Irgendwann nach meiner Mittagspause realisierte ich, dass ich eigentlich die meiste Zeit des Tages damit verbracht hatte über den geheimnisvollen Fremden zu grübeln, anstatt mich mit meiner Arbeit zu beschäftigen. Ich hatte noch einen Haufen zu tun und wusste nicht, wie ich die verlorene Zeit wieder aufholen sollte. Verzweifelt ließ ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Ich hatte heute Morgen doch gerade erst ein spezielles Gespräch mit meinem Chef über mein Arbeitsverhalten geführt, bzw. er hatte eines mit mir geführt ohne Antworten zu erwarten oder zu akzeptieren. Und das alles gerade erst an meinem dritten Tag hier! Was sollte ich jetzt nur machen?!
Na gut, ich musste mich jetzt wirklich konzentrieren! Das nahm ich mir vor.
Aber am Ende des Tages hatte ich trotzdem nicht viel mehr geschafft. Ich hatte mir zwar vorgenommen nicht mehr an IHN zu denken, aber das war leichter gesagt als getan. Meine Gedanken kreisten sich buchstäblich nur noch um IHN. Warum eigentlich? Er war doch bloß eine Ausgeburt meiner Fantasie. Schließlich war er in meinem Traum vorgekommen. Also in meinem Kopf. Dann konnte ich mir doch jetzt einfach schnell einen Namen für ihn ausdenken und dann war die Sache gegessen, oder nicht? Ob ihm mein Unterbewusstsein einen Namen geben würde oder ich es bewusst tat, das war doch nun wirklich egal.
Billy! Er hieß jetzt Billy. Schluss mit den Gedanken an ihn, wieder zur Arbeit!
Aber passte Billy denn auch wirklich zu ihm, zu seinem charmanten Grinsen, den wunderschönen Augen und seiner Art zu reden? Dazu, wie er meine Hand genommen hatte und sie geküsst hatte? Das tat doch kein Billy und…
Alyssa! Ich gab mir eine gedankliche Ohrfeige. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich war schon wieder nur mit IHM beschäftigt. Jetzt reichte es aber mal!
Mit allerletzter Kraft schob ich alle Gedanken beiseite und widmete mich meinem viel größeren Problem, dem Berg an Arbeit.
Es nützte nichts, aber ich würde alles mit nach Hause nehmen müssen und dort die Nacht damit verbringen müssen, es fertig zu stellen. Morgen früh erwartete Mr. Clover alle Unterlagen fehlerfrei auf seinem Schreibtisch. Ich musste bis dahin fertig werden!
Nachdem ich noch schnell ein paar Einkäufe getätigt hatte, es war auch wirklich nur das Nötigste wie zwei Flaschen Wasser, und ein paar Scheiben Brot, da ich mir mehr momentan auch nicht hätte leisten können, betrat ich erschöpft meine kleine Wohnung. Sie war mein eigenes Reich. Hier war ich der Herr und fühlte mich wohl dabei, niemandem gehorchen zu müssen. Es hatte für mich großen Mut, aber auch einen großen Schritt in Richtung Freiheit bedeutet endlich auszuziehen und auf eigenen Füßen zu stehen. Ich war froh, dass ich mich endlich von meinem Elternhaus gelöst hatte, auch wenn mir meine Mutter ein wenig leid tat... Mein Vater... Doch daran mochte ich jetzt nicht denken. Das waren keine schönen Gedanken. Ich schlüpfte aus meinen engen Büroklamotten und zog meinen Schlafanzug an. Danach öffnete ich eine Flasche Wein und setzte mich mit meinem Laptop auf das Sofa. Ich wusste nicht, ob ich meine Arbeit überhaupt mit nach Hause nehmen durfte, oder ob es nicht erlaubt war aus datenschutzrechtlichen Gründen oder so. Ich war ja schließlich nur die neugelernte Sekretärin und nicht Herr Anwalt höchst persönlich. Mir hatte noch niemand etwas gegenteiliges erzählt. Ich wünschte mir zwar irgendwann Jura studieren zu können, deshalb hatte ich mich erst einmal als Sekretärin in einer Kanzlei beworben, um dem Beruf nahe sein zu können, bis ich mir das Studium finanzieren konnte , aber schließlich hatte ich noch nicht damit angefangen.
Ich riskierte meinen Job so oder so. Wenn die Unterlagen morgen Früh nicht auf dem Schreibtisch meines Chefs lagen, dann war ich morgen arbeitslos. Ich konnte auch gefeuert werden, weil ich geheime Daten mit nach Hause genommen hatte, aber es war die letzte Möglichkeit mich noch zu retten. Wenn ich schon meinen Job verlor, dann wollte ich wenigstens alles, was in meiner Macht stand, getan haben, um das verhindern zu wollen.
„Das bedeutet mehr Leistung, bessere Ergebnisse und vor allem pünktlichere Pünktlichkeit!“ schwirrte mir Mr. Clovers näselnde Stimme durch den Kopf. Also das war mehr Leistung, definitiv. Ob es bessere Ergebnisse liefern würde, dass würden wir morgen erst sehen und die pünktlichere Pünktlichkeit? Mal abgesehen davon, dass mir das sprachlich nicht besonders richtig erschien, konnte ich nur hoffen dieses Kriterium auch zu erfüllen.
Langsam ließ ich den Wein in meinem Glas kreisen. Jetzt würde ich mir einen letzten Gedanken an den geheimnisvollen Fremden erlauben. Ach ich hatte ihn ja Billy genannt. Also ein letztes Mal sah ich Billy vor meinem geistigen Auge, wie er meine Hand nahm und sie küsste und mich dann anlächelte. Dann verschob ich diese Gedanken und konzentrierte mich voll und ganz auf meine Arbeit, bis meine Lieder immer schwerer wurden.
Ich saß nicht mehr auf meinem Sofa mit meinem Glas Wein in der Hand und dem Computer auf dem Schoß. Ich stand am Meer. Die Wellen rauschten und schlugen an den Felsen ein paar Meter von mir entfernt auf. Die Sonne brannte vom Himmel, aber ein starker Wind kühlte die Luft. Meine Haare fielen mir immer wieder ins Gesicht und ich musste sie wieder rausstreichen, damit ich mich um sehen konnte. In der Ferne erblickte ich ein großes Schiff mit drei gerafften Segeln . Es schien dort den Anker geworfen zu haben und trieb im Einklang mit den Wellen hin und her. Vor mir entdeckte ich eine silbrig schimmernde Muschel im Sand. So eine hatte ich einmal als Kind gefunden, als ich mit meinem Eltern im Sommer am Strand gewesen war. Ich hütete sie wie meinen Schatz und war so stolz gewesen etwas, in meinen Kindesaugen, so wertvolles zu besitzen. Ich lief hin und bückte mich, um sie aufzuheben, da versetzte mir etwas einen Stoß und ich fiel schreiend auf die Knie in den heißen Sand. Mein Kopf wurde nach hinten gerissen. Dicke Finger auf meinem Mund verhinderten, dass ich weiter schreien konnte. Die Person zerrte mich an meinen Haaren auf die Füße. Mir tat alles weh. Meine Knie brannten. Weil ich auf die Muschel gefallen war, hatte mir ihre scharfe Kante die Haut an meinem Schienbein aufgeschnitten. Ich konnte spüren wie ich blutete. Mein Kopf pochte, da mir jemand an den Haaren zerrte. Die Hand in meinem Gesicht stank nach Moder und Rauch. Eine tiefe Stimme lachte mir in mein Ohr.