Ich schreckte bei den Tönen, die laut aus meinem Handy schrillten hoch. Beinahe viel mir mein Laptop vom Schoß, doch ich konnte ihn gerade noch auffangen. Ich realisierte, dass es gar nicht mein Wecker gewesen war, der mich aus dem Schlaf gerissen hatte, sondern ein eingehender Anruf.
Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, ich hatte verschlafen! Ausgerechnet das noch.
Im Halbschlaf hatte ich am Abend zuvor meine Arbeit erledigen können, hatte mir aber vorgenommen heute früh noch einmal alles zu überfliegen. Jetzt blieb mir dafür wohl keine Zeit. Mein Wecker hatte nicht geklingelt, wie auch immer das passieren konnte. Mein Kopf dröhnte von dem vielen Wein, den ich letzte Nacht dazu genutzt hatte, mich besser konzentrieren zu können. Die Flasche stand, geleert bis auf den letzten Tropfen, auf dem Beistelltisch. Ich fasste mir stöhnend an den Kopf, als ich den Anruf annahm und das Telefon an mein Ohr presste. Doch nur, um es kurz darauf mit schmerzerfüllten Gesicht ein Stück weiter weg zu halte.
„Alyssa!“ erklang die vorwurfsvolle schrille Stimme meiner Mutter. Sie war so laut, dass es in meinem Kopf wiederhallte.
„Nicht so laut, Mutter“ erwiderte ich gequält.
Doch meine Mutter ignoriert dies geflissentlich.
„Wo treibst du dich schon wieder rum, hm? Lässt dich ja gar nicht mehr bei uns blicken!“ Dass sie beleidigt war, war kaum zu überhören. Aber ich hatte momentan weder den Nerv, noch die Zeit meine Eltern zu besuchen. Ich war gerade froh gewesen endlich ausziehen zu können. Außerdem schmerzte es noch zu sehr, was sich letzten Herbst dort angespielt hatte.
Aber zum ersten Mal seit einiger Zeit konnte ich meiner Mutter dankbar sein. Hätte sie mich nicht angerufen, hätte ich noch immer geschlafen und überhaupt keine Chance mehr gehabt, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen – Entschuldigung, pünktlicher als pünktlich.
„Ich ruf dich später zurück, ich habe gerade keine Zeit.“ Rief ich in den Hörer und legte ohne auf eine Antwort zu warten auf. Ich wusste, der erste Teil war eine Lüge.
Ich hatte wirklich kaum noch Zeit gehabt, mich fertig zu machen. Ich hatte nur das nötigste getan. Die Dateien, die ich zuhause bearbeitet hatte, hatte ich an meinen Drucker in der Kanzlei geschickt, in der Hoffnung, dass ihn jemand anderes bereits gestartet hatte oder ich ihn am Vortag vergessen haben sollte herunter zu fahren.
Ich fand einen Parkplatz direkt vor der Tür. Was für ein Glück! Ich war noch in der Zeit. Nun nur noch schnell rein hüpfen, und hoffen, dass alles geklappt hatte und ich vor dem Chef da sein würde, und alles wäre gut.
Aber daraus wurde natürlich nichts!
Ich betrat mit den unzähligen Blättern bedruckt mit meiner Arbeit von letzter Nacht das Büro meines Chefs. Mr. Clover stand mit dem Rücken zur Tür und schaute aus seinem riesengroßen Fester, das sich fast über die gesamte Wand erstreckte, auf die dichtbefahrene Straße. Die Hände hatte er hinter seinem Rücken verschränkt.
„Sie sind zu spät!“ sprach er, ohne sich umzudrehen.
Das war mir ganz recht, so musste ich ihm nicht in seine kleinen gefährlichen Augen schauen und er sah nicht, wie ich mich erneut schämte.
„Es tut mir leid.“ Aber heute kamen mir meine Worte leichter über die Lippen. Vielleicht lag es daran dass ich noch gereizt war aufgrund meiner nicht endenden Kopfschmerzen.
„Der Bericht?“
„Hier, auf Ihrem Schreibtisch.“ Schnell legte ich meinen Papierstapel auf den Schreibtisch und stand gerade wieder auf meinem Platz nahe der Tür, als Mr. Clover sich umdrehte und schnellen Schrittes zum Tisch ging. Sein gedrungener Körper hüpfte dabei lustig auf und ab. Normalerweise hätte ich mit mir kämpfen müssen, um mir ein Grinsen zu verkneifen, aber bei ihm war mir definitiv nicht nach Lachen zumute. Mein Instinkt schrie mir eher zu, ich müsse fliehen. Er wurde als Bedrohung eingestuft.
Er nahm das erste Blatt vom Stapel und las es durch. Ich wusste nicht, ob ich bleiben musste, oder ob ich gehen durfte. Vorsichtshalber blieb ich regungslos stehen, bis er sagen würde, dass ich gehen sollte. Ich hatte Angst seinen Zorn über mich noch zu steigern.
Als er fertig war, blickte er auf und zerriss es vor meinen Augen in zwei Hälften, bevor er es in den Mülleimer pfefferte. Bei dem reißenden Geräusch zuckte ich zusammen. Mr. Clover nahm das zweite Blatt und zerriss es ebenso, wie auch das dritte und das vierte, bis der Stapel sich nicht mehr auf seinem Schreibtisch, sondern in seinem Mülleimer befand. Außer die erste Seite hatte er sich nicht mal mehr die Mühe gemacht den Rest zu lesen. Bei jedem Reißen zuckte ich aufs neue zusammen und mein Selbstbewusstsein schrumpfte immer eine kleines Stück weiter. Die ganze gestrige Arbeit. Meine ganzen Mühen. Alles Umsonst! Die Kopfschmerzen – umsonst! Ich war am Boden zerstört.
Ich war nicht nur traurig, sondern auch sauer. Das war unfair! Er hätte sich wenigstens den Rest durchlesen können, anstatt alles sofort wegzuschmeißen und zu vernichten. Er hatte kein Recht gehabt so vorschnell zu urteilen und vor allem mich so zu behandeln. Nur weil die erste Seite nicht seinen Vorstellungen entsprach, hieß es nicht gleich, dass er Rest auch nicht gut gewesen war. Man sollte ein Buch schließlich auch nicht nach seinem Einband beurteilen. Aber er tat genau das. Und ich hatte auch nichts anderes erwarten können. So war er, mein Chef, gemein und herrisch.
„ So geht das nicht.“ Sprach er mit ruhiger bedrohlicher Stimme. „Ich erwarte, dass der Bericht morgen meinen Anforderungen entspricht, wenn Sie ihren Job behalten wollen.“
„Was sind denn Ihre An…“ begann ich kleinlaut, doch konnte meinen Satz nicht zu Ende führen, da ich unterbrochen wurde.
„ Ich bin zu beschäftigt und habe wichtigeres zu tun, als jeden Firlefanz doppelt und dreifach zu erklären. Da hätten Sie sich früher darum kümmern müssen. Sie können ja Ihre Vorgängerin anrufen und nachfragen, ob sie es Ihnen erklärt.“ Mit einem hämischen Lächeln fuhr er fort: „ Aber ich denke nicht, dass sie sich bereit erklären würde.“
Ich wurde aus seinen Worten nicht besonders schlau. Sie hatte mich kurz vor Arbeitsbeginn doch so nett und hilfsbereit eingearbeitet. Wieso sollte sie mir nicht einmal schnell erzählen wollen, wie ich den Bericht zu schreiben hatte. Ich konnte es mir nicht erklären.
Für Mr. Clover war das Gespräch anscheinend beendet, denn er drehte sich wieder in Richtung des Fensters. Also machte auch ich mich zur Tür.
Bevor ich die Klinke berührt hatte, hörte ich, wie Mr Clover mich beim Namen nannte und drehte mich noch einmal um.
„Mrs Roberts.“ Er räusperte sich.
„Ja?“
Sein Blick glitt an mir hinab und wieder hinauf. Er lockerte seine Krawatte mit einer Hand und blieb mit den Augen irgendwo unterhalb meines Halses hängen.
„Wir können aber natürlich auch anderweitig zur Einigung kommen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Ich war geschockt und verließ ohne ihm eine Antwort zu geben den Raum. Der Schrecken saß tief in meinen Knochen, aber gleichzeitig war ich verwirrt. Erst war er so gehässig zu mir und jetzt so etwas?
Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich konnte nur hoffen, dass so etwas nie wieder vorkam.
Langsam schlich ich in mein Büro und griff nach dem Hörer, um Ms Raveen anzurufen, die Dame, die vor mir an diesem Platz gesessen hatte.