„Wir sollten uns beeilen von hier weg zu kommen. Diese Idioten werden noch früh genug merken, dass ich sie rein gelegt habe“, sagte Bahe ernst, beschleunigte seine Schritte ein wenig und stellte dann die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte: „Wie kommt es denn eigentlich, dass ein Anwalt von solchen Schlägern gejagt wird?“
„Ha ha…“, lachte der Anwalt verlegen und meinte vage: „Ist eine lange Geschichte…“
„Ich habe Zeit“, grinste Bahe.
Diesmal musste Han Ning lauthals lachen, ohne jegliche Spur von Verlegenheit.
„Ich muss zum Bahnhof, sofern du einen ähnlichen Weg hast, erzähle ich dir gerne mehr“, zuckte Han Ning die Schultern
„Das passt ja perfekt. Der Bahnhof war auch mein Ziel.“
Han Ning zog bei Bahes Worten die Augenbrauen hoch, fing dann jedoch an zu erzählen: „Um es kurz zu machen… Ich wurde reingelegt.“
Han Ning lachte, als er Bahes missmutigen Blick sah.
„Keine Sorge, hier kommt die ausführliche Version“, meinte er mit einem Augenzwinkern an Bahe gewandt und fuhr fort: „Ein früherer Arbeitskollege hat mich vor einiger Zeit einmal vollkommen ausgespielt und erhielt dadurch eine Beförderung die mir zugestanden hätte. Seitdem hat er es ununterbrochen auf mich abgesehen. Wahrscheinlich fühlt er sich, mit mir immer noch in der Kanzlei, nicht richtig wohl. Er hat sich schließlich meine Arbeit für seinen Aufstieg zu Nutze gemacht. Wenn ich das nur beweisen könnte…“
Seufzend nahm Han Ning kurz seine Kappe ab, fuhr sich durch die Haare und setzte sie wieder auf, ehe er weiter erklärte: „Inzwischen ist dieser Mistkerl mein Chef und hat mir jeden Auftrag weg genommen, der kurz vorm Abschluss stand. Wir müssen in unserer Kanzlei in regelmäßigen Abständen Abschlüsse vorweisen. Deswegen…“
„Was meinen Sie mit Abschlüssen?“, fragte Bahe dazwischen.
„Oh, also abgeschlossene Fälle, erfolgreiche Verteidigungen.“
„Ach so, alles klar.“
„Na ja… wo war ich…? Ach ja, da er mir alle guten Fälle weg genommen hat, stehe ich in der Kanzlei im Moment ziemlich schlecht da. Dadurch konnte er mich zwingen hier nach Dazu zu kommen, um einen neuen Fall zu übernehmen. Wenn ich diese Woche schon keinen Fall abschließen kann, dann darf ich mich als Angestellter zumindest nicht weigern einen neuen Fall anzunehmen… Sonst hätte er sofort einen Grund mich zu entlassen. Einzig mein hohes Dienstalter hat ihn bisher davon abgehalten mich zu entlassen…“, sagte Han Ning und blickte für einen Moment in die Ferne. „Heute bin ich also nach Dazu gefahren und durfte feststellen, dass dieser „Klient“ der hiesige Boss der Kleinkriminellen ist. An sich, wäre das vermutlich kein Problem gewesen. Aber mein Boss hat mir einen Termin für den Nachmittag genannt… tatsächlich war der Termin schon für den Vormittag angesetzt… Du kannst dir wahrscheinlich denken, dass diese Leute nicht gerne warten.“
Bahe sah, wie der Anwalt den Kopf schüttelte und noch einmal ansetzte: „Als ich merkte wo ich gelandet war, befand ich mich schon in den privaten Räumlichkeiten dieses Mistkerls. Dieser Bastard hat mir natürlich noch äußerst süffisant vorgehalten, dass der Termin bereits vor mehreren Stunden gewesen war, während einige der Schläger bereits ihre Ärmel hoch krempelten… Ich habe mich in dem Moment sofort für einen Toilettengang entschuldigt. Dem Boss schien meine Panik sichtlich zu gefallen, anders kann ich mir nicht erklären, wieso er mich dahin entließ. Letztlich kletterte ich dort aus dem Fenster und ließ mich drei Meter tief in eine Hecke, eines unter dem Fenster liegenden Sportplatzes fallen. Ich war noch nie so froh, dass sie die Dinger mittlerweile aus Platzmangel auf den Dächern bauen.“
„Und anschließend haben Sie es bis zur Einkaufsstraße geschafft.“
„So in etwa… Ich bin immer noch vollkommen fertig“, lächelte Han Ning verhalten.
„Ich war ja nicht vor Ort und kann es nicht genau einschätzen… Aber seid Ihr Euch dir sicher, dass sie Euch nur etwas antun wollten, weil Sie zu spät kamen?“
„Ah, du hast ja schnell geschaltet“, meinte Han Ning zustimmend. „Du hast natürlich recht. Die eigentliche Frage ist wohl eher, wie meine Kanzlei überhaupt Verbindungen mit diesen Leuten aufgenommen hat und ob die ganze Situation nicht vielleicht sogar von meinem Chef geplant worden ist… So oder so, ist das Ergebnis mein Untergang. Kein Klient, also auch kein Abschluss bis Freitag.“
Bahe schüttelte ebenfalls den Kopf. So langsam konnte er die Panik des Mannes verstehen. Aber vielleicht ließ sich ja genau dahingehend etwas machen. Schließlich suchte er ja auch einen Anwalt!
„Eine Frage hätte…“
„Entschuldige bitte, dass ich dich unterbreche, Bahe, aber könnte ich mein Jackett und meine Tasche so langsam zurück bekommen? Ich glaube wir sind inzwischen weit genug weg.“
Bahe musste grinsen, er hatte ganz vergessen, dass er immer noch Han Nings Tasche trug.
„Klar“, antwortete er, reichte zuerst die Tasche hinüber und zog sich anschließend das Jackett aus.
Han Ning behielt vorsichtshalber die billig gekaufte Jacke an, faltete sein Jackett und stopfte es anschließend in seine Tasche.
„Also, was wolltest du mich fragen?“
„Sie brauchen doch dringend einen Klienten?“
„Ähm… ja?“
„Dann würde ich Sie gerne engagieren“, sagte Bahe. „Nur werde ich nicht allzu viel bezahlen können…“
„Mal von der Bezahlung abgesehen… worum geht es überhaupt?“, antwortete Han Ning zögerlich.
Als Bahe sah, dass er ernst genommen wurde, holte tief Luft und begann zu erzählen.
Im Laufe der nächsten paar hundert Meter, erläuterte Bahe die Umstände seiner Familie und die Problematik rund um den Verkauf des Anwesens.
Sie betraten gerade das Gelände des Bahnhofs, als er zum Ende kam.
Han Ning blieb im Eingangsbereich des Bahnhofs stehen und sah Bahe mit schwer wiegender Miene an.
„Tut mir Leid, Bahe, ich werde dir nicht helfen können.“
Als ob er es nicht bereits beim Blick Han Nings geahnt hätte, dachte Bahe niedergeschlagen.
„Bitte verstehe mich nicht falsch, ich möchte dir helfen aber rechtlich gibt es einfach keine Möglichkeit mehr dort einzuschreiten. Dein Großvater hat im Grunde alle seine Rechte an diesen Shang abgetreten… Kein Anwalt der Welt kann dort etwas ausrichten. Selbst wenn du dich an die Polizei wendest… Ich glaube nicht, dass in dieser Hinsicht etwas unternommen werden würde.“
„Also war mein Großvater an dieser Stelle einfach zu naiv? Man kann gar nichts machen?“
„Ich fürchte nicht“, erklärte Han Ning, sich sichtlich unwohl fühlend.
Bahe sah den Anwalt an und konnte nicht umhin festzustellen, dass sich dessen Blick von einer gewissen Ehrfurcht und Interesse in Mitleid verwandelt hatte.
Hatte er vorhin nicht noch gedacht, dass es das Schicksal gut mit ihm meinte?
Von wegen! Pah!
„Du bist ja wegen diesem Polizisten in Dazu, der ein Bekannter deines verstorbenen Vaters ist. Offiziell wird er auch keine Möglichkeit haben dir zu helfen, vielleicht aber unter der Hand. Die Polizei von Dadukou wird dir auf jeden Fall nicht helfen können. Dieser Kredithai Mai Ping Lun ist kein gewöhnlicher Krimineller… Er unterhält zu einigen hohen Persönlichkeiten recht enge Beziehungen. Wahrscheinlich hat er anfangs noch nicht mal selbst seine Schlägertruppen auf dich und deine Familie angesetzt und ist nur auf euch aufmerksam geworden, als er erfuhr, dass es um solch ein riesiges Anwesen geht.“
Bahe nickte nur deprimiert.
„Ich würde dich auch ohne Bezahlung vertreten, aber ich wüsste nicht, wie ich diese blöden Eier[i] in ihre Schranken verweisen sollte.“
„Ist schon gut, ich kann schon verstehen, dass Sie da nichts machen können“, sagte Bahe niedergeschlagen und verabschiedete sich: „Ich muss in fünf Minuten meinen Zug erwischen. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Heimreise.“
Ohne eine Antwort abzuwarten lief er mit dem Geschenk für seine Großmutter schnell zu den Gleisen und verschwand alsbald in der Menge.
Nur mit Mühe gelang es ihm nach und nach die Tränen weg zu drücken. Er hatte es einfach nicht länger ausgehalten mit dieser mitleidigen Art behandelt zu werden. Nicht mal ein Anwalt konnte ihm helfen…
Wie sollte er seine Familie bloß aus dieser Lage retten?
[i] Blöde Eier (bzw. das Pendant in Mandarin) ist im chinesischen im Grunde eine andere Bezeichnung für Idioten, Trottel oder Dummköpfe. Um die Entstehung dieser Bezeichnung verstehen zu können, muss hier etwas ausgeholt werden:
Die Bezeichnung wurde aus einer Schimpftriade aus Zeiten der Song Dynastie abgeleitet, in der die Mutter bzw. Großmutter als Schildkröte bezeichnet wurde. Wie schon einmal erwähnt kopulieren Schildkröten mit einer Vielzahl von Männchen. Jemanden also als Schildkröten-Ei zu bezeichnen, ist eine andere Art zu sagen, dass seine Mutter eine ***** (ihr wisst schon^^) ist.
Blödes Ei ist an dieser Stelle eine viel harmlosere Form, da sich diese Beleidigung nicht auf die Familie bezieht und lediglich die unmittelbar angesprochene Person meint.