Bahe war zum sechsten Mal um sein verfluchtes Leben gerannt, als die Viecher ihn auf der Wiese schließlich doch eingeholt hatten. Wie sehr er innerlich hatte fluchen wollen, als ihn einer der Stacheln von den Stachelschwanzwildschweinen erwischte…
Stattdessen hatte er vor Schmerzen nur wie am Spieß schreien können. Diese verdammten 84% Schmerzempfinden!
Aber als ob die Schmerzen an sich nicht schon genug gewesen wären, hatte ihn das verdammte Viech auch noch durch die Gegend geschleudert… Am liebsten hätte er sich in diesem Moment den Helm des Dimensional Leap-Systems vom Kopf gerissen…
Als er schließlich zu Boden fiel, wusste er, dass sein Ende gekommen war. Die Beinwunde war so schwerwiegend, dass permanent Schadensmeldungen auf ihn einprasselten. Es würde nicht lange dauern bis er verblutete, wenn die Stachelschwanzwildschweine ihn nicht schon vorher erstachen. Doch irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen einfach aufzugeben. Und so stellte er sich tot.
Eine bescheuerte Idee?
Gewiss.
Aber wenn schon, denn schon, nicht wahr?
So lag er für ein paar qualvolle Sekunden totenstill am Boden und beobachtete wie seine HP-Zahlen dahinflossen. Doch der Tod kam nicht.
Wie durch ein Wunder, war er immer noch nicht aus dem gebildeten Team geschmissen worden. Seine Gesundheit war auf 5/110 HP gefallen, als das Wolfsunionsmitglied Six der Spinne den Todesstoß verpasste!
Von einer Sekunde auf die Andere, übersprang er Level 1 und stieg bis zu Level 2 empor. Sein HP-Basiswert sowie seine physische Konstitution wurden durch den plötzlichen Levelanstieg ebenfalls angehoben und versetzten ihn so in die Lage, für einen kurzen Moment klare Gedanken zu fassen.
Die 35 HP waren in dem Augenblick der Klarheit genug, um sich zu retten.
Hastig griff er in seinen Speichergegenstand und zog eine Heilsalbe, samt Bandagen heraus. Im Nu hatte er einen amateurhaften Druckverband angelegt und ließ die Heilsalbe ihre Wirkung entfalten, indem er sich zurück ins Gras fallen ließ und wachsam seine Umgebung musterte.
Er bekam gerade noch mit, wie etwas Silbernes hinter Six aufblitze und dessen Körper im nächsten Moment in zwei Hälften gespalten zu Boden fiel.
Verwirrt rieb er sich seine Augen. Seine Sicht verschwamm im ständigen Wechsel mit klaren Momenten. Hatte er sich das gerade eingebildet?!
Seine Gesundheit war während des Verband Anlegens auf 23 HP gesunken und er musste sich anstrengen, um einen klaren Blick zu behalten.
Ganz zu schweigen von den Schmerzen, die mit aller Macht zurückgekehrt waren. Das Hochgefühl des Levelaufstiegs hatte viel zu kurz angehalten. Wieso musste er für ein Spiel bloß derartige Qualen erleiden?
Wütend verfluchte er in Gedanken die Spielentwickler Raoies und strengte seine Augen an, um einen klaren Blick zu erhaschen.
Er nahm eine Person wahr, die unmittelbar bei der Beute stand, konnte sie aber zunächst nur schemenhaft erkennen.
Als die Konturen sichtbar wurden, traute Bahe seinen Augen noch immer nicht und öffnete schnell das Teamprofil.
Es war nichts zu sehen!
Der Spieler mit dem Nickname Deraka, der Level 19 Berserker, war aus dem Teamprofil gelöscht worden und doch stand er vor ihnen!
Bahes Gedanken überschlugen sich, als er erkannte, dass Deraka seinen Tod nur vorgetäuscht hatte. Scheinbar hatte er das Team mutwillig verlassen, um sie alle in die Irre zu führen.
„Was… was zum Henker!“, hörte Bahe den zornigen Bogung.
„Wer bist du?!“, schrie Lef Deraka wutentbrannt entgegen, während er und die anderen Wolfsunionsmitglieder ihre Geschwindigkeit noch einmal erhöhten, in der Hoffnung, Deraka davon abhalten zu können die ganze Beute einzusacken.
Doch Bahe war klar, dass sie zu spät kommen würden und bemerkte das abfällige Schnauben, welches Deraka von sich gab.
Sehr zu seinem Missfallen konnte auch Bahe nur zusehen, wie Deraka in aller Seelenruhe die ersten Artefakte in seinem Speichergegenstand verschwinden ließ. Doch da prallte plötzlich ein Schild mit so großer Wucht gegen den Rücken des Berserkers, dass dieser zwei Meter weiter zu Boden geschleudert wurde.
Unweit von den Wolfsunionsmitgliedern entdeckte Bahe die beiden Schildschwertkämpfer, wenn auch freilich einen von ihnen ohne Schild. Scheinbar hatten diese Beiden ebenfalls etwas dagegen, dass der Berserker sämtliche Artefakte, die das Spinnenmonster fallen gelassen hatte, an sich nahm.
Die kurze Störung war alles, was die Wolfsunionsmitglieder brauchten, um in Reichweite der Artefakte zu gelangen. Doch Deraka dachte scheinbar gar nicht daran zu teilen. Mit einer Explosivität, die Bahe nicht für möglich gehalten hatte, sprang er plötzlich vom Boden auf seine Gegner zu und schleuderte den überraschten Gildenmitgliedern das stumpfe Ende seiner Axt entgegen.
Fel hatte den Schlag mit seinem Speer noch parieren wollen, doch die Kraft des Berserkers bahnte sich gnadenlos ihren Weg und hob ihn mit zerbrochenem Speer von den Füßen. Meteorgleich prallte er gegen seine Teammitglieder und riss sie allesamt mit sich.
„Du Bastard!“, ereiferte sich Fel, während er sich darum bemühte wieder auf die Beine zu kommen.
„Fick dich!“, schrie Bocan sogar noch ausfallender, mit Zorn verzerrtem Gesicht.
Doch Bahe sah Deraka nur spöttisch drein blicken, ehe er sich abwandte.
Er selbst konnte nur den Kopf schütteln. Die Wolfsunionsmitglieder hatten doch tatsächlich die Stachelschwanzwildschweine vergessen, die in diesem Moment von hinten über sie herfielen.
Was folgte, waren elendige Schreie voller Qual, als die Kreaturen ihre Stacheln auf sie niederfahren ließen und sie unter sich begruben.
„Sollen alle deine Ahnen zur Hölle fahren!“
„Wir werden dich kriegen!“
„Unsere ganze Gilde wird Jagd auf dich machen! Du wirst dich nirgendwo mehr versteck-“
Es brauchte nur ein paar Sekunden ehe die Wutschreie der Verlierer abbrachen.
Alle Wolfsunionsmitglieder verschwanden schlagartig aus dem Teamprofil und ließen Bahe mit den beiden Schildschwertkämpfern allein in der Gruppe, die in genau diesem Moment auf den Berserker trafen.
Sie hatten aus dem Untergang der Wolfsunionsmitglieder gelernt. Während sich der eine hinter seinem großen Schild versteckte und die ersten Hiebe des Berserkers trotze, ergriff der andere Spieler seinen eigenen Schild und eilte seinem Freund zu Hilfe.
Ihr passives Verhalten machte es Deraka erheblich schwerer ihnen in kurzer Zeit den Gar aus zu machen.
Bahes Blick glitt indes zu den restlichen Artefakten, die noch immer am Boden lagen, konnte aber nur bedauernd über sich selbst lächeln. Was sollte er schon tun?
Sein Verband verhinderte, dass er weiter verblutete und HP verlor, aber die Wirkung der Heilsalbe setzte gerade erst ein und vertrieb nur schwerlich die Schmerzen, die noch immer von seinem geschundenen Bein ausgingen. Die Prellungen am ganzen Körper mal völlig außen vor gelassen.
Er hatte bereits versucht, zumindest auf alle Viere zu kommen, aber letztlich doch stöhnend davon abgelassen. Wieso mussten sich all die Verletzungen bloß so real anfühlen?!
Ein Rascheln hinter ihm im Gras ließ ihn vor Schreck blitzschnell herumfahren, was ihm sein geschundener Körper prompt mit weiteren Schmerzen dankte.
Ächzend sah er wie Balu mit Brocken und Limona auf dem Rücken zu ihm trampelte, ehe er kurz vor ihm hielt und ihn interessiert beschnupperte.
„Du siehst ja scheiße aus“, stellte Limona wieder in ihrem typisch schnippischem Ton fest.
Während Brocken besorgt fragte: „Geht es dir gut?“
Bahe verdrehte nur die Augen und versuchte gleichzeitig Balus Nase von sich fern zu halten, die ständig gegen ihn stupste. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre die Neugierde des Bergbärenjungtiers vielleicht niedlich gewesen, aber in seinem gebeutelten Zustand schmerzte ihn jede Berührung.
Normalerweise sollte er sich angesichts der Nähe des Bergbären Sorgen um sein Leben machen oder das zahme Verhalten des Tieres in Frage stellen, aber mittlerweile wunderte er sich über gar nichts mehr, was seine Elementare anging.
„Es geht schon“, gab Bahe letztlich nur von sich und fragte anschließend. „Wieso seid ihr gekommen?“
„Nun, da wir Balu behalten dürfen, dachten wir, dass wir uns irgendwie ja auch revanchieren müssen“, erklärte Limona ohne mit der Wimper zu zucken, während Brocken sie missmutig anstarrte.
Bahe konnte nur schmunzeln. Das zu Hilfe eilen war vermutlich Brockens Idee gewesen, ganz egal wie Limona sich nun verkaufen wollte.
„Wir müssen… von hier verschwinden“, erklärte Brocken und reichte Bahe seine Hand.
Bahe brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass dieser ihn auf das Jungtier ziehen wollte.
Warum denn auch nicht? Laufen konnte er vorläufig sowieso nicht.
Entschlossen ergriff er Brockens Hand und wurde durch die vereinten Kräfte beider Elementare auf den Rücken des Bergbärenjunges gezogen. Stöhnend brachte sich Bahe schließlich in eine aufrechte Sitzposition und musterte sein Reittier. Er kam sich vor wie auf einer übergroßen Ziege. Seine Füße baumelten nur wenige Zentimeter über den Boden. Egal wie man es sah, das Bergbärenjungtier schien noch viel zu klein ihn zu tragen.
Dann sprangen Brocken und Limona plötzlich ebenfalls mit auf. Brocken setzte sich hinter ihm, was Bahe ein gewisses Maß an Stabilität verschaffte, während Limona vor ihm auf dem Nacken des Bergbären Platz nahm.
„Bereit?“
„Äh…“, setzte Bahe gerade an, als er auch schon unterbrochen wurde.
„Dann los!“, schrie Limona regelrecht und brachte das Bergbärenjunge mit einem Klaps auf dessen Seite in einem vollen Sprint hin zum Kadaver der Spinne.
„Was machst du denn?!“, rief Bahe verdattert, ob der falschen Richtung.
„Aber wir sind doch nicht umsonst gekommen, oder?“, quietschte Limona vergnügt und selbst Brocken lachte laut auf: „Los Balu! Lass uns die Artefakte holen!“
Panik machte sich in Bahe breit, als er das Vorhaben seiner Elementare begriff.
Verflucht! Wieso konnte nicht ausnahmsweise mal etwas nach seinem Willen gehen?!