Es geschah genau das, was er erwartet hatte. Alle Personen im Raum schauten ihn verblüfft an, wenn man mal vom Lehrer absah.
„Ah, du kommst genau richtig, um dich vorzustellen“, meinte der Lehrer mit einem wohlwollenden Lächeln und bat ihn mit einer Geste neben das Pult zu treten.
Bahe nickte, schloss die Tür hinter sich und gesellte sich zu seinem Lehrer.
„Dieser junge Mann heißt Bahe Dragon und hat das Glück ab heute diese Schule besuchen zu dürfen. Bitte nehmt ihn gut auf und erklärt ihm bei Zeiten alles. Nun kann er sich aber erst mal selbst vorstellen“, erklärte Bahes Lehrer und nickte ihm aufmunternd zu.
„Hast du gehört? Er heißt mit Nachnamen Dragon! Wer weiß, vielleicht waren seine Vorfahren großartige Generäle. Nur die einflussreichsten Persönlichkeiten unserer Vergangenheit durften solche Titel in ihren Namen führen“, flüsterte einer der Jungs.
„Du schon wieder mit deinem Schwachsinn von Vorfahren, hörst du jemals auf?“, meinte sein Sitznachbar.
„Was denn? Geschichte ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens!“
An anderer Stelle unterhielten sich zwei Mädchen.
„Hey, ist er nicht ein Europäer?“
„Ich glaube… Das ist das erste Mal, dass ich jemanden mit natürlichen, blonden Haaren sehe!“
„Haltet die Schnauze, ich will wissen was er zu sagen hat“, schaltete sich ein kräftig gebauter Schüler ein.
„Ach, tu doch nicht schon wieder so besserwisserisch, Bowan.“
Wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, fing die Tuschelei schon an, dachte Bahe, bemüht sich nichts anmerken zu lassen. Durch sein Äußeres war er in China einfach schon immer hervor gestochen. Und natürlich, hatte der Lehrer seinen Nachnamen wieder wie Drache ausgesprochen… Es war zum verrückt werden.
Da es allerdings unhöflich gewesen wäre, seinen Lehrer vor der gesamten Klasse auf seinen Fehler hinzuweisen, da er hier eine Respektsperson darstellte, musste Bahe zunächst damit leben und stellte sich ebenfalls mit der entsprechenden Betonung vor.
„Wie schon gesagt, ist mein Name Bahe Dragon, ich bin in Deutschland geboren und aufgrund der Firma meines Vaters nach China gezogen. Ich lebe jetzt seit etwa sechs Jahren hier in China, insofern verzeiht mir bitte, wenn ich die ein oder andere Tradition oder Verhaltensweise noch nicht kenne.“
Anschließend verbeugte er sich leicht.
„Gibt es Fragen an unseren neuen Schüler?“, schaltete sich der Lehrer noch einmal ein.
Siebenzwanzig Arme schnellten nach oben.
„Ähm… vielleicht sollten wir die Fragen doch lieber hinten an stellen“, meinte der Lehrer verlegen lächelnd, ob der unerwarteten Reaktion seiner Schüler. „Die morgendliche Sporteinheit beginnt gleich, bitte startet schon mal eure Visualisierungssysteme und präsentiert eure Lernaufgaben. Ich werde sie während eurer Abwesenheit kontrollieren.“
Anschließend wandte er sich an Bahe: „Bahe, du kannst dort hinten in der vorletzten Reihe am Fenster Platz nehmen. Oh und bitte entschuldige, ich habe mich selbst noch gar nicht vorgestellt. Du kannst mich mit Herr Shi ansprechen.“
„Alles klar und vielen Dank, Herr Shi“, sagte Bahe und verbeugte sich erneut leicht. Danach suchte er den ihm zugewiesenen Platz auf.
Achtundzwanzig Paar Augen bewegten sich mit ihm und beobachteten Bahe auf Schritt und Tritt. Scheinbar sollte dies sein Los für die nächsten Wochen sein, dachte er resigniert.
„Nachdem ihr unseren neuen Schüler nun genug beäugt habt, wärt ihr vielleicht so freundlich und startet eure Visualisierungsflächen? Die Sporteinheit startet in drei Minuten!“, verlangte der Lehrer im strengen Tonfall.
Eilig, wenn auch widerstrebend kamen die Schüler seiner Aufforderung nach.
Da Bahe derweil nichts zu tun hatte, beäugte er die Schüler nun seinerseits. Bisher war ihm nur eine Schülerin aufgefallen und das vermutlich auch nur ungewollt. Als der Lehrer vorhin nachfragte, ob seine Schüler noch mehr wissen wollten, hatte sich nur dieses Mädchen nicht gemeldet. Sie wirkte recht unscheinbar. Lange, dunkelbraune Haare, die ihr bis über die Schultern hingen, verbargen ihr Gesicht im Schatten, dass sie scheinbar konzentriert auf ihre Visualisierungsfläche gerichtet hatte. Bahe meinte zuvor eine dicke Brille auf ihrer Nase gesehen zu haben. Zusammen mit ihrer krummen Haltung und der schlaffen Schuluniform schrie alles an ihr einfach nur nach dem typisch schüchternen Mädchen, welches sich in der Klasse am liebsten unsichtbar machen möchte.
Ansonsten sah die Mehrheit relativ normal aus.
Natürlich gab es ein paar Mädels, dich sich besonders stylten und so viel wie nur möglich aus der Schuluniform heraus holten, indem sie diese mit Bändchen oder Gürteln taillierten. Scheinbar hatte die Schule eine eher milde Handhabung mit der Durchsetzung einer korrekten Kleidungsordnung.
Von den Jungs fiel, bis auf den offensichtlichen Nerd, der vorhin allen Ernstes über Vorfahren gesprochen hatte, niemand besonders auf. Der Nerd war das absolute Klischee in Person. Übergewichtig, nicht allzu sehr gepflegte, schwarze Haare und Brille auf einer Hakennase. Doch das es tatsächlich eine Schuluniform gab, die selbst ihm noch zu groß war, ließ Bahe staunen.
Ein paar Augenblicke später wurde Musik eingespielt und der Lehrer klärte ihn auf, dass dieses Stück wohl das Signal für die morgendliche Sporteinheit war.
Ein Kerl namens Tanren nahm ihn unter seine Fittiche und erklärte ihm auf dem Weg und während des Trainings alles. Sämtliche Schülerinnen und Schüler der ganzen Schule führten die Sporteinheit auf den Schulhof vor dem Gebäude zusammen durch. Die Ältesten ganz vorne, die Jüngsten ganz hinten, so hatten die Neuzugänge stets jemanden vor sich, von dem sie lernen konnten.
Wie sich heraus stellte, war die morgendliche Sporteinheit, im Grunde nur ein zehnminütiges Bewegungsprogramm um den Körper wenigstens ein Bisschen in Bewegung zu setzen. Die Schüler setzten dies zudem mit ganz unterschiedlicher Begeisterung um.
Während die stilsicheren Mädels seiner Klasse nur das Nötigste taten, gab es offensichtlich ein paar Sportbegeisterte, die ihre Übungen mit aller Ernsthaftigkeit umsetzten. Sein gut gelauntes, sprechendes Lexikon namens Tanren, war definitiv einer von ihnen.
Der übergewichtige Nerd kämpfte sich nach kürzester Zeit bereits qualvoll mit den Übungen ab und auch Bahe musste sich eingestehen, dass ihn die kurzen, aber anspruchsvollen Übungen ungemein schlauchten. Zumindest, wenn man sie auch richtig umsetzte. Insofern musste er dem Nerd zu Gute halten, dass er jede Trainingsübung, allen Widrigkeiten zum Trotz, in nahezu perfekter Ausführung vollbrachte.
Im Anschluss begaben sich die Schüler wieder in ihre Klassenräume und Bahe durfte den ersten Unterricht seit fast einem Jahr genießen. Wie sich heraus stellte, nichts, was er wirklich vermisst hatte.
Andererseits waren diese modernen Visualisierungsflächen durchaus interessant für ihn. Dank Tanrens Hilfe kam er gegen Ende der zweiten Stunde allmählich mit diesen Dingern zurecht.
Man brauchte außer den eigenen Händen keine weiteren Hilfsmittel. Früher hatte man noch Fingermodule benötigt, um mit den dreidimensionalen Hologrammen interagieren zu können. Doch scheinbar was dies inzwischen eine Technik von gestern.
Laut Tanren konnte man die Visualisierungsflächen auch komplett sprachgesteuert bedienen, aber aus offensichtlichen Gründen hatte die Schule diese Funktion deaktiviert.
Im Laufe des Tages merkte Bahe, dass ihm Tanren keinesfalls zufällig zugeordnet worden war. Immerhin war er der Klassensprecher, eine Position die nur den zuverlässigen Schülern zugesprochen wurde und dies merkte man auch an seinem Benehmen. Er war stets bemüht es allen recht zu machen.
Während der Mittagspause führte er Bahe daher in die Kantine und sorgte zugleich dafür, dass die gesamte Klasse davon erfuhr. Natürlich sah sich Bahe im Anschluss den zahlreichen Fragen seiner Klassenkameraden ausgesetzt.
Sogar die Klassenschönheit, Xukun, war dazu gekommen, wie ihm Tanren im Flüsterton samt Augenzwinkern vermittelte.
Als der Gong zum Ende der Mittagspause ertönte, zerstreute sich die Menge endlich und ließ Bahe seufzend und schließlich auch allein zurück. Tanren hatte sich soeben noch für einen schnellen Toilettengang verabschiedet.
„Du bist neu hier, was?“, kam eine herausfordernd gestellte Frage von hinten.
Bahe drehte sich um und sah einen Schüler von 1,80m vor sich aufragen, groß, für chinesische Verhältnisse. Schwarze Haare waren in einem mittellangen Haarschnitt zu einem wilden Wirrwarr gestylt und… war das Make-Up?
Bahe war sich nicht sicher… Es gab durchaus andere Gepflogenheiten im asiatischen Raum, gerade auch vom Schönheitsideal… aber es war dennoch alles andere als alltäglich.
Sein Gesicht wirkte elegant, fast schon feminin und bildete zusammen mit seiner Schuluniform, die perfekt angepasst war und der arroganten Haltung wie das Abbild eines Teenie-Schwarms.
„Ja, heute ist mein erster Tag“, bestätigte Bahe.
„Dann willkommen an der Sun Jingse Schule“, meinte der Typ mit aufgesetzter Freundlichkeit. „Aber nur damit du es weißt, Xukun gehört mir.“
Ohne eine Antwort Bahes abzuwarten, wandte er sich daraufhin ab und verließ die Mensa.
Zurück blieb ein verwirrter Bahe, der sprachlos vor sich hin schaute.
War das gerade eben wirklich passiert?
Bahe fühlte sich wie in einem schlechten Jugendroman oder wie in einem Shoujo-Manga, in dem der Liebesrivale der Hauptperson soeben vorgestellt worden war.
Kopfschüttelnd stand er schließlich auf und machte sich ebenfalls auf den Rückweg zum Klassenraum.