Für einen Moment starrte Han Ning vollkommen baff auf Bahes Abbild. Gerade noch hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wie er den Jungen finden würde, da erschien der Bengel doch tatsächlich eine Minute später im gleichen Gebäude!
Aber wieso musste der Kerl ausgerechnet diesen Bastard Bei En Rui aufsuchen?!
Entsetzt beobachtete er, wie der Junge vor laufender Kamera nieder kniete und um Hilfe bettelte. Die Konsequenzen waren für ihn nur allzu offensichtlich. Bei En Rui musste ihn als Klienten annehmen. Wenige Sekunden später bestätigten sich seine Erwartungen und Han Ning beobachtete Bei En Rui und den Jungen beim Verlassen der Pressekonferenz.
Mürrisch rieb er sich über das Gesicht. Natürlich hatte der Junge Hilfe gesucht, wo er konnte… Und wenn ihm ein gewöhnlicher Anwalt, wie er selbst nun mal einer war, eben nicht weiterhelfen konnte, wieso es dann nicht beim Staranwalt der Stadt versuchen?
„Verdammt!“, schimpfte Han Ning leise.
Seine Hoffnung hatte darin gelegen, Bahes Fall schnell und im Sinne einer Vereinbarung unter der Hand abzuwickeln. Dann hätte er noch diese Woche einen abgeschlossenen Fall vorzuweisen und konnte nicht mehr gefeuert werden. Doch leider war dieser Traum geplatzt und zu allem Überfluss war Bahe auch noch bei diesem Mistkerl gelandet.
Mies gelaunt schloss Han Ning den Stream und schaute stattdessen auf die digitalen Formulare, die er für den Fall des Jungen alle schon vorbereitet hatte. Seufzend erfasste er sie alle und war kurz davor sie zu löschen, als er inne hielt. Vielleicht würde er sie noch brauchen. Spätestens, wenn Bei En Rui merkte, dass der Fall des Jungen alles andere als einfach zu lösen war. Wer würde wohl am Ehesten als Opfer herhalten müssen?
Da kam natürlich nur er selbst in Frage…
Trotzdem… es war nur eine von vielen Möglichkeiten.
So plötzlich seines Ziels beraubt, starrte er nur lethargisch vor sich hin.
Ach, scheiß drauf, dachte er sich und langte zu seinem Headset. Er wollte endlich wissen, was der Privatdetektiv zu sagen hatte.
Es erklang nur das übliche Piepen. Hinter ihm ertönte derweil die Stimme des von ihm meistgehassten Menschen der Welt und lenkte ihn vom Anruf ab.
„Na, da sind wir endlich“, erklang die Stimme wie ein böses Omen. „Komm mit, Bahe. Ich zeige dir jetzt, wer sich um dich kümmern wird.“
Han Ning nahm nur noch am Rande das Piepen des Anrufs war. Der Rest seiner Aufmerksamkeit war auf die unheilvolle Person gerichtet, die sich ihm offensichtlich näherte. Prompt vernahm er den Sohn einer Schildkröte auch schon hinter sich: „Dieser Mann wird deinen Fall ab sofort übernehmen. Sei dir sicher, dass du bei ihm gut versorgt bist.“
Nicht länger den Anruf aufrecht erhaltend, wandte er sich schließlich um und spielte Unwissenheit: „Um wen soll ich mich kümmern?“
„Das hier ist Bahe Dragon, ein besonderer Klient von mir“, stellte Bei En Rui den Jungen vor, nur um daraufhin direkt einen Vorwurf anklingen zu lassen. „Du hast nicht zufällig die Pressekonferenz der Firma mit verfolgt? Das sollte man von den erfahrenen Mitarbeitern eigentlich erwarten können…“
„Tut mir Leid Her Bei, ich versuche verzweifelt meine Deadline zu schaffen. Da bleibt nicht viel Zeit für…“
„Na, dann wird dir ein neuer Fall, der mit Leichtigkeit abzuschließen ist, doch bestimmt wie ein Wink des Schicksals erscheinen“, zwinkerte Bei En Rui ihm zu und fuhr danach an Bahe gewandt fort. „Dieser Mann wird dir mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ich muss mich an dieser Stelle entschuldigen.“
Damit eilte der Staranwalt davon, drehte sich aber noch einmal um und säuselte mit einem weiteren Augenzwinkern: „Oh, und bitte Bahe, denke an die Konsequenzen…“
Danach verschwand er im Eiltempo aus dem Großraumbüro.
Han Ning beobachtete derweil den Jungen und stellte befriedigt fest, wie sich dessen Miene von der Hochstimmung während der Pressekonferenz zusehends verdunkelt hatte. Geschah ihm recht, wenn er sich mit diesem Bastard einließ.
„Lass mich raten, Bei En Rui ist dein Chef, der dich fertig macht?“, fragte Bahe mit unterdrücktem Zorn.
„Nicht so laut“, sagte Han Ning schnell und wies auf einen Stuhl. „Komm erst mal weiter rein und setz dich.“
Bahe tat wie ihm geheißen und Han Ning durchbrach schließlich das unangenehme Schweigen.
„Er hat im Aufzug also seine wahre Natur gezeigt, nehme ich an?“
„Verdammt richtig!“, schimpfte der Junge. „Ist das normal bei euch, dass ihr eure Bodyguards auf neue Klienten hetzt?“
„Das ist nur Bei En Rui, wie er leibt und lebt“, sagte Han Ning. „Aber bitte sprich wirklich etwas leiser. Ich verliere meinen Job, wenn meine Kollegen mitbekommen, wie ich dir nicht widerspreche.“
„Entschuldigung.“
„Schon gut.“
„Schon eine gewisse Ironie, nicht wahr?“
„Das du wieder bei mir landest?“
„Genau…“, meinte Bahe niedergeschlagen.
„Was hat dieser Mistkerl gemeint, als er sagte, dass du an die Konsequenzen denken sollst?“
„Er hat meine Familie bedroht“, sagte Bahe ernst und blickte ihn an.
Han Ning schluckte. So etwas hatte er nicht erwartet. Ganz egal was für ein Drecksack sein Boss war, so hatte er sich bisher noch nie wirklich die Finger schmutzig gemacht.
„Was genau hat er gesagt?“
„Sollte ich den Medien irgendetwas anderes erzählen, als dass er gute Arbeit geleistet hat, wird es Leute geben, die mich oder meine Familie verschwinden lassen können.“
Han Ning saß wie vom Donner gerührt da, war Bei En Rui nun vollkommen verrückt geworden?
„Wahrscheinlich blufft er nur.“
„Die Hand seines Bodyguards um meine Kehle war kein Bluff.“
„Verstehe mich nicht falsch, ich glaube dir. Es ist nur so, dass er bisher noch nie so weit gegangen ist. Du musst ihn mit deinem Auftritt unten wirklich wütend gemacht haben“, gluckste Han Ning schadenfroh.
„Schön, dass ich zu deiner Erheiterung beitragen konnte“, sagte der Junge gepresst, stand auf und wandte sich zum Gehen.
„Wenn du jetzt gehst, kannst du dir doch gar nicht meinen Plan zur Lösung deiner Probleme anhören.“
Bahe blieb wie angewurzelt stehen.
„Bitte machen Sie mir keine Hoffnungen mehr“, presste der Junge zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und Han Ning verstand, dass sein lapidarer Tonfall voll nach hinten los gegangen war.
„Nein, nein!“, meinte er schnell. „Ich meine es ernst. Ich habe eine Idee, wie wir dich und deine Familie aus dieser ausweglosen Situation befreien können.“
„Wie?!“, verlangte Bahe ungläubig zu wissen.
„Bitte setz dich erst mal wieder“, sagte Han Ning und fuhr fort, während sich der Junge seiner Bitte nach kam. „Du musst dich um ein paar Dinge kümmern, damit mein Plan funktioniert.“
„Was muss ich machen?!“, antwortete ihm Bahe ein Wenig zu schnell.
„Erstens, ich muss wissen, wie viel die Operation und anschließende Reha-Behandlung deiner Mutter kostet.“
„Das krieg ich raus.“
„Gut, zweitens, hast du den Polizisten gefunden? Wir brauchen für meinen Plan eine zusätzliche Autorität, die als Zeuge und gewissermaßen auch als Abschreckung dient.“
„Ich habe ihn gefunden… aber…“
„Er wollte nicht helfen?“
Bahe nickte.
„Bist du sicher, dass er nicht helfen wollte? Kann es sein, dass er nur nicht helfen konnte?“
„Oh, jetzt wo Sie es sagen… es stimmt, so war es.“
„Dann sorg dafür, dass er meine Nummer bekommt und mich anruft, sollte ich ihn nicht schon vorher erreichen.“
Bahe hörte aufmerksam zu und nickte weiter fleißig: „Alles klar.“
„Drittens, hier muss ich etwas von dir verlangen. Bist du bereit mir zu vertrauen?“, fragte Han Ning und schaute Bahe dabei ernst an.
Dieser blickte ihn für einen Moment verwirrt an und fragte: „Was meint Ihr?“
„Ich kann dir nicht mehr sagen, sonst funktioniert mein Plan eventuell nicht. Das ist der Haken.“
Für eine Weile spürte Han Ning den Blick des Jungen auf sich ruhen, es war eine merkwürdige Erfahrung. Bahe war so alt wie seine Töchter und dennoch fühlte sich Han Ning unter Bahes Blicken zunehmend unwohl. Die Intensität seiner Blicke sprach Bände über die Last die auf seinen jungen Schultern ruhte.
Schließlich gab er stillschweigend mit einem Nicken seine Zustimmung.
„Gut, du wirst es nicht bereuen.“
„Wann können Sie etwas unternehmen?“
„Sobald ich mit dem Polizisten gesprochen habe. Kannst du mir nochmal seinen Namen geben?“
„Er heißt Li Bang Tuo.“
„Gut, das habe ich auch. Ich werde versuchen ihn zu erreichen, aber auf Streife sind Polizisten manchmal schwer zu erwischen. Dir steht es natürlich frei nochmal nach Dazu zu fahren, auch wenn ich darin keinen großen Erfolg sehe“, sagte Han Ning und nahm anschließend noch Bahes Smartphone-Daten auf. So konnte er ihn demnächst telefonisch und per Chat erreichen.
Bahe stand auf und verbeugte sich anschließend: „Herr Hua, ich weiß nicht wie ich ihnen danken soll.“
Han Ning deutete ihm schnell die Verbeugung zu unterlassen.
„Danke mir erst, wenn wir deine Probleme wirklich gelöst haben“, meinte er mit einem Augenzwinkern. „Wobei… da fällt mir noch eine letzte Sache ein. Ich muss wissen, wie groß das Anwesen ist, dass verkauft werden soll.“
„Hmm…“, überlegte Bahe. „Ich meine etwa siebentausend Quadratmeter und dreihunderzwanzig Quadratmeter Wohnfläche. Sonst noch etwas?“
„Nein, du kannst erst mal gehen…“, antwortete Han Ning geschockt.
„Nochmal vielen Dank“, sagte Bahe zum Abschied und Han Ning nickte zunächst nur.
Wer zum Henker war sein Vater gewesen, dass er sich solch ein riesen Anwesen in der Stadt leisten konnte?
„Ich melde mich, sobald ich den Polizisten erreicht habe“, rief er dem Jungen noch von weitem hinterher. Im nächsten Moment sah er doch tatsächlich etwas zum ersten Mal. Bahe winkte zur Bestätigung, dass er gehört hatte und lächelte. Ein echtes Lächeln, welches seine Augen erreichte. Dann verschwand er im Aufzug.