Ich hatte schreckliche Angst. Was wollte dieser Mann von mir? Es musste ein Mann sein, das hatte ich an seiner tiefen Stimme erkannt. Aber warum tat er mir das an?!
Meine Knie schlotterten. Ich spürte die Schmerzen kaum noch, meine Angst hatte sie betäubt. In meiner Nase machte sich der modrige Geruch von seinen Fingern breit und ließ mich würgen. Er zerrte mich rückwärts immer weiter über den Sand, während er dabei vor sich hin brabbelte. Ich konnte jedoch kein Wort verstehen.
Plötzlich wurde er von mir weggerissen. Ich taumelte und hatte Mühe mich auf den Beinen zu halten, bei der Last, von der ich befreit wurde. Als ich das Gleichgewicht zurück erlangt hatte, drehte ich mich blitzschnell um.
Der Täter, ein alter Mann mit fleckiger Haut, die sich über sein knochiges lauerndes Gesicht spannte, und mit verfilzten langen Haaren, hechtete auf einen zweiten jüngeren Mann zu. Der Alte hatte einen Dolch aus seiner zerfetzten Hose gezückt. Der Jüngere hielt bloß einen Stock in den Händen, oder besser ein Stück alte Schiffsplanke, die vom Meer angespült worden war. Ich erkannte ihn wieder. Es war der geheimnisvolle Fremde! Billy!
Ich schrie auf, als der Alte knurrend zum Sprung ansetzte und sich auf ihn stürzte. Doch Billy wich geschickt aus und versetzte seinem Gegner mit der Planke einen Schlag auf den Hinterkopf. Unbewusst hatte ich mir beide Hände vor den Mund geschlagen, um nicht weiter zu schreien. Der Alte wirkte für einen Moment orientierungslos, bis er dann auf den Boden stürzte und sich nicht mehr rührte. Langsam ließ ich die Hände sinken. Billy, ich fand den Namen jetzt noch viel unpassender, warf die Planke in den Sand und machte ein paar Schritte auf mich zu.
„Alles in Ordnung?" fragte er ich in einem besorgten Ton.
„Mir fehlt nichts." Meine Stimme zitterte nur noch leicht. „Danke, dass du mich gerettet hast."
„Kein Problem" ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „ Vielleicht bist du das nächste Mal ein wenig vorsichtiger. Es ist nicht überall sicher." Dabei zwinkerte er.
Ich nickte. Sein Blick wanderte an mir herab und blieb an meinem Knie hängen.
„Das sieht nicht gut aus." Stellte er fest.
Ich winkte ab. „Halb so wild."
Aber er war mit zwei großen Schritten bei mir und drückte mich sanft in den Sand. Bei seiner Berührung begann mein Herz wieder lauter zu klopfen.
„Das muss gesäubert werden." Er zog ein Tuch aus seiner Tasche und löste eine kleine Flasche von seinem Gürtel. Er befeuchtete das Tuch, ich schätzte mit Wasser, und begann meine Wunden abzutupfen. Ich sog zischend die Luft ein, als er die offenen Stellen berührte.
„Entschuldigung" murmelte er konzentriert, jedoch hörte er nicht auf, bis jeder Sandkorn entfernt war. Dann legte er den Kopf schief und sah mich an.
„Ich hatte das letzte Mal gar keine Möglichkeit mich vorzustellen. Ich bin Joshua. "
Ich erwiderte sein Lächeln. Es war, als wäre mir ein dicker Klos aus meinem Hals in meinem Magen hinunter gerutscht. Er hieß nicht Billy! Juhu! Joshua passte viel besser zu ihm und seinem Auftreten. Ich konnte es mir sofort perfekt vorstellen. In meinem Kopf beschloss ich in Josh zu nennen. Das war kürzer und ging schneller über die Lippen.
„Was machst du hier?" fragte ich ihn. Wie hatte er gewusst, wo ich war und mich dann retten können? War es wirklich einfach nur Zufall gewesen? Aber wie viel Zufall konnte es in einem Leben geben? Das ganze erschien mir auf einmal sehr merkwürdig und ich wurde misstrauisch.
„Spioniert du mir nach?"
Er lachte auf. Dabei begannen seine braunen Augen zu leuchten.
„Ich war spazieren, dort drüben im Wald." Mit einer Hand zeigte er auf die kleine Ansammlung von Bäumen, die an den Strand angrenzte. „Da habe ich gehört, wie du geschrien hast. Also, wie jemand geschrien hat. Ich konnte natürlich nicht wissen, dass du das warst. Aber ich bin sofort hierrüber gerannt und habe den Mann entdeckt, wie er eine Frau kidnappen wollte. Deshalb habe ich mir die Planke geschnappt und dich befreit. Dass du es warst, wurde mir erst bewusst, als der Mann schon am Boden lag." Langsam nickte ich, um ihm zu signalisieren, dass ich ihm folgen konnte. Die Antwort erschien mir plausibel. Er hätte mir natürlich gerade auch das Blaue vom Himmel erzählen können, aber irgendwie wusste ich, dass er die Wahrheit sagte. Ich vertraute ihm.
„Und was machst du so ganz alleine hier?" fragte er mich im Gegenzug.
Ich stockte. In meinem Kopf herrschte diesbezüglich gähnende Leere.
„Ich weiß es nicht" antwortete ich, wobei ich jedes einzelne Wort langsam aussprach, in der Hoffnung, dass es mir vielleicht doch noch einfallen würde. Ich mochte dieses Gefühl ganz und gar nicht. Es löste Verzweiflung in mir aus.
Ratlos schaute ich mich um. Mein Blick fiel auf den Alten, der mich angegriffen hatte. Er lag immer noch im Sand und rührte sich nicht. Ich konnte nicht mal erkennen, ob er noch atmete. War er tot? Hatte Josh ihn etwas umgebracht? Und das Wichtigste, sollte ich nicht lieber Angst vor Josh haben? Ich kannte ihn nicht. Er war ein Fremder, dem ich blind vertraute. Auf unerklärliche Weise war ich ihm schon zum zweiten Mal begegnet.
Josh folgte meinem Blick zu dem Alten.
„Keine Sorge, er ist nicht tot." Ich atmete vor Erleichterung aus. „Aber wir sollten lieber von hier verschwinden, bevor er aufwacht. Das wollen wir nicht mehr miterleben." Ich vergaß kurz meine Potentieller-Mörder-Theorie und stimmte ihm zu. Das wollte ich wirklich nicht ein zweites Mal mit ansehen müssen.
Josh hielt mir die Hand hin, um mir auf zu helfen. In dem Moment, in dem ich sie ergriff, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das war ein Traum! Ich träumte gerade. Eigentlich lag ich zuhause und saß nicht am Strand mit Josh. Dann waren Josh und der Alte....
Und das war wohl mein Wecker, denn das grausig Laute Piepen begann und ich versank ins schwarze Nichts.