Jade
Ich wusste schon vor Sonnenaufgang, dass dieser Tag ein schreckliches Ende nehmen würde. Das Gefühl war so stark, dass ich sogar davon aufwachte. Unruhig schaute ich mich im Jeep um. Sowohl Hary als auch Goldica schliefen tief und fest. Er hatte es sich auf der Sitzbank uns gegenüber bequem gemacht, sie lag unter eine Decke gekuschelt mit ihrem Kopf auf meinem Schoß. Draußen erklang das erste Vogelgezwitscher. Alles schien in Ordnung. Um mich zu beruhigen, begann ich behutsam Goldicas Kopf zu kraulen. Ihr Haar fühlte sich unter meinen Fingern so wunderbar weich und samtig an. In wilden Locken rahmte es ihr schönes Gesicht ein und verströmte den leichten Duft nach Jasmin. Ich liebte es, sie anzusehen und mit meinen Blicken die Linien ihrer mandelförmigen Augen und die sinnlichen Züge ihrer Lippen nachzufahren. Sie war unglaublich schön. Und jetzt vertraute sie mir sogar schon so sehr, dass sie neben mir einschlief. Meine kleine Wildkatze. In meinem ganzen Leben hatte mir noch nie Jemand so viel bedeutet, wie das Mädchen das in meinen Armen schlief. Und doch wusste ich nicht, wie viel Zeit uns noch zusammen blieb. Die Welt in der wir lebten, war gefährlich geworden. Und wie würde es weitergehen, wenn wir Elodie gefunden hatten? Würde Goldica bei mir bleiben? Oder ihren eigenen Weg gehen? Schließlich war sie unglaublich dickköpfig, schon fast stur. Gedankenverloren starrte ich aus dem Fenster. Eigentlich mochte ich diesen Charakterzug an ihr. Aber ich hasste ihn, wenn er bedeutete, dass ich sie verlieren würde.
Ich musste nochmal eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, schien die Sonne in das dunkle Innere des Wagens herein. Hary und Goldica waren schon auf. Sie war draußen und bereitete eine Mahlzeit vor, er saß aufrecht an die Sitzbank gelehnt und beobachtete mich. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab und seine Haut schimmerte gräulich. Trotzdem sah er besser aus, als in den gesamten letzten drei Wochen. Vielleicht konnten wir es heute endlich wagen, die Suche nach Elodie fortzusetzen. Ich schob die Decke zur Seite und schlüpfte in meine Schuhe, während ich Hary aufmerksam musterte. ,,Geht´s dir besser?"
Er nickte. ,,Ja, es ist schon besser. Ich fühle mich zwar immer noch ein bisschen schlapp, aber das Atmen fällt schon leichter." Seine Stimme klang ganz rau. Kein Wunder, er hatte ja schon ewig nicht mehr gesprochen. ,,Das freut mich. Versuch aber dich noch ein bisschen zu schonen, ja?" Er nickte. ,,Ich werd drauf achten. Aber wir können ruhig weiterfahren. Ich will nicht, dass wir nur wegen mir noch länger hier festsitzen."
Erst wollte ich widersprechen, aber dann überlegte ich es mir anders. ,,Gut, aber lass uns erst mal etwas essen. Dann brechen wir auf". Gesagt, getan. Nach dem Frühstück brachen wir unser Lager ab. Ich kletterte hinter das Steuer, Goldica saß auf dem Beifahrersitz und wollte mir anhand der Karten den Weg zum nächstgelegenen Highway weisen. Hary schlief hinten auf der Bank.
Wir waren schon gut zwei Stunden unterwegs, als mir die Wolken am Horizont auffielen. Tiefschwarz und bedrohlich wallten sie sich über dem wilden Land zu einem Unwetter zusammen. Und wir fuhren direkt in das Auge des Sturms. Das könnte gefährlich werden.
Nach etwa einem Kilometer fielen die ersten Regentropfen pladdernd auf das Autodach. Selbst dieses Geräusch erinnerte mich an Elodie. Meine Hände krampften sich um das Lenkrad.
Als wir noch klein gewesen waren, hatten wir uns bei Sommergewittern immer heimlich in den lauen Regen hinaus geschlichen und versucht, die einzelnen Tropfen mit den Mündern aufzufangen. Es gehörte zu meinen liebsten Kindheitserinnerungen. Aber diese Zeiten waren lange vorbei. Und heute schaltete ich nur den Scheibenwischer an.
Ich spürte, wie Goldica mich von der Seite ansah. Aber ich ignorierte sie. Seit ich wusste, wie sie über Elodie dachte, vermied ich es mit ihr über sie zu sprechen.
Für mich war die ganze Situation nicht einfach. Auch wenn ich für Elodie nie dasselbe empfunden hatte wie für Goldica, hatte ich trotzdem irgendwie das Gefühl, mich zwischen den Beiden entscheiden zu müssen.
"Halt lieber an! Der Regen ist so dicht, man kann ja kaum noch fünf Meter weit gucken", holte mich Hary in die Gegenwart zurück.
Überrascht dass er wach war, drehte ich mich zu ihm um. Er sah wieder schlechter aus. Das Gesicht kalkweiß, die Augen rot umrandet und um seinen Mund lagen dunkle Schatten.
"Pass auf!", kraischte Goldica. Ich fuhr herum.
Das Reh krachte frontal gegen das Auto. Ich machte eine Vollbremsung. Schleudernd kam das Auto zum Stehen.
Blut klepte an der Windschutzscheibe.
"Ich hab es voll erwischt." Ich starrte auf das Blut, das im Regen zu dünnem Wasser wurde.
Goldica atmete hörbar aus. "Wir müssen gucken, ob es noch lebt." Sie schnallte sich ab und griff zum Türgriff.
Ich schnellte vor und hielt sie zurück. "Ich gehe. Du bleibst hier."
"Aber..."
"Wir haben dafür jetzt keine Zeit. Du bleibst im Auto. Gib mir die Pistole."
Sie starrte mich an und rührte sich nicht.
Ich seufzte. "Goldica, bitte. Ich will nicht dass dir was passiert." Ich hob meine Hand und strich ihr über die Wange. Ihre Haut fühlte sich so zart und verletzlich an. "Bitte..." Ich schloss die Augen. "Bitte gib mir einfach die Waffe."
Ich spürte, wie sie innerlich abwog, ob sie mir gehorchen sollte oder nicht.
Ich wollte auf keinen Fall, dass sie aus dem Auto stieg. Ich wollte sie beschützen, mehr noch als ich alle anderen beschützen wollte. Am liebsten würde ich sie in eine Zelle sperren, den Schlüssel an einem Ort verstecken den nur ich kannte und sie erst wieder rauslassen, wenn diese Welt wieder die Alte war. Aber Goldica war nicht Elodie. Goldica hatte ihren eigenen Kopf. Und anders als Elodie wollte sie auch keinen Beschützer. Sie wollte alles selbst in die Hand nehmen, schätzte ihre Unabhängigkeit und Freiheit. Und wenn sie nicht wollte, konnte ich sie auch nicht überzeugen. Ich raufte mir die Haare. Sie war wirklich ganz anders als Elodie.
Und das war für mich eine Herausforderung. Elodie hatte immer alles gemacht, was ich ihr gesagt hatte.
Und wenn ich ehrlich war, und das war ich selten, dann musste ich zugeben, dass ich den Einfluss den ich offensichtlich auf sie hatte, genossen hatte. Auf der anderen Seite hatte ich aber auch ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht nur über sie bestimmte, sondern auch noch über sie bestimmen wollte. Manchmal fragte ich mich, ob ich sie vielleicht nur deshalb immer noch suchte.
Das wollte ich mir selbst nicht eingestehen. Konnte ich wirklich so böse sein? Sie war doch meine Freundin. Ich hatte sie doch lieb.
In ihrer treuen, freundlichen Art hatte sie mir manchmal zu verstehen gegeben, dass ich an meiner herrschsüchtigen Art arbeiten sollte. Doch ich hatte nie gewollt. Und ich hatte sie auch nicht richtig ernst genommen, weil sie ja trotz ihrer leisen Beschwerde immer auf mich gehört hatte.
Aber durch Goldica hatte ich gemerkt, dass Elodie Recht gehabt hatte. Und dass ich mich tatsächlich ändern musste.
Um mit Goldica zusammen zu sein. Damit sie mich lieben konnte.
Und doch konnte ich auf keinen Fall zulassen, dass sie jetzt nach draußen ging. Es war zu gefährlich.
Und nachdem ich Elodie verloren hatte, konnte ich Goldica nicht auch noch verlieren.
Aber das interessierte sie nicht. ,,Jade, ich muss lernen, mich selbst zu beschützen. Aber das kann ich nur, wenn du mich auch lässt."
Ich rieb meine Stirn. ,,Na gut", brummte ich höchst widerwillig.
Sie schob die Pistole in ihren Hosenbund und wir stiegen aus dem Auto ins Freie. Innerhalb von Sekunden war ich bis auf die Haut durchnässt.
Das Reh lag bewegte sich nicht. Seine Augen waren geschlossen. Falls der Aufprall es nicht sofort getötet hatte, war es an seinem eigenen Blut erstickt. Beide Forderbeine waren unter dem Auto eingeklemmt. Dem seltsam verdrehten Winkel nach zu urteilen, waren sie gebrochen. Ich schloss die Augen.
,,Es ist tot", sagte Goldica. Sie weinte nicht wie Elodie es getan hatte.
,,Ja." Die Pistole in ihrer Hand sah wie ein Spielzeug aus.
,,Und jetzt?" Ich hörte die Unsicherheit in ihrer Stimme. Endlich war sie wie Elodie.
Ich zuckte zusammen. Schüttelte den Kopf. So wollte ich nicht denken.
Es war der Krieg. Ich spürte, wie er mich veränderte. Schleichend, aber zuverlässig. Wie ein langsam wirkendes Gift.
Da sah ich es. Das Ohr des Rehs zuckte. Ein Reflex? Goldica hatte es auch gesehen.
,,Wir müssen es erschießen. Falls es doch noch lebt, können wir es nicht so leiden lassen." Sie hob die Pistole, zielte, den Finger am Abzug.
,,Der Schuss wird die Bestien anlocken." Ich hielt einen Finger vor die Nase des Rehs, konnte den Luftzug spüren, den es ausstieß.
Goldica strich sich das nasse Haar aus den Augen. ,,Wir sind mit dem Auto hier. Bevor sie hier sind, sind wir schon lange weg."
Dann drückte sie ab. Der Schuss war laut. Viel lauter, als ich gedacht hatte. Weil das Terrain hier leicht bergig war, musste der Hall noch kilometerweit zu hören sein. Ich ballte die Hände zu Fäusten. Wir hätten das Tier ersticken sollen.
,,Los, schnell weg hier!" Ich hörte die Angst in Goldicas Stimme.
Ich hätte gern etwas Beruhigendes gesagt, aber dann hätte sie die Angst auch in meiner Stimme gehört.
Hastig stiegen wir ins Auto. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss. Der Motor stotterte.
,,Oh nein, bitte nicht. Nicht jetzt", flüsterte Goldica neben mir.
Ich startete den Motor nochmal. Wieder keuchte er nur ätzend.
,,Komm schon!"Das Auto gab sich unbeeindruckt. Beim dritten Versuch zeigte es gar keine Reaktion mehr.
,,Fuck!" Ich schlug auf das Lenkrad. Goldica zuckte zusammen. Ich starrte für einen Moment in den Sturm.
Es war dunkel. Der Regen fiel noch dichter als eben gearde. Kräftiger Wind zog auf, so stark das der Wagen zu wackeln anfing. In der Ferne hörte ich Donner.
Es war Selbstmord sich jetzt mit der Ausrüstung durch das unwirtliche Gelände kämpfen zu wollen. Aber es war das Einzige was uns übrig blieb. Ich schätzte, dass in spätestens zehn Minuten die ersten Bestien hier sein würden. Und wenn wir im Auto blieben, würden sie uns finden.
,,Wir müssen sofort hier weg. Nehmt nur die Survivalsachen mit, alles andere lasst ihr."
,,Der Sturm wird uns töten." Goldica klang so kalt wie der Regen draußen.
Ich sah sie an. ,,Nein. Die Bestien werden uns töten."
Ich machte die Tür wieder auf. Der Wind drückte sie fast wieder zu. Energisch drückte ich dagegen und zwenkte mich durch den schmalen Spalt. Goldica hatte das Scheinwerferlicht ausgemacht, um die Aufmerksamkeit der Bestien nicht noch schneller auf uns zu lenken. Es war komplett dunkel und ich konnte absolut nichts sehen. Möglichst schnell tastete ich mich am Wagen zum Kofferraum entlang und holte drei Taschen heraus.
Goldica und Hary schienen verstanden zu haben, dass ich es ernst meinte, denn nun stiegen sie auch aus. Ich reichte Goldica eine der Taschen, ich trug die beiden anderen. Sie Wogen bestimmt bis zu 40 kg.
Fürsorglich legte sie Hary eine Decke über die Schultern. Sie hielt den Regen und den Wind nicht ab, aber mehr konnten wir nicht für ihn tun. Schwer stützte er sich auf Goldicas Schultern.
,,Los, kommt." Ich ging an ihnen vorbei, in den Wald hinein. Sie waren viel langsamer als ich und ich musste mich zusammenreißen, um sie nicht anzuschnauzen. Alles woran ich denken konnte war, dass die Bestien uns direkt auf den Fersen sein mussten. Und ich ärgerte mich darüber, dass wir das Auto verloren hatten.
Der Wind zerrte an meinen nassen Klamotten. Ich fror. Donner grollte, ohrenbetäubend laut. Blitze, so hell wie Sterne, zuckten in regelmäßigen Abständen über den sturmumwölkten Himmel. Meine Schuhe versanken im matschigen Waldboden. Es schmatzte bei jedem Schritt und machte das Gehen schwer. Ich stolperte über Wurzeln und Steine, das Gewicht der Taschen riss mich bei jedem Taumeln noch ein Stückchen weiter nach Unten.
Wir waren etwa zwei Kilometer gegangen, als der Sturm schließlich so stark wurde, dass ein Weiterkommen unmöglich war. Der Wind drückte mir die Luft aus der Brust. Schwer atmend lehnte ich mich an einen Baumstamm. Die Taschen waren schwer. Ich machte einen Schritt nach rechts. Da war ein Abhang, fast wie eine Böschung. Verdutzt bückte ich mich und tastete den Boden ab. Tatsächlich war es eine Höhle. Klein, aber groß genug für uns alle.
Goldica trat neben mich. Ich drehte mich zu ihr um. Sie war allein.
,,Wo ist Hary?"
Sie stellte die Tasche auf dem Boden ab und zuckte mit den Schultern. ,,Er wollte nicht mehr von mir gestützt werden. Aber er müsste gleich kommen."
Wir warteten. Hary kam nicht. Ich starrte in die Dunkelheit hinter Goldica.
,,Er war doch aber die ganze Zeit hinter mir." Sie klang kleinlaut. ,,Woher weißt du das?"
,,Was meinst du?"
Ich konnte ihre Irritation förmlich fühlen. ,,Woher weißt du, dass er die ganze Zeit hinter dir war? Hast du ihn gesehen? Oder gehört?"
Ich konnte ihre Silhouette nur erahnen, aber ich konnte mir vorstellen, wie sie den Kopf senkte und ihr das lange Haar ins Gesicht fiel.
,,Nein." Sie seufzte. ,,Ich bin einfach davon ausgegangen, dass er hinter mir ist."
Ich unterdrückte ein Stöhnen. Wie konnte man in diesen gefährlichen Zeiten nur so naiv sein? Wir konnten ihn ja noch nicht mal suchen. Der Sturm war einfach zu stark. Uns blieb nichts anderes übrig, als einfach abzuwarten.
Weil sie nichts mehr sagte, ging ich davon aus, dass sie weinte. Sie machte sich Vorwürfe, dachte es wäre ihre Schuld.
Ich hob die Tasche auf, die sie abgestellt hatte. ,,Mach dir keine Vorwürfe, Goldica. Hary ist ein erwachsener Mann. Er ist in der Lage, selbst Entscheidungen zu treffen. Und in dieser Welt muss jeder selbst die Konsequenzen seiner Entscheidungen tragen. Egal wie... schrecklich diese Konsequenzen auch sind."
,,Und wenn sie ihn erwischt haben? Wenn er tot ist?" Sie schluchzte laut auf. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte auch angefangen, zu heulen.
,,Dann bleibt nur noch die Hoffnung, dass er nicht leiden muss."
Und dann legte ich meinen freien Arm um sie und zog sie in den Schutz der Höhle.
Auf allen Vieren krochen wir zu ihrem hinteren Ende. Sie war vielleicht fünf Meter lang und drei Meter breit. Erde rieselte mir auf den Kopf. Ein Wurzelstrang klatschte mir ins Gesicht und ich fühlte, wie etwas Glitschiges mit mehreren Beinen über meine Hand krabbelte. Der Boden war weitestgehend trocken. Ich polsterte die Wand mit den Taschen ab und lehnte mich an.
Goldica hockte unsicher vor mir.
,,Na komm her", sagte ich und hob meinen Arm.
Sie zögerte für einen Moment. Aber dann kam sie doch zu mir herüber und kuschelte sich an meine Brust. Ich strich ihr das nasse Haar aus dem kalten Gesicht. Befühlte ihre feuchten Klamotten. Sie zitterte unter meinen Berührungen. Ihr war kalt.
Ich kramte mit einer Hand aus der Tasche hinter mir eine Zeltplane hervor und breitete sie über uns. Nach einer Weile wurde ihr Zittern schwächer. Ich küsste sie auf die Stirn. Sie reckte ihren Kopf und ich spürte, wie sie zu mir hoch schaute.
,,Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn... wenn Hary etwas zugestößt."
Ich verschränkte ihre Finger mit meinen. ,,Aber ich könnte dir verzeihen. Und Hary auch. Es wäre nicht mal deine Schuld."
Sie seufzte. ,,Aber wenn ich aufmerksamer gewesen wäre, wenn ich mich nur einmal zu ihm umgedreht hätte, dann hätte ich ihm helfen können."
,,Wir wissen ja gar nicht, ob er wirklich tot ist", sagte ich beruhigend. ,,Wir müssen den Sturm abwarten. Dann werden wir ihn suchen."
,,Und wenn wir ihn nicht finden?" Sie umklammerte meine Hand.
Ich schwieg und lehnte meinen Kopf an die Höhlenwand. Erde rieselte auf meinen Kopf. Ich blinzelte. ,,Dann werden wir weiterziehen."
,,Du willst immer noch nach ihr suchen, stimmts?" Sie klang neutral, aber ich bildete mir ein, eine gewisse Bitterkeit aus ihrer Stimme herauszuhören.
,,Ja." Ein Muskel in meinem Nacken zuckte.
Eine Zeit lang sagte sie nichts. Wir lauschten nur dem Sturm der draußen tobte. Dem Wind, der zornig an den Bäumen rüttelte. Dem Regen, der ihn wie ein treuer Freund begleitete und seinen Zorn zu teilen schien.
,,Warum?"
Ich brauchte einen Moment um zu verstehen, was sie meinte. Als ich es checkte, musste ich schlucken.
,,Ich habe nur noch sie."
Goldica drehte sich unter meinem Arm zu mir um. Ihr Atem war warm und duftete nach Minze. ,,Du hast mich."
Jetzt war ich es, der auf sie herunter sah. ,,Hab ich das?"
Sie kam noch näher. Streifte mit ihren Lippen meine Nase, meinen Mund. Ihre kleinen zarten Hände ruhten auf meiner Brust. Sanft tasteten sie sich nach oben, streichelten meine Wangen. ,,Hast du. Und wenn du möchtest, werde ich bei dir bleiben. Bis ans Ende der Wildnis. Und darüber hinaus."
Ich musste grinsen. Sie drückte sich immer so poetisch aus. Aber selbst ich wusste, dass es äußerst unpassend wäre, ihre Formulierung jetzt zu kommentieren. Es musste sie große Überwindung gekostet haben, mir ihre Gefühle zu gestehen. Weil sie ihre Freiheit liebte, unabhängig wirken wollte und Angst hatte, für schwach gehalten zu werden, sobald sie Jemanden zu nah an sich heranließ.
Am Liebsten wollte ich ihr sagen, dass sie diese Unsicherheit bei mir nicht zu haben brauchte. Das ich wollte, dass sie sich mir anvertraute. Das ich sie auffangen wollte, wenn sie das Gleichgewicht verlor. Weil sie mir auch etwas bedeutete. Viel sogar.
Aber in erster Linie wollte sie von mir hören, dass ich aufhören würde nach Elodie zu suchen. Und das konnte ich nicht. Das war ich meiner besten Freundin einfach schuldig. Gleichzeitig wollte ich aber nichts sehnlicher, als einfach nur mit Goldica zusammen zu sein. Kein guter Mix. Und ich war nicht gut im Reden.
Also lehnte ich nur meine Stirn an die ihre. Goldica schien zu verstehen, denn sie sagte nichts und drückte nur meine Hand. Ich schloss die Augen. Ihr Atem roch so süß und obwohl sie gar nichts machte, vergaß ich fast, wie man atmete. Sie fühlte sich so gut an. Ihre Nähe war berauschend, süchtig machend. Ich wollte sie. Oh und wie sehr ich sie wollte.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen sagte sie: ,,Wenn du mich willst musst du mich schon küssen."
Sie klang herausfordernd. Neckisch. Heiß. Ich musste grinsen. Mutig. Wild. Meine Wildkatze.
Ich beugte mich die letzten Zentimeter zu ihr herunter. Unsere Münder berührten sich. Ich spürte, wie ihr Atem schneller wurde. Ihre Lippen waren weich und wow, sie küsste wie eine Königin. Eigentlich hatte ich es ja nicht ganz so schnell angehen lassen wollen, aber... fuck, sie fühlte sich so gut an. So weich. So willig. Mit meiner Zunge drängte ich gegen ihre Lippen und forderte Einlass. Nach kurzem Zögern gab sie meinem Drängen nach. Ihre Hände streichelten mein Gesicht und meinen Nacken und wanderten dann langsam zu meiner Brust hinunter. Gleichzeitig setzte sie sich neben mir auf und kletterte auf meinen Schoß. Die Zeltplane mit der ich uns nur notdürftig zugedeckt hatte, raschelte. Ich tastete mich unter den dünnen Stoff ihres T-Shirts. Ihre Haut fühlte sich unter meinen großen rauen Händen weich und verletzlich an.
Aber die Art wie Goldica mich berührte war überhaupt nicht so. Ich konnte nicht mal den Anflug von Schüchtern- oder Verlegenheit erkennen. Ganz im Gegenteil. Ihre Bewegungen waren selbstbewusst, ihre Küsse leidenschaftlich und fast ein bisschen wild.
Es war offensichtlich, dass sie das schon öfter gemacht hatte und ich wurde automatisch auf den Kerl eifersüchtig, mit dem sie anscheinend recht fleißig geübt hatte. Aber lange konnte ich mich nicht auf das vernichtende Gefühl konzentrieren, denn jetzt biss Goldica mir neckisch auf die Unterlippe, während ihre Hände sich an dem Reißverschluss meiner Jeans zu schaffen machten.
Da hörte ich es. Einen Schrei. Ganz in der Nähe. Er klang nach Schmerz und Todespanik. Auch Goldica hatte es gehört. Wir erstarrten.
,,Hary", sagte ich mit weit aufgerissenen Augen und schluckte einen trockenen Kloß in meiner Kehle herunter. ,,Das war Harys Stimme".
Ich schob Goldica von meinem Schoß herunter und machte den Reißverschluss wieder zu. ,,Und jetzt?"
Ich krabbelte zum Ausgang der Höhle und spähte nach draußen. Der Sturm hatte etwas nachgelassen. Es regnete zwar noch immer, aber nicht mehr ganz so stark und auch der Wind hatte nachgelassen. Im Osten verschwamm das schwarze Dunkel der Nacht zu einem morgendlichen Gauton.
,,Wir müssen ihn finden", sagte ich und begann die Ausrüstung zusammen zu packen.
,,Nein Jade, hör auf. Wir können die Sachen später noch holen. Jetzt müssen wir so schnell es geht Hary helfen."
Ihre Stimme klang so hoffnungsvoll, dass mir fast schlecht wurde. Aber ich sagte ihr nicht, was ich dachte: Wenn tatsächlich die Bestien der Grund dafür waren, dass Hary gearde so geschrien hatte, dann war er schon tot und wir konnten ihm nicht mehr helfen.
Trotzdem hörte ich auf sie und ließ das Gepäck in der Höhle. Wir rannten so schnell wir konnten in die Richtung aus der wir den Schrei vermuteten. Der Wald wurde hier lichter und der Boden sumpfiger.
Falls es überhaupt möglich war, fühlte sich der Regen jetzt noch kälter an. Wie Eis. Aber vielleicht war es auch die Kälte in meinem Inneren, die sich wie ein Tintenfleck immer weiter ausbreitete.
Wir mussten gar nicht weit laufen. Die Sonne hatte sich tapfer ihren Weg hinter den stürmischen Wolken hervor gekämpft. Ihre goldenen Strahlen tauchten die schreckliche Szenerie auf der Lichtung in ein tragisches Licht. Ich blieb abrupt stehen. Goldica tat es mir gleich. Einen Moment lang war sie still. Dann wandte sie sich ab und übergab sich ins Gebüsch.
Ich schloss die Augen. Ballte Meine Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Atmete im Takt der Bewegung betont langsam Ein und Aus.
Sie hatten den Körper über die ganze Fläche verteilt. Ein Arm lehnte an einem Baumstumpf, zwei Meter von uns entfernt. Der andere Arm und die beiden Beine fehlten. Die eine Hälfte von Harys gespaltenem Schädel thronte noch auf seinem Hals, der allerdings nicht mehr auf dem Rumpf befestigt war. Der lag ein bisschen weiter links. Gedärm qoll heraus und verbreitete einen so dermaßen widerlichen Gestank, dass auch ich mich fast übergeben hätte. Tiefrotes Blut tränkte das Land.
Plötzlich knackte es im Dickicht. Ich fuhr herum. Und die erste Bestie trat ins Freie.
Ende von Kapitel 6