirgends. Auf dem Esstisch stand seine Lunchbox, ansonsten war nichts zu sehen. Ohne weiter drüber nachzudenken, ging er hinüber und griff bereits nach der Box als er den kleinen Zettel bemerkte, den sein Frau offensichtlich daran geklebt hatte.
Hast du in zwei Tagen Zeit? Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen.
Etwas Wichtiges, ja?
Na sicher, er hatte Zeit. Sie wird Augen machen, dachte er, wenn er ihr die Beweise für ihre Untreue vorlegen würde. Han Ning war gespannt was sie danach noch zu erzählen hatte.
Er packte die Lunchbox schnell in seine Tasche und machte sich danach auf den Weg zur Arbeit. Dann kam er eben früher, so konnte er auch früher gehen. Nicht, dass er wüsste, was er mit seiner freien Zeit an stellen sollte…
Fünfundvierzig Minuten später setzte er sich gerade mit bearbeitetem Fallmaterial auf seinen Bürostuhl, als sein Albtraum höchst selbst das Großraumbüro betrat.
„Han Ning!“, bellte das Monstrum bereits von weitem und brachte ihn innerlich vor Wut zum Kochen.
„Was gibt es, Herr Bei?“, fragte Han Ning bemüht neutral.
„Du arbeitest am Fall Shi, oder?“
„Ähm… ja…“, antwortete er nichts Gutes ahnend.
„Gib den Fall an Herrn Xing ab. Du wirst diesen Fall erledigen“, stellte der En Rui klar und warf ihm eine neue Fallmappe hin.
Han Ning schlug die Mappe auf und überflog kurz den Inhalt, ehe er große Augen machte.
„Aber der Klient wohnt ja in Dazu“, sagte er ungläubig.
„Deswegen durftest du ja auch den anderen Fall abgeben“, erklärte En Rui süffisant und fuhr fort. „Dir wird ein Bisschen Ablenkung und frische Luft gut tun. Vielleicht verbessert sich dann endlich mal deine Erfolgsquote. Die anderen Führungsmitglieder haben mir nämlich zu verstehen gegeben, dass du mindestens einen zufriedenen Kunden bis Ende der Woche vorweisen solltest. Ansonsten kann ich für die Sicherheit deines Jobs nicht mehr garantieren.“
Danach drehte En Rui sich um und ließ Han Ning geschockt zurück.
Jetzt war es also soweit, er wollte ihm auch noch seinen Job nehmen. Einen zufriedenen Kunden konnte man schließlich nur vorweisen, wenn man auch einen Prozess abschloss. En Rui hatte ihm soeben den Fall genommen, der kurz vor dem Prozessende stand. Stattdessen sollte er jetzt einen Mandanten vertreten, dessen Prozess erst in drei Wochen angesetzt war. Selbst die Chance vor Ort nach einem anderen Fall zu suchen, den er notfalls auch ohne Bezahlung übernehmen konnte, hatte En Rui ihm verwehrt… Der Termin mit seinem neuen Klienten war noch für heute Nachmittag vereinbart. Han Ning musste sich ran halten, wenn er rechtzeitig nach Dazu kommen wollte.
Was machte er jetzt?
Ein beklommenes Gefühl der Verzweiflung machte sich in ihm breit.
Im Grunde hatte En Rui ihn jeder Möglichkeit beraubt, die absurden Ansprüche der Führungsriege zu erfüllen.
Wahrscheinlich war es sowieso dieser Bastard gewesen, der diese ganze Situation erst herauf beschworen hatte. Han Ning hatte noch nie davon gehört, dass irgendeinem Angestellten je ein solches Ultimatum gestellt wurde…
Bei En Rui, der Star, wer konnte ihm schon etwas abschlagen?
Han Ning machte sich keine Illusionen. Für diesen Mistkerl war es vermutlich ein Leichtes gewesen…
Konnte dieser Tag überhaupt noch schlimmer werden?
Sein Telefon klingelte und riss ihn aus den deprimierenden Gedanken.
„Hua Han Ning, von Chen Law Firm, was kann ich für sie tun?“, stellte er sich vor.
„Hallo Boss, Yongwa hier. Leider werde ich es zum vereinbarten Termin nicht schaffen können.“
„Was heißt hier, du schaffst es nicht? Wofür bezahle ich dich denn?!“, wurde Han Ning über die Worte des blöden Privatdetektivs sauer.
„Sorry Boss, ich musste mich zwischenzeitlich noch um einen anderen Auftrag kümmern. Du bekommst die Daten Übermorgen!“
„Hey, Moment ma-“
Han Ning starrte fassungslos vor sich hin, als er das typische Dauerpiepen eines beendeten Telefonats vernahm. Diese Ratte hatte doch allen Ernstes aufgelegt!
Noch vor Wut zitternd, wählte er die Nummer des Privatdetektivs, um ihn zur Rede zu stellen, doch dieser Dreckskerl nahm einfach nicht ab!
Der Tag konnte nicht mehr schlimmer werden, ja?
Er war es verdammt nochmal gerade geworden!
Heute Abend hatte er eigentlich die Mail über das Verhalten seiner Frau bekommen sollen! Jetzt musste er noch zwei Tage ausharren. Zwei verdammte Tage, von denen er nicht wusste was seine Frau wohl alles so trieb, während er nicht zu Hause war…
Innerlich fluchend, schnappte er sich die Fallakte, seine Arbeitstasche und machte sich auf zum Aufzug.
Den Himmeln sein Dank schuldete Chen Po ihm noch etwas. Als rechte Hand des einflussreichen Vorstandvorsitzenden, war er so ziemlich der Einzige, der ihm jetzt noch helfen konnte. Das aber auch nur, sofern Han Ning den Auftrag vertraglich festmachte. So oder so blieb ihm nichts anderes übrig als nach Dazu zu fahren.
Zur gleichen Zeit erwachte Bahe von seiner nächtlichen Spielaktion und packte schnell seine Reisetasche für die Fahrt nach Dazu. Anschließend ging er in die Küche, um sich Frühstück zu machen. Am Kühlschrank klebte ein Zettel. Seine Großmutter war wohl schon früh aufgebrochen, um die Zwillinge zum Kindergarten wegzubringen und nochmal mit einer Bank zu verhandeln.
Bahe nahm es nickend zur Kenntnis und setzte sich dann seinem Essen an den Esstisch. Während er frühstückte schweiften seine Gedanken immer wieder zurück zu seinen nächtlichen Aktionen.
Am Abend zuvor hatte sich die Welt von Raoie in neuer Weise um Bahe herum materialisiert. Er war tatsächlich direkt am Katharsee gespawnt[i]. Scheinbar hatten seine Elementare ausgereicht, um für eine gewisse Sicherheit zu sorgen.
Natürlich hatten seine Elementare ihn gefragt, wohin er denn die ganze Nacht über hin verschwunden wäre. Raoie war genauso von Tag und Nacht geprägt wie die reale Welt, mit dem einzigen Unterschied, dass es sich genau anders herum verhielt. Dadurch konnte sich Bahe abends einloggen und fand sich am frühen Morgen in Raoie wieder.
Damit Raoie sich allerdings möglichst lebensecht anfühlen konnte, war den NPCs aber auch durchaus bewusst, dass die Spieler zu gewissen Zeiten verschwanden.
Sie stellten Fragen nach dem Verbleib der Spieler und forderten durchaus konkrete Antworten. Übergang man die NPCs hierbei, stellten diese unter anderem jegliche Interaktionen mit den Spielern ein.
Bahe stand an dieser Stelle vor einer besonderen Herausforderung. Seine Elementare konnten sich nicht allzu weit von ihm entfernen, befanden sich aber auch in einem Dauerbeschwörungszustand. Wie konnte er ihnen also erklären, dass er sich förmlich im Nichts auflöste, ohne sich dabei zu sehr von ihnen zu entfernen?
Letzten Endes hatte er es auf eine Eigenschaft seiner Berufsklasse geschoben und seinen Elementaren oberflächlich erklärt, dass er zu diesen Zeiten schlafen müsste und dabei mit der Natur verschmolz. Das hatten ihm die beiden Elementare glücklicherweise abgekauft.
Das die Wächterkreatur verschwunden war, war eine weitere Konsequenz gewesen. Allerdings hatte es nicht lange gedauert, bis sie Bahes erneute Anwesenheit bemerkt hatte und sich wütend knurrend auf ihn stürzen wollte, nur um von Limona und Brocken ein weiteres Mal zum Platz nehmen verdonnert zu werden.
Kurz bevor sich Bahe zurück zur Stadt aufmachte, war es jedoch endlich Zeit zum Jubeln gewesen. Limonas und Brockens Treuewerte stiegen mit einem Satz um ganze 10 Punkte!
Der Aufenthalt am Katharsee hatte einiges gebracht. Leider kam jedoch auch gleich die Information, dass ein erneuter Aufenthalt an diesem oder einem anderen Katharsee keine weiteren Verbesserungen der Treuwerte bedingen würde.
Wäre auch zu schön gewesen, einfach noch neun weitere Male zum Katharsee aufbrechen zu müssen.
Den Rest des Tages verbrachte Bahe streng eingeteilt. Zuerst das Training unter Fenrir, anschließend ein längerer Aufenthalt in der Bibliothek und schließlich das erneute Jagen von Wildwurzelkaninchen.
Dieser Ablauf würde sich in den nächsten Tagen kaum ändern.
Bahe seufzte, während er sich sein Frühstück zum Mund führte. Wirklich spannend würde Raoie in den nächsten Tagen wohl nicht werden. Na ja, wenigstens machte er beim Bogenschießen Fortschritte.
Nach dem Essen, spülte er noch schnell sein Besteck und Geschirr und machte sich auf zum Bahnhof. Es wurde Zeit, dass er seine Reise nach Dazu unternahm.
[i] Gespawnt = Mit (Re-)Spawnen (vom englischen to spawn: hervorbringen) wird der (Wieder-)Einstieg einer Spielfigur, eines Nicht-Spieler-Charakters oder eines Gegenstandes an einem bestimmten oder zufälligen Spawnpunkt in einem Level eines Computerspiels bezeichnet.