Sin kam gerade noch rechtzeitig. Feines Geäst gab genügend Deckung, um zu beobachten, wie der gesuchte Spieler aufstand und sich weiter von der Stadt entfernte.
Merkwürdig war jedoch, dass er anscheinend ziemlich intensive Selbstgespräche führte. Sin spürte keinerlei Manaregung, was die Chatfunktion ausschloss. Dennoch fragte Sin sich mehr als nur einmal, ob vielleicht nicht doch noch jemand anderes in der Nähe war. Es war aber schlicht weg niemand zu entdecken.
Na ja, außer einem Bergbärenjungtier… Aber die Anwesenheit von dem Vieh erklärte immer noch nicht, wieso er scheinbar mit mindestens einer weiteren Person redete.
Letztlich verbannte Sin die Merkwürdigkeiten aus den eigenen Gedanken und konzentrierte sich vielmehr wieder auf den ursprünglichen Vorsatz, die folgende Spielzeit des Spielers äußerst unangenehm zu gestalten.
Mit einem geflüsterten Befehl schnellten die nächsten Äste eines Strauchs plötzlich peitschenartig gegen die Gliedmaßen des Spielers.
Schmerzensschreie zeugten vom erfolgreichen Einsatz von Sins Fähigkeiten, während der nächste Angriff bereits vorbereitet wurde.
Was folgte, war ein seltsam anmutendes Schauspiel aus Schmerzensschreien und tänzerischen Ausweichmanövern. Die Verzweiflung ließ den Spieler dabei Verrenkungen vollbringen, die Sins Mundwinkel mehr als nur einmal zucken ließen.
Aber was sprang der Kerl auch so durch die Gegend?
Im Grunde spürte man dergleichen Angriffe doch kaum. Bei einem normalen Schmerzempfinden von zehn Prozent waren Attacken, die einem gerade mal 1 HP raubten, doch mehr als zu vernachlässigen.
Außer… hatte der Typ sein Schmerzempfinden höher gestellt?
Es war die einzig brauchbare Erklärung…
Aber wieso tat man sowas?
Nun… wen interessierte es…?
Viel wichtiger war… jetzt war Zeit Spaß zu haben…
Der nächste Zweig peitschte den Spieler und die Flüche und Schmerzensschreie hinterließen ein schadenfrohes Grinsen auf Sins Gesicht.
„Verfluchte Scheiße!“, rief Bahe wütend aus, als er von einem weiteren Zweig am Rücken getroffen wurde. „Was ist hier los?“
„Wir haben dir schon dreimal gesagt, dass wir das auch nicht wissen“, meinte Limona entnervt.“
„Pass auf!“, deutete Brocken derweil auf den nächsten Ast, der in seine Richtung schlug.
„Das war auch keine Frage an euch!“, schrie Bahe und fuhr fort: „Ich bin einfach nur stinksauer, dass ich nicht weiß, was hier vor sich geht!“
„Wütend zu sein bringt hier auch nichts“, sagte Limona, die zusammen mit Brocken auf Balus Rücken saß und mal wieder ihre besserwisserische Ader raus hängen ließ.
„Das ist mir scheiß egal!“, machte Bahe seiner Wut erneut Luft und fing diesmal erfolgreich einen heran schnellenden Ast ab, nur um im darauffolgenden Moment von hinten von zwei weiteren Zweigen erwischt zu werden.
„Ah! Verdammt!“, schrie er auf und langte in seinen Speichergegenstand. „Jetzt reicht’s! Ihr wollt euch mit mir anlegen, nur zu. Ich mache Kleinholz aus euch!“
Zwei Ästen ausweichend, holte er sein Schwert hervor und schlug sofort wie wild geworden auf alle heran nahenden Äste und Zweige ein.
„Ich mache euch fertig!“
„Ah!“
„Hah! Wie gefällt dir das!“
„Aua! Scheiße!“
„Komm her du beschissener Baum!“
„Arg… Wieso habe ich mir noch keine Axt besorgt!“
„Limona! Brocken! Macht irgendwas!“
„Fuck it! Ich bin raus!“
Sein Wutanfall und neu gewonnene Zuversicht herrschten ganze zwei Minuten, ehe er die Beine in die Hand nahm und das Weite suchte.
Die peitschenden Sträucher und Bäume verfolgten ihn, bis er schließlich zu dem kleinen Wasserfall kam, an den Limona und Brocken ihn ursprünglich führen wollten.
Die größeren Sträucher und Bäume reichten aufgrund des felsigen Untergrundes nicht bis zum Ufer des Baches und gaben Bahe endlich eine Atempause von der Tortur.
„Hah…“, atmete Bahe schwer auf allen Vieren kniend. „Was war… das für eine Scheiße? Seit wann wird man von Bäumen und Sträuchern angegriffen?“
„Es ist wirklich merkwürdig… Ich habe irgendetwas gespürt… Aber es ist nicht unnatürlich…“, meinte Brocken unschlüssig.
Erschöpft ließ er sich auf den Rücken nieder und starrte seine Elementare an.
„Was soll das heißen?“
„Normalerweise ist so ein Verhalten der Pflanzen nicht normal“, erklärte Limona. „Irgendein Zauber muss dahinter stecken. Aber dann hätten wir das Ungleichgewicht in der Natur spüren müssen…“
„Und hier war das… nicht der Fall…“, ergänzte Brocken.
Wenn sich seine Elementare schon keinen Reim darauf machen konnten, wie sollte es ihm dann möglich sein?
Genervt checkte er seinen Gesundheitsstatus und stellte missmutig fest, dass er gerade 56 HP verloren hatte…
Verdammt, er hätte in diesem verhexten Wald echt sterben können, wenn er dort noch länger geblieben wäre.
Tief einatmend wandte er seinen Kopf Richtung Himmel und schloss für einen Moment die Augen, um wieder vollständig zu Atem zu kommen und auch seine Elementare verhielten sich ausnahmsweise mal ruhig.
Ein Knurren seines Magens durchbrach jedoch wenig später das kurzzeitige Schweigen und mit einem Check seines Charakterprofils stellte Bahe fest, dass es höchste Zeit wurde wieder etwas Nahrung zu sich zu nehmen.
„Da hat wohl jemand Hunger“, meinte Limona spöttisch.
„Menschen sind schon… arme Kreaturen…“, nickte Brocken. „Ihr müsst immer… wieder… feste Nahrung aufnehmen… um überleben… zu können.“
„…“, hielt sich Bahe diesmal zurück und sagte nichts. Immerhin hatte er soeben neben den Zeilen erfahren, dass seine Elementare glücklicherweise nicht auch noch mit Nahrung versorgt werden mussten. Gut, eigentlich kam diese Erkenntnis viel zu spät. Wären die Elementare abhängig von einer ständigen Nahrungszufuhr, wären sie unter seiner tollen Fürsorge wohl schon längst verreckt, dachte Bahe sich selbst für seine Nachlässigkeit verfluchend.
„Was ist mit Balu?“, fragte Bahe er schließlich.
„Um ihn kümmere ich mich schon“, versicherte Brocken stolz.
„Alles klar“, antwortete Bahe. „Dann muss ich gleich also nur für mich was machen.“
Bahe musterte die Umgebung und gab zu, dass sein momentaner Aufenthaltsort wohl am besten für ein schnelles Lagerfeuer geeignet war.
Da ihn keine zehn Pferde mehr in den Wald bewegen würden, suchte er sich am Bachufer alle trockenen Äste und Zweige zusammen, derer er habhaft werden konnte und machte sich daran ein Feuer zu entfachen.
Natürlich war es schwieriger als gedacht. Dabei hatte er seine überflüssige Zeit der letzten Tage in der Realität gut genutzt und sich genau über entsprechende Überlebenstechniken in der Wildnis erkundigt. Trotzdem… Theorie und Praxis waren grundverschiedene Dinge.
Es dauerte ganze zwanzig Minuten, ehe er endlich ein akzeptables Feuerchen entfacht hatte, von dem er sicher war, dass es in einem unbeobachteten Moment nicht gleich wieder ausgehen würde.
Wie sehr ihm Magie in solchen Momenten helfen könnte… Er durfte gar nicht darüber nachdenken…
Mit einem Griff in seinen Speichergegenstand, holte er etwas von dem Fleisch der letzten Wildwurzelkaninchen hervor und spießte es auf einen kleinen Stock, nachdem er die Rinde entfernt und ihn im Bach gesäubert hatte.
Wenig später brutzelte eine fast fertige Wildwurzelkaninchenkeule über dem Feuer und verströmte einen so wohltuenden Duft, dass Bahe regelrecht das Wasser im Munde zusammen lief.
Trotzdem hielt er sich noch zurück und beförderte stattdessen die wenigen Gewürze und Kräuter aus seinem Speichergegenstand, derer er bisher habhaft geworden war. Salz, Pfeffer, Thymian und Rosmarin.
Tatsächlich war ein beträchtlicher Anteil seines Vermögens in diese Luxusgüter des mittelalterlichen Raoies gewandert.
Vorsichtig streute er die Kräuter ringsherum auf die Kaninchenkeule und hielt den Stock nun höher, damit sie nicht gleich verbrannten und noch einen Moment Zeit hatten ihr Aroma zu entfalten.
Soweit so gut, zu seinen im Internet recherchierten Kochkünsten…
Aber immerhin, mit einem Stück Brot aus seinem Speichergegenstand war sein Mahl fürs Erste perfekt.
Ein Rascheln von Blättern ließ seinen Kopf jedoch ruckartig hoch fahren. Misstrauisch beäugte Bahe die Gestalt, die soeben durch die Sträucher am Waldrand getreten war.
Bahe war sich wirklich nicht sicher, wen oder was er da vor sich hatte…
War es ein Spieler? Oder doch nur ein NPC?
Das Gesicht der Gestalt war nicht zu erkennen, aber die hochgewachsene Statur und die breiten Schultern deuteten auf einen Mann hin. Andererseits konnte sich Bahe nicht wirklich sicher sein, da sein Gegenüber eine ungewöhnliche Rüstung am ganzen Körper trug, die am ehesten mit der Textur einer Baumrinde vergleichbar war.
Die Rüstung verdeckte auch das Gesicht der Person und ließ somit nur viel zu viel Vermutungsspielraum.
„Überprüfen…“, murmelte Bahe schnell den Befehl.
Charakter: Sin of Birth
Beruf: ???
Level: ??
Rang der Berufsklasse: ???
Erfahrungspunkte: 678/50000
Titel: ???
Gesundheit / HP: 3040/3040
Fraktionszugehörigkeit: Neutral
Energie / Mana: 5000/5000
Volkszugehörigkeit: ???
Ruhm: 3700
„Was zum…“, stieß er aus, ehe er sich unter Kontrolle hatte.
Aber wen hatte er da vor sich?!