Elodie
Als wir das Dorf endlich erreicht hatten, wusste ich bereits, dass es zu spät war. Die Straßen lagen leer und verlassen vor uns. Weder Menschen, noch Autos waren zu sehen. Die Türen der meisten Häuser standen sperrangelweit offen. Vereinzelt lagen Gepäckstücke auf dem Asphalt. Der plötzlich aufkommende Wind trieb zerrissene Papiertüten und Plastikbehälter vor sich her. Über den Hardrocks bildeten sich bedrohliche Gewitterwolken. Erste Regentropfen lösten sich aus den schweren Wolken über uns und trommelten leise klingend auf das Autodach. Ich schluckte und warf einen Blick zu Jade herüber. Ausdruckslos starrte er auf die Straße vor uns. Langsam ließ ich das Auto wieder beschleunigen und fuhr auf direktem Weg zu Adams Haus. Es lag am Rande des kleinen Dorfes und gab den Blick auf die goldenen Felder und dem grünen Wald frei, welche das Örtchen umschlossen. Ich wusste, dass Adams Eltern auf Geschäftsreise waren. Sein Auto jedoch stand vor der Garage. Die Haustür war geschlossen. Es sah alles so aus wie immer. Doch plötzlich war ich mir sicher, dass es nie wieder so sein würde, wie früher. Ich machte mir nicht die Mühe, den Motor abzustellen, bevor ich aus dem Wagen stieg. Ohne zu Zögern schlug ich das Küchenfenster mit dem Ellenbogen ein. Es tat weh. Offenbar nahm der Adrenalinpegel bereits wieder ab. Achtlos schob ich die Blumenvasen zur Seite. Mit einem dumpfen Geräusch zersprangen sie auf dem Teppich in tausend Scherben. Ich rutschte über den Herd auf den Boden hinunter. „Adam?“, rief ich, während ich einen Moment inne hielt. Keine Antwort. Die Küchentür war offen. Mit wenigen Schritten stand ich im Flur. Die Treppenstufen knarrten unheilvoll, als ich nach oben joggte. Adam lag auf dem Bett in seinem Zimmer. Er hatte die Augen geschlossen und schlief. Ich lief zu ihm. „Adam, wach auf“, forderte ich ihn auf, während ich seinen Schrank aufriss, und mehrere Klamotten in eine umherliegende Tasche warf. Er zeigte keinerlei Reaktion. Unwirsch rüttelte ich an seiner Schulter. „Adam, wir müssen von hier verschwinden." Langsam kam er zu sich. Blinzelnd öffnete er seine atemberaubenden blaugrünen Augen. „Elodie, was machst du denn hier?“, wollte er sofort wissen. Ich konnte sein strahlendes Lächeln nicht erwidern. „Die Spinnen sind über die Hardrocks gekommen. Sie halten direkt auf das Dorf zu. Jade wartet unten im Bus. Wir müssen hier weg“, erklärte ich hastig, und schlug seine Bettdecke zur Seite. Adam zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Was für Spinnen? Und wie siehst du überhaupt aus?“, hakte er verständnislos und leicht besorgt nach. Ich musste einen schrecklichen Anblick bieten. Die zerrissenen Klamotten und die noch immer blutenden Wunden… Ich zog die Schultern hoch, ahnungslos wie ich ihm erklären sollte, was geschehen war. Auf einmal hörte ich Jades Stimme von draußen schreien: „Elodie, komm! Sie haben das Dorf erreicht!“ Mein Herz begann schneller zu schlagen. Angst packte mich und schnürte mir die Kehle zu. Von erneuter Panik ergriffen, fuhr ich zu Adam herum. Konfus starrte er abwechselnd mich und die Tasche in meiner Hand an. Ich griff nach seinem Arm. Widerstandslos ließ er sich von mir hochziehen. „Zieh deine Schuhe an“, befahl ich, während ich zur Haustür eilte. Der Schlüssel steckte. Adam war direkt hinter mir, als die weiße Bestie in die Straße einbog. Ich hörte, wie Adam scharf die Luft einsog. Ich spürte, wie mein Puls stieg und sich das altbekannte Adrenalin wieder in meiner Blutbahn verteilte. „Los, in den Bus“, flüsterte ich heiser, und jagte die Stufen hinunter. Adam war mir dicht auf den Fersen. Die Spinne wurde schneller. Ich riss die hintere Wagentür auf, schmiss Adams Tasche hinein, und wirbelte herum, als ich einen Aufschrei hörte. Adam war gestürzt. Selbst aus der Ferne konnte ich erkennen, dass er seinen Knöchel nicht mehr belasten konnte. Tapfer rappelte er sich auf und humpelte die restlichen Stufen herunter. Plötzlich brach hinter ihm ein weiteres Untier durch das Gebüsch des Nachbargartens. Adam schrie. Ich raste los. „Elodie, nicht!“, rief Jade. Undeutlich hörte ich, wie er ebenfalls aus dem Wagen sprang. Die Spinne durchbrach den Holzzaun. Unter ihrem schweren Gewicht ging er einfach zu Bruch. Adam hatte keine Chance. Ich konnte ihm nicht helfen. Ich war zu langsam. Obwohl wir nur wenige Meter voneinander getrennt waren, hätte er in diesem Moment nicht einsamer sein können. Das Tier war über ihm, ehe er vier weitere Schritte hätte gehen können. Die Bestie stieß mit ihrem mächtigen Kopf auf den hilflosen Körper nieder. Ihr spitzer Hauer bohrte sich mit einem widerlichen Geräusch tief in das so zarte Menschenfleisch hinein. Blut spritzte aus der Wunde, während die Bestie sich zurück zog, nur um kurz darauf wieder mit aller Wucht zuzustoßen. Adams Schreie wurde zu einem unmenschlichen Kreischen. „Adam! Nein!“, rief ich gellend. Das Ungeheuer öffnete sein großes Maul und biss sich am Knochen fest. Das Tier nahm ihn ohne Probleme vollständig in sich auf. Adams Schreie verstummten. Eine abgetrennte Hand fiel aus dem Maul der Bestie zu Boden. Die Finger zuckten noch, als würden sie ein Eigenleben führen. Ich schlug die Hände vor den Mund, während das Tier genüsslich die Augen verdrehte. Jade hatte mich erreicht. Obwohl ich mich wehrte, hob er mich mühelos hoch. Er sprang hinter das Steuer, und fuhr mit offen stehenden Türen los. Wir ließen das Dorf hinter uns, ehe die Bestien noch näher kommen konnten.
Jade fuhr über die erste sich bietende Auffahrt auf den Highway. Über uns entlud sich das Gewitter. Donner grollte übernatürlich laut, Blitze zuckten hell aus den Wolken heraus. Der Regen fiel nach wenigen Minuten so dicht vom Himmel, dass man keine fünf Meter weit gucken konnte. Jade fuhr nur widerwillig langsamer. Wie in Trance schloss ich während der Fahrt die offen stehenden Autotüren. Mein Blick fiel auf die Tasche mit Adams Sachen. Ich schluchzte gequält auf und vergrub meinen Kopf in den Händen. Doch es kamen keine Tränen. Ich hatte immer geglaubt, dass ich, wenn ich einen meiner liebsten Menschen verlieren würde, haltlos in einem Meer aus Tränen versinken würde. Tatsächlich fühlte ich mich auch wie eine Ertinkende, über der die Wellen des Ozeans zusammenschlugen. Gleichzeitig füllte eine seltsame Leere mein Innerstes. Dabei wollte ich schreien, und weinen und schimpfen und toben, aber es kam... nichts. Ich griff nach der Tasche und vergrub meine Nase in Adams Lieblingspullover. Er duftete nach einer aromatischen Mischung aus Apfel und Zimt und erinnerte mich sofort an Weihnachten. In der Schule hatte Adam immer zurückgezogen und grüblerisch gewirkt. Trotzdem war er der heimliche Schwarm aller Mädchen gewesen. Als wir uns durch Zufall kennengelernt hatten und er offen sein Interesse an mir gezeigt hatte, hatte ich es zunächst nicht glauben wollen. Auch meine besten Freundinnen Fiona und Drace waren aus allen Wolken gefallen. Obwohl Jade in allen Nebenfächern dieselben Kurse wie Adam besucht hatte, hatte er seinen jüngeren Mitschüler nicht richtig einzuschätzen gewusst und unseren Kontakt anfangs eher argwöhnisch betrachtet. Wie meine Freunde hatte auch ich Adam erst nicht mal besonders leiden können. Natürlich hatten meine Mädels und ich ihn aus der Ferne stets bewundert, ihn aus der Nähe aber immer als Rebell und Angeber erlebt. Doch als wir ihn näher kennenlernten, begann ich mich langsam in ihn zu verlieben. Denn wenn wir allein waren, konnte ich einen Blick auf den Jungen erhaschen, der er wirklich war. Adam war feinsinnig, intelligent und besaß einen einmaligen Humor. Als wir zusammen kamen, war ich überglücklich. Und nun würde ich ihn nie mehr wieder sehen. Erneut schluchzte ich auf. Jade zuckte zusammen. Adam war mein erster Freund gewesen. Ich hatte immer geglaubt, dass er die Liebe meines Lebens war. Achtzehn Jahre lang hatte ich gelebt und doch hatte ich mich nie so lebendig, frei und schön gefühlt, wie wenn ich mit ihm zusammen war. Und jetzt konnte ich noch nicht einmal um ihn weinen. Es dauerte nicht lange, bis das Gewitter weitergezogen war. Das Brummen des Motors nahm mich ein und wiegte mich in einen tiefen Schlaf.
Als ich aufwachte, war ich so weit zur Seite gesackt, dass mein Kopf auf Jades Schulter lag. Der Starkregen war zu einem gleichmäßigen Nieselregen geworden. Jade hatte das Radio angestellt. Die Nachrichten liefen: „In Kanada hat die Regierung die ersten Angriffe der Spinnen zu vermelden“, verkündete die monotone Stimme der Journalistin. Sofort war jegliche Müdigkeit verflogen und ich hellwach. Schnell nahm ich meinen Kopf von Jades Schulter und drehte den Lautstärkeriegler auf. „Laut Polizei sollen die Tiere mindestens zwei Meter groß sein. Bis auf die spitzen Hauer und die acht langen Beine mit vier Knüppelgelenken haben die Bestien, wie sie vom Volksmund bezeichnet werden, keine Ähnlichkeit untereinander vorzuweisen. Zeugen berichten davon, wie sie ihre Opfer entweder mit einem Netz einwickeln oder fressen. Die Regierung bittet die Menschen ruhig zu bleiben. Weltweit kooperieren die Länder miteinander und stellen den angegriffenen Kontinenten Soldaten, Polizei und Waffen zu Verfügung, um den dort lebenden Mensch Schutz zu bieten. Wissenschaftler arbeiten unter Hochdruck daran, eine Lösung für das entstandene Problem zu finden und den Menschen Antworten geben zu können. Doch bisher ist noch nicht geklärt, was die Tiere genau sind, woher sie kommen, oder was sie wollen. Fest steht aber, dass sie menschliche Intelligenz besitzen. An einem getöteten Tier konnte außerdem festgestellt werden, dass die Spinnen sogar in der Lage sind, zu sprechen. Eine Vermutung der Wissenschaftler ist, dass es sich bei den Tieren um eine Mutation handelt, die etwa durch einen Atomausbruch oder fragwürdige experimentelle Forschungen ausgelöst worden sein könnte. Aber Beweise gibt es dafür nicht. Bei neuen Meldungen, unterbrechen wir das Musikprogramm. Kommen wir zum Wetter…“ Ich schaltete das Radio aus und starrte stumpf auf die regennasse Straße. Auch Jade schwieg. Wie es wohl Mom ging? Faun? Und Suleika? Ob die Bestien sie gefressen hatten? Oder sie in ihr Netz gewickelt hatten? Und wenn ja, wohin brachten sie sie? Ich erinnerte mich an die Worte der Spinne: Bringen wir sie nach Talaisya? Ich wurde von meinen Gedanken abgelenkt, als wir an einem Ortshinweisschild vorbei fuhren. „Wohin fahren wir eigentlich?“, wollte ich wissen und blickte zu Jade herüber. Er biss sich auf die Lippen. „Mein Onkel Hary lebt in Toronto. Ich hab ihn angerufen. Wir können bei ihm unterkommen“, antwortete er dann leise. Mitfühlend berührte ich seinen Arm. „Hast du deine Eltern nicht erreichen können?“ Er warf einen unruhigen Blick in den Seitenspiegel, bevor er wortlos den Kopf schüttelte. Jade hatte eine schwierige Beziehung zu seinen Eltern. Er war in Kanada geboren worden. Die Familie hatte die Türkei verlassen, als seine Mutter mit ihm schwanger gewesen war. Vor drei Jahren waren seine Eltern und die drei Geschwister in ihr Heimatland zurück gekehrt. Dort führten sie eine erfolgreiche Firma. Ihr Vertreter war damals überraschend gestorben, und sie wollten keinen Neuen engagieren. Jades Vater hatte gewollt, dass sein ältester Sohn eines Tages den Familienbetrieb übernehmen würde. Doch Jade hatte seine eigenen Pläne gehabt. Er war in Kanada geblieben, und hatte sich selbstständig sein eigenes Leben aufgebaut. Trotzdem liebte er seine Familie. Ich wusste, dass er sie vermisste. Natürlich machte er sich Sorgen, weil er sie nicht erreichen konnte. „Was hast du bei Hary vor?“, versuchte ich ihn daher ihn abzulenken. „Nun, ich gehe davon aus, dass wir zusammen bleiben werden?“, erwiderte er langsam. Ich nickte zustimmend. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung was wir tun sollen.“ Jade seufzte tief. „Wir müssen meine Familie finden“, antwortete ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. „Was?“, lachte Jade auf. „Wie willst du das denn anstellen? Du weißt doch gar nicht, ob sie überhaupt noch leben!“ Ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Jade war Realist. Das merkte ein Fremder in weniger als fünf Minuten. Deshalb wunderte ich mich weder darüber, dass er sich das Schicksal meiner Familie richtig hatte erschließen können, noch überraschte es mich, dass er die Tatsachen so offen auf den Tisch legte. Trotzdem ärgerte ich mich über ihn. Manchmal war er mir einfach zu ehrlich. „Besser als nichts zu tun“, schnappte ich empört zurück. Jade seufzte erneut. „Tut mir leid“, sah er seinen Fehler ein, und warf mir einen langen Blick zu. Der Wagen begann zu schlingern.
„Guck nach vorn“, riet ich ihm leicht belustigt. Jade folgte meinem Rat und meinte: „Wir können es ja versuchen. Wir werden ohnehin nichts Besseres zu tun haben.“ Grübelnd kaute ich auf meiner Unterlippe herum. „Eine der Bestien hat etwas von Talaisya erwähnt.“ Jade legte die Stirn in Falten. „Was soll das denn sein?“ Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Keine Ahnung“, sagte ich wahrheitsgemäß. Jade nickte. „Wir werden schon noch etwas darüber herausfinden. Vielleicht finden wir etwas im Internet darüber“, überlegte er. Mir fiel Adams Handy ein, das ich in seine Tasche gepackt hatte. Bei dem Gedanken daran, stiegen mir sofort wieder die Tränen in die Augen. Vor kurzer Zeit hatte er noch gelebt. Und ich hatte ihn zur Begrüßung noch nicht mal in den Arm genommen. Ich ließ die Tränen ungehindert über meine Wangen laufen, während ich in seinen Sachen nach dem Handy suchte. Als ich es hervor zog, warf mir Jade einen kurzen Blick zu. Ich ignorierte ihn und entsperrte das Gerät. Der Code war mein Geburtsdatum. Adam hatte ein Foto von uns als Bildschirmhintergrund genommen. Es war auf dem Jahrgangsball unserer Schule aufgenommen worden. Er trug einen eleganten schwarzen Smoking, ich ein rotes bodenlanges Kleid. Wir standen küssend auf der imposanten Treppe, deren Geländer kreativ mit leuchtenden Lichtergirlanden dekoriert worden waren. Drace hatte uns von unten fotografiert. Wir waren ein wunderschönes Paar gewesen und es war ein fantastischer Abend geworden. Schnell rief den Browser auf, und gab Talaisya als Suchbegriff ein. Es dauerte ein bisschen, bis die Suchmaschine ihre Ergebnisse präsentierte. Es gab keinen einzigen Treffer. Enttäuscht wollte ich das Handy schon ausschalten, als mir einfiel, dass ich versuchen könnte, Fiona und Drace anzurufen. Sie wohnten ein Dorf weiter als Adam. Deshalb hatten sie mehr Zeit gehabt, um sich vor den Bestien in Sicherheit bringen zu können. Vielleicht waren sie ja entkommen? Mit zitternden Fingern tippte ich zuerst Fionas Nummer ein. Die Mailbox sprang nahezu sofort an. Mein Herz zog sich zusammen. Fiona ging immer an ihr Handy. Bei Drace hatte ich mehr Glück. „Adam?“ Obwohl ich erleichtert war, ihre Stimme zu hören, musste ich schlucken. Nachdem ich mit Adam zusammen gekommen war, hatten sich auch Fiona und Drace mit ihm angefreundet. „Nein, hier ist Elodie“, widersprach ich. „Elodie!“, kreischte Drace in mein Ohr. „Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Wir haben dich angerufen, doch du bist nicht ans Handy gegangen“, fügte sie dann rasch hinzu. „Wer ist wir?“, fragte ich hoffnungsvoll. „Meine Eltern, Fiona und ich“, antwortete sie. Erleichtert atmete ich auf. „Mir geht’s gut. Ich bin mit Jade auf dem Weg nach Toronto. Wo fahrt ihr hin?“, wollte ich wissen. „Zum nächsten Flughafen. Mom will das Land verlassen. Hast du Adam nicht abgeholt? Ich dachte, er wäre bei dir. Das ist doch seine Handynummer?“ Ich zögerte. „Elodie? Ist was passiert?“, fragte sie beunruhigt. Wieder schluckte ich. „Adam hat es nicht geschafft“, erklärte ich dann langsam. Am anderen Ende herrschte Schweigen. „Drace?“, hakte ich nach. Sie räusperte sich, und musste zwei Mal ansetzen, ehe sie mit heiserer Stimme fragte: „Musste er leiden?“ Gerne hätte ich verneint. Doch ich musste nur an Adams schmerzerfüllte Schreie denken, und wie die Spinne ihn gnadenlos aufgespießt hatte, und wusste, dass ich es nicht konnte. Ich schloss die Augen und beschloss nicht auf ihre Frage zu antworten. „Sie haben meine Familie“, flüsterte ich stattdessen. Wieder herrschte einen Moment lang Stille. „Oh Elodie. Das tut mir leid“, erwiderte Drace dann. An ihrer Stimme konnte ich hören, dass sie weinte. Drace weinte nie. Auch ich schluchzte. Hilfsbereit reichte Jade mir ein Taschentuch. Ich schnäuzte mich. „Wir werden sie finden“, hauchte ich dann in den Hörer. „Seid vorsichtig“, bat Drace mit erstickter Stimme. „Ihr auch“, antwortete ich. Jade tippte mich an, und deutete auf eine Tankstelle. „Drace, ich muss jetzt auflegen. Wir hören voneinander, okay? Ich liebe euch“, erklärte ich daraufhin. Vom anderen Ende der Leitung ertönte ein Schluchzen. „Wir lieben dich auch.“ Dann war sie weg. Ich schaltete Adams Handy aus, um den Akku zu sparen. Ich hatte vergessen, dass Ladekabel mit einzupacken. Das Gerät war das Einzige, das mir gemeinsame Bilder von uns zeigen konnte. Mein eigenes Handy war vor drei Wochen kaputt gegangen. Ich hatte es noch nicht reparieren lassen. Plötzlich fröstelnd zog ich Adams Pullover über. Sein Duft nach Apfel und Zimt hüllte mich ein. „Wir müssen an der Tankstelle halten“, sagte Jade. Ich nickte nur. Gerade wollte ich nicht sprechen. Ich wollte, dass Adam noch lebte. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, ihn küssen, und ihm sagen, dass ich ihn liebte. Doch das würde ich nie tun können. Adam war fort. Schon wieder kamen mir die Tränen. Leicht genervt wischte ich sie ab. Ich wollte nicht weinen. Um mich abzulenken, stieg ich mit Jade aus dem Wagen. Während er den Tank mit Benzin füllte, ging ich in den kleinen Laden hinein. Travel, wie alle in der Gegend ihn nannten, schleppte einige Fässer aus der Vorratskammer in den Verkaufsraum. Als ich einen Blick hineinwarf, stellte ich fest, dass die Regale leer geräumt waren. „Elodie! Du hast es geschafft“, begrüßte er mich erfreut und nahm mich etwas umständlich in den Arm. Wieder nickte ich nur, und deutete dann auf die Vorratskammer. „Was hast du vor?“, fragte ich, um ihn daran zu hindern, nach meiner Familie zu fragen. Oder nach Adam. Travel kratzte sich an der Stirn. „Ich werde Kanada verlassen und diese Dinge den Leuten kostenlos überlassen, die sie brauchen“, antwortete er. Ich zog eine Augenbraue hoch. „Hältst du das nicht für etwas überstürzt? Die Bestien werden bald vom Militär ausgelöscht sein.“ Travel lachte auf, sodass ich seine schlechten Zähne sehen konnte. „Ich glaube, dass diese Viecher uns noch ganz schöne Probleme machen werden“, widersprach er mir dann und sprach damit aus, was ich insgeheim befürchtete. „Elodie, wenn du mich fragst, solltet auch ihr das Land verlassen“, schlug er dann vor, und rückte einige Getränkekisten auf dem Fußboden zurecht. Betreten sah ich an die Wand hinter ihm, und verschwieg, dass dieses “Ihr“ nur aus Jade und mir bestand. Travel warf mir einen fragenden Blick zu. Als er mein Gesicht sah, beließ er es aber dabei, und bohrte nicht weiter. Jade kam in den Laden. „Hallo Travel“, begrüßte er den Tankstellenbesitzer. „Jade“, erwiderte dieser, und tippte sich mit einer respektvollen Geste an seinen Hut. Im letzten Sommer hatte Jade ihm ohne Bezahlung bei seiner Arbeit geholfen. Er hatte einen guten Job gemacht. Auch ein Blinder konnte sehen, dass der manchmal etwas schwierige Travel Jade sehr mochte. Dadurch dass ich meinen besten Freund jeden zweiten Abend von hier hatte abholen müssen, hatte ich den Tankstellenwart besser kennengelernt, und festgestellt, dass er auch sehr liebenswert sein konnte. Manchmal waren Adam, Fiona oder Drace mit mir gekommen. Eher unauffällig waren wir mit der Zeit langsam eine Fünferklicke geworden, die auch außerhalb der Schule gern etwas miteinander unternommen hatte. Diese Zeiten waren nun für immer vorbei. Während die beiden Männer sich miteinander unterhielten, nahm ich Getränke und Nahrung aus den Regalen, und stopfte sie unachtsam in zwei Stofftaschen. Dabei hielt ich auch Ausschau nach Klamotten in Einheitsgröße für Jade. Als ich fertig war, wollte er Travel das Geld für die Warenartikel in die Hand drücken. Doch der ältere Mann wehrte es lächelnd ab. „Bald wird das Geld keinen Wert mehr haben. Behaltet es, solange es noch zu etwas Nutze ist.“ Jade hielt einen Moment inne, bevor er die Scheine wieder in seine Tasche schob. Wir bedankten uns höflich. Travel bot uns freundlich zwei volle Benzinkanister für den Notfall an. Jade nahm sie ohne zu Zögern entgegen. Dann verabschiedeten wir uns voneinander. Ich konnte nicht sagen, woran es genau lag, aber ich wusste instinktiv, dass es ein Abschied für immer war. Ich löste Jade hinter dem Lenkrad ab, und fuhr mit klopfendem Herzen auf den Highway zurück. Als wir nach zwei Stunden in einen Stau mit aufgelösten Fahrern gerieten, wusste ich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Meine Vorahnung trügte mich nicht.
Ende von Kapitel 2