Bahe lief der Schweiß inzwischen in Strömen vom Gesicht. Tief nach Luft schnaubend nahm er den letzten Pfeil zur Hand, legte ihn an und feuerte ihn ab.
Er traf gerade noch den Bereich der Zielscheibe, der als Erfolg für die Tutorialmission gewertet wurde. Seufzend ließ er den Bogen sinken. Seine Arme zitterten mittlerweile einfach zu sehr, als dass er noch eine gute Treffsicherheit aufweisen konnte.
Die Arme ausschüttelnd ging er rüber zur Zielscheibe, um die Pfeile das vorletzte Mal einzusammeln. Wenn er bei der nächsten Einheit jedes Mal treffen würde, hätte er das verdammte Tutorial endlich bestanden.
„Du schaffst es!“
„Was für ein Vollidiot…“
„Gib nicht auf!“
„Wie viele Schüsse brauchst du noch?“
„Willst du bei uns einsteigen? Hart arbeitende Leute braucht unsere Gilde immer!“
Unzählige Schreie schallten zu ihm herüber, während er die Pfeile aus der Zielscheibe zog. Am Anfang hatte er die ganzen Leute gar nicht bemerkt. Erst bei letzten zweihundert Schüssen war ihm klar geworden, wie viele Zuschauer sich inzwischen angesammelt hatten.
Manche hatten nur kurz zugesehen und waren wieder gegangen, andere feuerten ihn die ganze Zeit ununterbrochen an.
Selbst das Angebot einer Gilde beizutreten wurde ihm in regelmäßigen Abständen zugerufen…
Nur weil er so lange das Gleiche tat?
Hatten diese Verrückten kein Leben?
Welcher halbwegs normale Mensch sah einem Spieler bei so einer stumpfsinnigen Aktion mehr als fünf Minuten am Stück zu?
Bahe konnte sich wahrhaftig keinen Reim auf all die Schaulustigen machen…
Zwischenzeitlich hatte er sogar überlegt, ob es sich bei all den Zuschauern vielleicht nur um NPCs handelte. Doch beim Anblick all der Spielergürtel hatte er die Idee schnell wieder verworfen.
Idioten gab es scheinbar überall. Es brachte nichts, sich weiter darüber Gedanken zu machen.
Eigentlich hatte er zwar weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, aber er sah nicht ein, nur wegen diesem bekloppten Menschenauflauf, extra seinen Trainingsplatz zu wechseln.
Wieder an seinem Platz angekommen, konzentrierte er sich und blendete alle Geräusche aus. Langsam ein und aus atmend legte er einen der letzten zwanzig Pfeile an und schoss.
Treffer!
„Woooooo!“
„Weiter so!“
„Den Nächst…“
Pfeifen und Geschrei verfolgte inzwischen einen jeden seiner Treffer und rissen ihn kurzzeitig aus seiner Konzentration, ehe alle Geräusche erneut in den Hintergrund traten und Bahe nur noch den Laut seiner Atmung vernahm.
Es war ein seltsames Gefühl, die gleiche Aktion so unglaublich lange zu wiederholen. Er war erschöpft und hatte schon mehrere Pausen einlegen müssen, aber er war tatsächlich besser geworden!
Er bemerkte mittlerweile wie kleine Abweichungen in seiner Haltung das Gesamtergebnis beeinflussten. Wie ein krummer Rücken dafür sorgte, dass er besonders anfällig für einen Gleichgewichtsverlust war. Wie die kleinsten Bewegungen seiner Arme die Richtung der Pfeile störten. Sogar seine Atmung und die Ausdehnung des eigenen Brustkorbs beeinflussten seine Zielsicherheit…
Früher wäre ihm nie die Idee gekommen, dass solche Dinge tatsächlich eine Rolle spielen konnten…
Letztlich folgten die restlichen neunzehn Pfeile dem Ersten und fanden alle ihr Ziel.
Du hast alle achtundzwanzigtausend Treffer auf der Zielscheibe erzielt, die Fenrir dir aufgetragen hatte. Da du es auch in der vorgegebenen Zeit geschafft hast, einmal um Waldenstadt zu laufen, kannst du nun Fenrir aufsuchen und ihm von deinen Ergebnissen berichten.
Für einen langen Moment stand Bahe einfach nur da und konnte noch nicht so ganz begreifen, dass es tatsächlich vorbei war. Zwei Wochen intensiven Trainings waren endlich zu einem Ende gekommen.
„Lass dich nicht unterkriegen!“
„Ja, genau! Mach weiter so!“
„Schieß die nächsten Pfeile!“
„Was feuert ihr ihn denn so an? Was der Kerl macht kann ich auch!“
„Halt die Klappe Großmaul!“
„Weißt du wie lange er das schon durchzieht?“
„Na und? Er ist trotzdem nicht ganz dicht…“
„Fuck off und halt die Schnauze!“
„Aber ein Bisschen irre ist er schon oder?“
Mit der Zeit ebbten selbst das Anfeuern der Zuschauer und die Buhrufe über seine fehlende Reaktion nach und nach ab. Stattdessen breitete sich Gemurmel aus, was denn wohl los sei.
„Warum steht er da nur so rum?“
„Keine Ahnung…“
„Hey, mach was!“
„Jetzt steht er schon lange da rum…“
„Meint ihr ihm geht es nicht gut?“
„So lange hat er noch nie still gestanden…“
„Ja, dass stimmt… ich war von Anfang an dabei…“
Schließlich kam Bahe wieder zu sich und ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Enthusiastisch warf er die Arme nach oben und rief begeistert: „Geschafft!“
Für eine Sekunde herrschte Stille, dann brach hinter ihm der reinste Tumult los.
„Woooohoooooo!“
„Fuck yeah!“
„Der Wahnsinn!“
„Wieso klatschen denn alle?!“
„Ist doch egal, mach mit!“
Verdattert, ob der lautstarken Reaktionen der Spieler hinter ihm drehte Bahe sich um, was nur noch lautere Schreie, Pfiffe und begeisterte Zurufe zur Folge hatte.
Vollkommen überrumpelt wusste Bahe tatsächlich nicht, wie er mit all der plötzlichen Aufmerksamkeit umgehen sollte. Leicht verlegen lächelte er und winkte ein, zwei Mal als Zeichen seines Dankes, während der tosende Applaus immer noch anhielt.
„Das ist so merkwürdig…“, murmelte er leise vor sich hin.
„Soll ich immer noch lächeln?“, fragte er sich selbst mit einem allmählich zäh werdenden Grinsen im Gesicht. „Ach, verdammt. Scheiß drauf, das wird mir zu blöd…“
Bahe rannte noch schnell zur Zielscheibe zog die Pfeile heraus und verließ danach eiligst das Gelände des Schießstandes.
Fenrir hatte gesagt, dass er sich bei der Kampftrainingsfestung aufhalten würde. Soweit Bahe wusste, war das auch der Ort, an dem man das zweite Tutorial durchführen konnte.
Für Bahe war es perfekt, so konnte er direkt zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
„Perfekt!“, grinste Kaiwen, als sie abschließend beobachtete wie dieser Anael Lerua, den sie als den Spieler Bahe Dragon kannte, in Richtung der Kampftrainingsfestung rannte.
Der Tag war einfach perfekt gewesen. Sie hatte ihren Traumjob bekommen, sich bezüglich dieser Idioten von PG absichern können und als sie sich, immer noch freudestrahlend, am Abend in Raoie einloggte, hätte sie niemals gedacht gleich die nächste positive Überraschung zu erleben. Überall hörte sie plötzlich von einem Spieler, der wie vom Wahnsinn getrieben Pfeile auf eine Zielscheibe schoss. Er wäre schon seit Stunden dran, hieß es.
Sie war schon auf dem Weg zum Ausbildungsgelände gewesen, als sie zwei Spieler reden hörte, dass es sich scheinbar um diesen Spieler Anael handelte, der ständig um Waldenstadt herum lief.
Bei der Information hatte sie sofort ihr Tempo beschleunigt und war zum Schießstand des Ausbildungsgeländes gerannt.
Was sie dort erwartete, ließ sie verblüfft inne halten und kurze Zeit später in einem wahren Freudentaumel ausbrechen.
Es waren diesmal nicht nur ein paar Spieler, die Anael zusahen. Sie zählte weit über hundert Schauerlustige! Es hatte sich eine regelrechte Menschentraube rund um den Bogenschießstand gebildet, die Kaiwen, ohne ihre Fähigkeit Weitsicht, gänzlich die Sicht versperrt hätten.
Begierig hatte sie Anael und all seine Zuschauer beobachtet. Sie achtete auf die emotionalen Reaktionen der Umstehenden und auf all die Anzeichen der Anstrengung von Anael.
Doch das Finale übertraf all ihre Erwartungen als Reporterin. Es war das reinste Vergnügen zu sehen, wie Anael plötzlich inne hielt und all die Schaulustigen darüber rätselten, was denn los sein könnte.
Und als dann die Auflösung kam! Grundgütiger, der Junge war ein geborener Performer!
Erst Spannung aufbauen und dann in einem begeisterten Erfolg auflösen. Die Menge war regelrecht ausgerastet!
Das Beste war, dass Anael noch nicht mal merkte, welche Wirkung er auf all die umstehenden Spieler hatte. Diese naive Ausstrahlung die er beim Umdrehen zur Schau gestellt hatte… das verlegende Lächeln auf den Lippen… das verhaltende Winken zur Menschenmenge…
Bei allen Himmeln! Er war die reinste Goldgrube!
Sie lief schnell in die Menschenmenge, die Anaels Aktion von eben immer noch diskutierte und rief aus Leibeskräften: „Hey! Der Kerl rennt zur Kampftrainingsfestung! Will er etwa auch noch das zweite Tutorial abschließen?!“
„Was?!“
„Nach den Strapazen?!“
„Leute… so anstrengend ist das nun auch wieder nicht…“
„Ich schau mir das an!“, rief einer der Umstehenden und folgte Anael hastig.
„Ich auch!“
„Hey, wartet auf mich!“
Nach und nach lösten sich immer mehr Spieler von der Menschenmenge und liefen zum Veranstaltungsort des zweiten Tutorials. Danach brauchte es nicht mehr lange, ehe sich fast die gesamte Meute in Bewegung setzte.
Kaiwen hielt sich derweil im Hintergrund und freute sich über ihren Geniestreich.
Sie war eine Reporterin und brauchte gerade für einen erfolgreichen Start bei HoF möglichst schnell gute Nachrichten. Wieso also nicht ein Bisschen nachhelfen?