Bahe sah daraufhin den Speerträger vortreten, der ihn vorhin nicht in das Team aufgenommen hatte.
„Wir haben insgesamt 54 Kupfermünzen, sowie eine Axt und einen Schild im Rang Gewöhnlich. Wobei der Schild ziemlich gute Eigenschaften aufweist. Gibt es Interessenten?“
Natürlich meldeten sich sofort die Schwertkämpfer, die zumeist eh schon Schilde besaßen. Für alle anderen Klassen war ein Schild im Grunde nutzlos. Man konnte ihn zwar mit sich führen, da es in Raoie keine Begrenzungen hinsichtlich der Ausrüstung gab, aber ohne entsprechende Fähigkeiten in der Schildführung lohnte es sich einfach nicht.
Es gab natürlich die Möglichkeit entsprechende Fähigkeiten zu erlernen, indem man sie sich selbst beibrachte oder einen Ausbilder suchte, aber welche Spieler wollten so viel Zeit für etwas aufbringen, das ihnen vielleicht nie wirklich von Nutzen sein würde.
Die andere Möglichkeit bestand einfach darin, das Artefakt zu Geld zu machen. Ein Gegenstand mit besonders guten Eigenschaften für den Rang Gewöhnlich, war immer noch Einiges wert.
Das Problem bestand für die anderen Spieler vielmehr darin, dass sie nicht ihre Chance auf Beute für einen Gegenstand opfern wollten, den sie im Endeffekt nicht dringend selbst brauchten oder den sie nur für einen Geldbetrag verkaufen würden.
Es war allgemein üblich, dass sämtliche Beute in größeren Gruppen fair aufgeteilt wurde. Dennoch bestand natürlich das Problem, dass es meist mehrere Spieler gab, die dasselbe Artefakt gebrauchen konnten.
Da war es besser geduldig zu sein und sich im richtigen Moment für ein Artefakt zu melden. Denn hatte man schon ein Artefakt für sich beansprucht, war es unwahrscheinlich ein zweites Mal berücksichtigt zu werden.
Letztlich wurde gelost und der Schild ging an einen Level 8 Schwertkämpfer dem die Freude sichtlich anzumerken war.
Soweit Bahe wusste, wurden Artefakte des Ranges Gewöhnlich noch immer weitläufig genutzt. Die Durchschnittsspieler suchten erst ab Level 30 zunehmend nach Alternativen. Aber das hieß noch längst nicht, dass sie fündig wurden. Gegenstände des Ranges Bronze waren immer noch eine Seltenheit. Allein daran konnte man messen, auf welch langfristiges Spielerlebnis Raoie ausgelegt war.
Für den Level 8 Schwertkämpfer war es somit ein absoluter Glücksgriff.
Die bei Weitem nicht so gute Axt, ging an einen Level 3 Berserker, der sich nicht minder freute. Er war der Einzige gewesen, der sich gemeldet hatte. Doch Bahe konnte im Anbetracht seines Levels die Entscheidung nachvollziehen.
Das Geld wurde noch nicht aufgeteilt. Lef wollte den kompletten Jagdausflug abwarten, ehe er den Spielern, die keine Artefakte erhalten würden, ihren Anteil auszahlte. Während einige Spieler den Sinn dahinter verstanden, äußerten sich bereits einige Spieler kritisch.
Bahe bemühte sich derweil um einen neutralen Gesichtsausdruck, obwohl er innerlich grinsen musste.
Als Lef die nächsten Schritte erklärte, schweiften Bahes Gedanken ab. Limona war nirgends aufzufinden, als er zurück gekommen war. Was ihn jedoch viel mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass ihn niemand auf sie oder Brocken angesprochen hatte. Schließlich war Brocken nun wirklich nicht zu übersehen gewesen oder?
Verwirrt bekam er gerade noch mit, dass Lef ihn angesprochen hatte.
„Anael, es wird wieder deine Aufgabe sein die nächsten Bären anzulocken. Diesmal kannst du dir jedoch ruhig mehr Zeit lassen. Wenn du die komplette Bärenkolonie aufscheuchen solltest, kommt das unserem Todesurteil gleich. Versuch maximal fünf Bären auf einmal anzulocken, ok?“
„Ich versuch’s“, bestätigte Bahe nickend und mache sich auf den Weg zum Höhleneingang, während Lef noch ein paar Worte an die restliche Gruppe richtete.
Da inzwischen keine weiteren Bären nach draußen getreten waren, konnte Bahe offen über die große Wiesenfläche rennen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass er entdeckt werden könnte.
Am Höhleneingang angekommen, pausierte er kurz, um wieder zu Atem zu kommen.
„Du hast ja überlebt!“, rief plötzlich jemand unmittelbar neben ihm, dass er vor Schreck einen Satz nach oben machte.
„Zum Teufel nochmal, Limona! Du hast mich zu Tode erschreckt!“, entrüstete Bahe sich.
„Stimmt doch gar nicht“, erwiderte sie hochnäsig. „Du bist noch quicklebendig und in der Unterwelt befindest du dich auch nicht.“
„Kannst du beim nächsten Mal auf eine sanftere Art auftauchen?!“
„Vielleicht, wenn du nett bist.“
„…“.
Bahe ließ es lieber bleiben weiter zu diskutieren und blickte in die Höhle. Auf den ersten Metern waren noch keine Bären zu sehen.
„Was hast du vor?“
„Ich muss noch mehr Bären zu meinem Team herüber locken. Und sei jetzt bitte leise!“
„Ach, mach dir keine Sorgen, da passiert schon nichts!“, meinte Limona schnippisch und betrat zu Bahes Entsetzen die Höhle.
„Limona! Limona komm zurück!“, zischte Bahe panisch.
Doch Limona ignorierte ihn und lief weiter in die Höhle.
„Limona, wärst du so freundlich und würdest bitte zurückkommen?“, zwang Bahe seinen Stolz nieder und flehte seine Elementarin förmlich an.
„Ach, jetzt mach doch nicht so einen Aufstand!“, drehte sie sich um und starrte ihn herausfordernd an. „Du wolltest doch Bären heraus locken, also tun wir das, wo ist das Problem?“
„Du weißt schon, dass mein Team und ich sterben werden, wenn du zu viele Bären auf einmal aufscheuchst, oder?“
„Oh, echt?!“, sagte Limona mit gespieltem Entsetzen. „Das wollen wir ja nicht! Oder? Das wäre ja so schlimm, wenn der kleine Anael verrecken würde…“
Bahe wurde bei ihren Worten so wütend, dass er regelrecht zu zittern begann. Musste er dieses Nerv tötende Gelaber als Elementflüsterer wirklich ständig ertragen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können?
Er musste unbedingt etwas finden, wodurch er ihre Treue erhöhen konnte. Vielleicht hörte sie dann mehr auf ihn und hielt endlich mal den Mund.
Im Folgenden ignorierte er Limona soweit es ging und huschte ebenfalls in die Höhle.
Und so sehr es ihn auch störte es zugeben zu müssen, Limona bewegte sich, abgesehen von ihren bissigen Kommentaren, nahezu geräuschlos. Letztlich blieb ihm nichts anderes übrig, als sich seinem Schicksal zu ergeben und zu hoffen, dass die Bären nicht zu früh aufgeschreckt wurden.
Was sich kurze Zeit später tatsächlich als gegenstandslose Sorge entpuppte.
Die Höhle war um einiges größer, als Bahe zunächst gedacht hatte. Ganze fünfzig Meter war er bereits durch einen breiten und kurvigen Gang geschlichen, ehe er die ersten Bären im schlafenden Zustand entdeckte. Es waren drei ausgewachsene Exemplare, die teils nebeneinander, teils übereinander lagen und sich ihren Träumen widmeten.
Nach ein paar weiteren Schritten, bei denen er den drei Bären gefährlich nahe kam, eröffnete sich Bahe schließlich der Blick auf die restliche Bärenkolonie, dessen Tiere etwa sechzig Meter tiefer in der Höhle lagen.
Der breite Gang formte sich dort zu einem großen Hohlraum, dessen Decke von Bahes Standpunkt aus nicht zu erkennen war. Kaminrote und sanft leuchtende Kristalle wuchsen an den verschiedensten Stellen aus dem Felsgestein des Hohlraums und erleuchteten die Höhle so in einem roten Dämmerlicht, das gerade ausreichte, um die Tiere der Bergbärenkolonie in Augenschein zu nehmen.
Der Großteil der Tiere schlief. Nur hier und da, gab es einzelne Exemplare die in spielerischer Form miteinander interagierten und Bahe versuchte bei ihrem Anblick seine Präsenz so gut es ging zu verbergen. Im Gang sollten sie ihn nicht sehen können, da hier keine Kristalle an den Wänden wuchsen. Er konnte ja selbst nur undeutlich seine unmittelbare Umgebung erkennen. Einzig hinter der Biegung, die nach draußen führte, schienen noch ein paar letzte Lichtstrahlen hervor.
Vorsichtig ging Bahe in der Hocke nieder und überlegte, wie er die drei Bären am besten nach draußen locken konnte.