Der elektronische Bildschirm blickt Sophie stolz entgegen. Verschiedene Zahlen leuchten sie an.
Sie richtet sich in ihrem Stuhl auf und scrollt weiter herunter. Die Spalten der Tabelle sind an manchen Stellen ziemlich voll gequetscht, an anderen Stellen stehen nur einzelne Ziffern.
Trotz ihres zarten Alters weiß sie genau, was diese unterschiedlichen Zahlen zu bedeuten haben. Jede Zahl steht für den jeweiligen Betrag, den die Länder überwiesen und in Form von Steuern eingenommen haben. Von diesem Betrag werden die Errungenschaften finanziert, es wird zum Beispiel für das Schulsystem oder die Infrastruktur, aber auch für Sozialleistungen verwendet.
Diese Zahlungen müssen kontrolliert werden, damit keine Fehler auftreten. Seit Tagen sitzt sie nun beinahe ununterbrochen im Büro. So vieles muss beachtet werden, damit alles funktioniert.
Seit der Überarbeitung des Finanzsystems, muss sich die neue Währung erst durchsetzen. Deshalb kann sie sich gerade jetzt keinen unnötigen Fehler erlauben.
Sophie lehnt sich etwas zurück. Vor nicht allzu langer Zeit sah alles noch anders aus. Sie hat Geschichten gehört. Geschichten in denen unheimliche Brutalität beschrieben wird, Geschichten in denen Morde normal sind.
Selbst als Sophie einen Schluck aus ihrer Flasche nimmt, klebt ihr Blick weiter an den Zahlen. Zu wichtig ist ihr das. Schließlich ist es auch ihre Zukunft. Sie kann die Menschen in den alten Geschichten nicht verstehen. Wieso konnten sie sich nicht einfach zusammenreißen?
Auch die anderen um sie herum, starren konzentriert auf ihre Bildschirme. Keiner arbeitet alleine, die Arbeit wird untereinander aufgeteilt, um ein möglichst gutes Ergebnis zu erzielen. Außerdem kann man sich bei Fragen immer an seine Kollegen wenden, man ist niemals nur auf sich selbst gestellt.
Sophie liebt Zahlen, weshalb es nur logisch ist, dass sie für die Rechnungen und Zahlungen verantwortlich ist. Doch nicht alleine. Sie ist nur für einen bestimmten Teil verantwortlich, andere kümmern sich um andere Teile der Rechnungen und Zahlen.
Wieder andere arbeiten an Texten, kontrollieren diese und diskutieren untereinander über verschiedene Probleme. Wer für solch theoretische Arbeit nicht geschaffen ist, erledigt praktische Aufgaben. Jeder hat seinen speziellen Platz im System. Denn nur so kann dieses komplexe System überhaupt funktionieren. Alle arbeiten Hand in Hand. Probleme werden diplomatisch geklärt. Ziele gemeinsam gesetzt.
Sie schließt ihre Augen. Pausen darf sie sich jederzeit nehmen, wenn sie welche braucht. Wichtig ist nur, dass sie ihre Arbeit zuverlässig erledigt.
Doch so ist es nicht immer gewesen. Als sie die Augen kurz darauf wieder öffnet und nach vorne rückt, um sich ein Brot vom Tisch zu nehmen, erinnert sie sich an die Grundidee, von der sie schon so viel gehört hat. Geschichten über die alte Welt. Wie viel Mut muss es gekostet haben, so viel zu kritisieren? In einer Welt in der Probleme durch Kriege gelöst wurden und in der jeder nur für sich selbst gekämpft hat.
Die Natur war zerstört worden. Einfach weil... ihr fiel kein plausibler Grund ein. – Sie beißt einmal kräftig in ihr Brot und scrollt weiter herunter. – Da gefällt es ihr so deutlich besser. Wenn alle ihren Platz haben und gemeinsam arbeiten. Gemeinsam statt gegeneinander. Sie kann sich gar nicht vorstellen, wie es damals gewesen sein musste.
Doch wie diese Änderung stattgefunden hat und ob diese Geschichten wahr oder nur Abschreckung sind, kann keiner mit Sicherheit sagen. Es muss jedoch eine sehr lange Zeit in Anspruch genommen haben. Trotzdem werden noch immer regelmäßig Dinge verändert und verbessert, sowie auch das Finanzsystem vor kurzer Zeit.
Sie selber kennt nur die Grundidee, durch Geschichten ihrer Eltern oder vereinzelter Dokumente, die sie im Archiv gelesen hat. Bei weitem noch nicht alle, aber das lag an ihrem Zeitmangel und ihrer Arbeit, die erledigt werden musste.
Es ist etwa fünf Generationen her, seitdem die Lichtbringer Organisation ins Leben gerufen worden ist, die Idee dazu existierte, nach ihren Informationen, schon etwas länger. Diese Organisation war gewachsen, musste sich aber gegen große Gegner durchsetzen, die von dieser Idee nichts hielten. Mächtige Gegner, die selbst vor Gewalt nicht haltgemacht haben, um ihre Macht zu sichern. Sie hatten Angst ihre Macht zu verlieren. Ihr Egoismus war zu groß. Heute ist das zum Glück anders.
Jedoch war das Ziel lediglich, dass alle Menschen einen vernünftigen Lebensstandard hatten, dass es keine Kriege mehr gab und dass sie endlich gemeinsam die Natur retten konnten. Und die Welt verbessern konnten. Was heute auch schon ziemlich weit vorangeschritten ist. Aber der Egoismus der Menschen ist dennoch ein sehr schwerer Gegner gewesen. Ein Gegner an dem sie fast gescheitert wären. Doch die Lichtbringer haben nicht aufgegeben. Denn sie wussten, dass sie nichts verlieren können. Sie haben weitergekämpft. Sie haben das Licht der Hoffnung niemals erloschen lassen.
Selbst als die Angst drohte das Licht zu ersticken. Angst der Menschen, Macht zu verlieren. Angst, vor der Veränderung. Angst, vor den blutigen Kämpfen die schließlich bedauerlicher Weise doch Realität geworden sind, weil manche es zu ernst genommen hatten und die Idee mit Gewalt hatten umsetzen wollen, dabei mussten doch alle mitarbeiten. Freiwillig, nicht gezwungen. Die Idee beruht auf friedlicher Zusammenarbeit. Ohne Gewalt, ohne Krieg, ohne Blutvergießen. Aufgebaut auf Kompromissen. Jeder muss bereit sein etwas zu geben, denn nur so können sie etwas zurückbekommen.
Doch nicht alle waren dafür bereit gewesen.
Das waren nur wenige Dinge, die der Idee schwer zugesetzt haben. Oft hat man sich Fragen gestellt, ob es funktionieren würde, ob es besser wäre, ob es nicht zu gefährlich wäre die Idee umzusetzen.
Wie dumm die Menschen doch damals waren. Ihr Blick wanderte über die letzten Zahlen.
Auf Dauer hätte es nicht so bleiben können, oder etwa doch? Sophie selbst kannte es nicht anders, sie war mit dieser Idee aufgewachsen. Wie hätte ihr Leben wohl damals ausgesehen?
Bestimmt nicht so gut. Nicht so unbeschwert und nahezu frei.
Es gibt keine Kriege mehr, in großen Diskussionen werden die Themen angesprochen, auch wenn es manchmal in ziemlich hitzigen Debatten endet, denkt keiner daran Gewalt anzuwenden, wie es früher üblich gewesen ist.
Allerdings, wenn sie diesen alten Texten Glauben schenkt, hatten sich die Menschen um etwas ganz anderes Sorgen gemacht. Um Regierungsbildungen, weil man nicht zusammenarbeiten wollte oder konnte, aufgrund irgendeiner Ideologie. Massenfluchten, wegen Kriegen und Auseinandersetzungen, die genauso gut, wörtlich hätten geklärt werden können, ohne etlichen Menschen das Leben zu kosten. Nicht zu vergessen, der Umweltschutz, der gar nicht vorhanden gewesen war. Sie erinnerte sich sogar an Geschichten über einen Herrscher, der all das leugnete und die Zerstörung der Umwelt als Lüge abtat. Dabei schienen die Menschen Beweise dafür gehabt zu haben – doch er wollte ihnen keinen Glauben schenken, weil es nicht zu seinem Weltbild passte. Das schlimmste daran war, dass die Menschen ihn freiwillig gewählt hatten, da sie keine Frau als Herrscherin haben wollten. Zumindest hatte Sophie es so in einem Tagebuch gelesen.
All das kannte man in ihrem Zeitalter nicht mehr richtig, weil es um ein neues, besseres System ging, mit Worten, statt mit Waffen – eben eine Suche, nach einer gemeinsamen Lösung, trotz Unstimmigkeiten, die man weitestgehend versuchte zu lösen. Im Gegensatz zu diesen alten Zeiten haben sie schon so viel erreicht und trotzdem sind sie noch nicht zufrieden, so vieles gibt es noch, das verbessert werden muss. Sie werden niemals fertig sein und sich mit dem Ergebnis zufriedengeben, denn es gibt immer etwas zu verbessern. Und Sophie wird, genauso wie alle anderen, auf ihre Art, immer daran arbeiten es zu optimieren.
Die einen haben den Kommunismus für gut empfunden, aber besonders die westlichen Länder wollten an ihrem Kapitalismus festhalten. Eine gute Mischung aus beidem entwickeln zu können war wirklich schwer gewesen und hatte seine Zeit gekostet. Schließlich sollte es möglichst fehlerfrei sein. Fehlerfrei ist es auch jetzt nicht, aber sie arbeiten daran. Auch wenn sie wissen, dass es niemals perfekt sein kann.
Die Lichtbringer haben niemals aufgegeben. Haben stets Hoffnung gehabt, und wollten dafür kämpfen, dass all das funktioniert. Wussten, dass es doch möglich sein muss, ein System zu schaffen, dass beides vereint: Kapitalismus und Kommunismus. Eine Mischung. Die Lichtbringer haben in vielen Teilen ihrer Idee auf bestehende Teile zurückgegriffen und versucht diese optimal zu verbinden, vielleicht ist ihnen das nicht immer gelungen, aber sie haben stets ihr Bestes gegeben.
Sophie kontrolliert gerade die letzten Zahlungsbeiträge. Einzahlungen von den Ländern. Es handelt sich um Beträge, die ausschließlich mithilfe von Worten ausgehandelt worden sind, zwar mit einigen verstimmten Seelen, aber sie haben schließlich eingesehen, dass das neue System etwas von allen Menschen benötigt, worauf es aufbauen kann – inzwischen sind das ziemlich nebensächliche Diskussionen. Und letztlich kommt es allen zu gute. Es ist ein kleines Startkapital, für alle, die nie wirklich etwas besessen haben. Es reicht zum Leben, doch wer einen besseren Lebensstandard möchte, muss arbeiten. Jeder hat die Möglichkeit sich in seinem Bereich einzubringen und findet eine Arbeit - zumindest, wenn er es möchte. Die meisten gehen einer Arbeit nach und haben dabei im Regelfall sehr viel Spaß.
Von dem Geld, das dem System untergestellt ist und übrigbleibt, werden Bildungszentren in ursprünglich ärmeren Ländern ausgebaut. Zudem ist es wichtig ein möglichst einheitliches Bildungssystem für alle zu schaffen. Selbstverständlich haben es einige Teile der Welt besser als andere, was mit der Vergangenheit zusammenhängt, aber dennoch sollte Ausgeglichenheit herrschen, soweit es geht. Nach und nach wird sicher eine vollständige Ausgeglichenheit herrschen – zumindest ist das der Wunschgedanke vieler. Denn es ist noch lange nicht perfekt, aber sie arbeiten weiter.
Sophie war bei Verhandlungen dabei gewesen. Zwar hat sie selber nichts gesagt, sondern einfach nur Zahleneinträge gemacht, als die Abgeordneten der Länder bestimmten Beträgen, mehr oder weniger freiwillig, zugestimmt haben, trotzdem konnte sie dabei ziemlich viel beobachten.
Sie war einer der Wortführerinnen zugeteilt gewesen. Diese Ruhe, die diese Frau dabei ausgestrahlt hatte, diese Disziplin, hatte Sophie wirklich beeindruckt. Die Frau war immerzu ruhig geblieben, auch wenn der Gegenüber hitziger geworden war, oder keine Geduld mehr gehabt hatte. Generell sind Frauen in der Organisation stark vertreten und besitzen die gleiche Macht wie Männer, jedoch hatte Sophie auch gelesen, dass diese Einheit nicht selbstverständlich war. Dass dieses Einverständnis der Gleichberechtigung einst nicht als selbstverständlich angesehen worden war. Nun wird jeder Mensch gleich angesehen. Ungeachtet seiner Kultur, seines Geschlechtes, seiner sexuellen Vorlieben; sie kann sich nicht vorstellen, dass manche Menschen sogar gewaltbereit gegenüber anderer Menschen gewesen sein sollen, nur weil diese zum Beispiel das gleiche Geschlecht liebten. Es macht einfach keinen Unterschied. Solange man sich verständigen kann, war es doch egal!
Es ist wirklich beeindruckend, was erreicht wurde. Für wie viel schon gekämpft und sich eingesetzt wurde und wie wenig, die darauffolgenden Generationen eigentlich nach und nach werden machen müssen. Zumindest im Verhältnis zu dem, was schon geschehen ist. So viel ist schon passiert, doch hat es fast schon zu lange gedauert, bis es wirklich funktionierte.
Bis die Menschen ihre Fehler eingesehen und bereit gewesen waren, sie gemeinsam zu beheben.
Endlich steht Sophie von ihrem Stuhl auf und die Zahlen blicken ihr stolz hinterher, während sie sich noch ihre Tasche schnappt und auf die Suche nach ihrem besten Freund geht.
Doch der Gedanke an die Lichtbringer bleibt, wie so oft, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig ist, bestehen.
***
Er ist, wie so oft in letzter Zeit, im Archiv der Lichtbringer Organisation, um beim Auf- und Umräumen zu helfen. Lars hebt einen Karton hoch, den sie ihm hingestellt hat, während sie hin und her wuselt. Sie scheint nicht richtig zu wissen, was sie da gerade eigentlich tut. Doch er weiß um ihre fachkundigen Blicke und dass es nur von außen völlig wirr erscheint. Sie zieht die Bücher und Dokumente aus den Schränken und wirft einen kurzen Blick auf diese. Dann steckt sie die Dokumente scheinbar willkürlich in verschiedene Kisten. Doch hinter dem Chaos steckt Ordnung.
Lars seufzt kurz, bevor er auch diese Kiste Richtung Keller trägt. Auf seiner Stirn bilden sich bereits erste Schweißtropfen. In den Kartons, die Runa gerade packt, sind anscheinend irgendwelche Tagebücher und Dokumente, die man nicht mehr braucht; trotzdem sind sie noch wichtig genug, um im Keller ordentlich verstaut in Kartons zu verstauben. Irgendwie tut es ihm weh, zu wissen, dass all dieses Wissen verstauben wird; vielleicht nie mehr gelesen wird.
Als Lars den Karton wieder abstellt, funkeln ihn goldene Lettern an, er öffnet zögernd den Karton, eigentlich versprach er, die ganzen Kartons nur herunterzutragen, und Runa zu helfen, jedoch ist seine Neugierde dann doch größer. Er atmet tief durch, sein schwerer Atmen vermischt sich mit der leicht modrigen Luft des Kellers.
Er greift nach dem Buch. Es ist verstaubt und man kann ihm sein Alter ansehen. Er pustet den Staub vom Buch und der Staub wirbelt durch die Luft wie grauer Schnee.
Fasziniert betrachtet er das Schauspiel.
Der ledrige Einband, welcher nun besser sichtbar wird, ist noch sehr gut erhalten, kann aber die vielen Seitenteile nicht mehr verstecken, die versuchen an den Seiten herauszuschauen und einen Blick auf den Fremden zu wagen.
Er ist mindestens genauso fasziniert von diesem fast schon überfüllt wirkenden Buch, dessen Titel nur noch aus wenigen abgeblätterten Lettern besteht. Der Rest des Titels sah ihn aus alten und kaputten, aber dennoch stolzen Augen an. Weise Augen. Augen, die viel erlebt haben und Unmengen an Wissen angesammelt haben. Augen, die nichts mehr schocken kann.
In der unteren rechten Ecke entdeckt er eine kleine Eingravierung. Ein kleines S ziert den Einband. Mehr nicht. Trotzdem strahlt dieses S heller, als alles andere. Es scheint als würde dieses S das ganze Buch mit Energie versorgen und am Leben erhalten. Es erinnert ihn an seine Freundin Sophie. Sie leuchtet ähnlich. Wie der Mond in der Nacht. Wie die Natur nach einem schneereichen Winter.
Er will unbedingt mehr von dem Inhalt des Buches erfahren, daher nimmt er es mit. Wenn er Glück hat, kann er es sogar seiner besten Freundin zeigen. Vorausgesetzt sie ist fertig mit ihrer Arbeit. Doch er muss es ihr zeigen. Er muss es Sophie einfach zeigen.
Obwohl Lars nicht lange weggewesen ist, stehen an dem Tresen nun noch mehr gepackte Kartons als zuvor; er versucht das Buch unauffällig in seiner Tasche verschwinden zu lassen, die er auf einem der Tische abgelegt hat.
»Was war das?«, fragt Runa sofort interessiert; mit mehreren Büchern im Arm, kommt sie um ein Regal herum.
Sie hat einfach immer alles im Blick, egal wie beschäftigt sie gerade aussieht. Sie ist wie ein Beutetier in der Wildnis. Immer auf der Hut, selbst winzige Details fallen ihr sofort auf.
Er blickt auf, doch da steht sie schon neben ihm und stellt den Bücherstapel auf dem Tisch ab. Neugierig greift sie nach dem Buch, welches er eben in seiner Tasche verschwinden lassen wollte.
»Das... das... das ist«, versucht er zu erklären, aber sie achtet gar nicht darauf.
Sie betrachtet das Buch und runzelt die Stirn, bevor sie sich auf einem der Stühle niederlässt und es sich genauer ansieht.
Nachdenklich sagt sie schließlich: »Das ist Eigentum der Lichtbringer Organisation, das sollte doch in den Keller.«
Sie hat es sich nicht lange angesehen, sondern nur von außen betrachtet, aber dennoch erkennt sie es sofort, was ihn zögernd nicken lässt.
»Für was brauchst du es?«
Ihr Blick scheint ihn zu durchbohren. Er ist nicht wirklich böse, sondern eher fragend.
»Lesen«, ist seine Antwort, bevor er zurück zu den Kartons geht und nach einem greift.
»Ich wollte es lesen.«
Sie brummt etwas, bevor sie ihre Stimme wieder hebt. Er bleibt mit dem Karton in der Hand stehen.
»Es ist ein Tagebuch… Im Register steht es unter alt aber es ist wohl noch wichtig genug, es im Keller zu haben. Du weißt, dass du das nicht einfach mitnehmen darfst!«
Ihre Stimme ist streng, doch Lars kennt Runa. Er ist sich sicher, dass er vielleicht doch eine Chance haben könnte das Buch zu lesen.
Als er gerade eine Kiste abstellt, hört er hinter sich Schritte, die er als Runas erkennt: »Ich weiß, Runa, aber es ist doch auch nicht verboten es zu lesen. Schließlich sind alle Informationen allen offen.«
»Es wird aber nicht umsonst hier im Archiv sein«, erwidert sie unsicher. »Es ist noch nicht kopiert, es ist das Original. Wenn das zu Schaden kommt... außerdem gibt es einen Grund warum es nicht mehr öffentlich zugänglich ist.«
»Hast du es denn gelesen?«, fragt er, als er den Karton abgestellt hat und sich wieder zu ihr herumdreht.
»Sehe ich so aus, als würde ich alle Werke kennen? Wenn dann habe ich alle Werke der letzten Generation gelesen, aber das Buch stand ja bei der ersten Generation! Untergekommen ist es mir vorher außerdem auch noch nicht…«
»Und genau deshalb möchte ich es lesen.« Er geht einen Schritt auf sie zu. »Es wird seinen Weg schon wieder herfinden. Zudem kann ich es dann Sophie zeigen. Das Tagebuch hat eine besondere Ausstrahlung. Das muss ich ihr einfach zeigen.«
»Kannst du es nicht auch hier lesen und es ihr hier zeigen?«, lenkt Runa ein. Sie klingt ein wenig ungeduldig und ungläubig, aber auch nicht mehr so sicher.
»Wenn es dann erstmal nicht im verstaubten Keller landet, können wir darüber durchaus reden«, lacht Lars schließlich.
***
Schließlich haben sich Runa und Lars tatsächlich darauf einigen können, dass das Buch im Archiv der Lichtbringer bleibt und sie es dort lesen können. Auch spät in der Nacht, wenn das unbedingt sein muss. So wie es jetzt der Fall ist.
Sophie ist ebenfalls gekommen und wie Lars es sich schon dachte, weckt es auch bei ihr Interesse; auch wenn keiner der beiden genau weiß, was an dem Buch so interessant ist.
Das Buch liegt immer noch auf dem Tisch, auf dem Runa es für die beiden zurückgelegt hat. Inzwischen fällt nur noch das Licht der Sterne in das große Archiv und taucht das Tagebuch in ein magisches Licht. Die Lettern scheinen noch stärker zu leuchten. Fasziniert streicht Sophie liebevoll über den glänzenden Einband.
Das Archiv ist ziemlich dunkel, die Sterne schaffen es nicht durch die Glaskuppel das gesamte Archiv auszuleuchten.
Tagsüber ist es durch die Glaskuppel immer hell und freundlich, auch in seinen dunklen, alten Holztönen. Normalerweise ist das Archiv nur tagsüber besucht, selten sind noch Mitglieder der Lichtbringer zu dieser späten Stunde dort. Doch Lars und Sophie wollen noch heute anfangen das Buch zu lesen.
Gemeinsam machen sie es sich unter einer Lampe am Tresen gemütlich, da diese genügend Licht spendet, um das Buch gut lesen zu können.
Mit vorsichtigen und flinken Bewegungen löst Sophie schließlich die ledernen Bänder, die das Buch verschlossen gehalten haben. Die Schnalle, die sie damit freilegt, ist wohl zerbrochen, jedoch ist sie trotzdem sorgfältig geschlossen worden. Doch das Alter hat dem Tagebuch ordentlich zugesetzt und es sieht nicht mehr so schön aus wie früher. Nun verschließen Leder und Kordelbänder das Buch. Auch die beiden Perlen an der Kordel sind wohl nachträglich daran befestigt worden.
In dem Archiv herrscht völlige Ruhe. Nur das leise Rascheln des Buches ist zu hören. Gespannte Stille. Die beiden halten den Atem an.
Sophie öffnet das Buch. Dort steht in einer fein säuberlichen Schrift und noch dazu sehr gut erhalten, auf vergilbten Seiten:
Tagebuch der Lichtbringer
Darunter sind noch zwei unleserliche Zeichen gesetzt worden. Sie blättern eine Seite weiter, und dann beginnen sie zu lesen. Das ganze Archiv scheint zuzuhören, als Sophie die Stille durchbricht und mit leiser, aber mächtiger Stimme beginnt vorzulesen:
Hallo,
Ich weiß nicht, ob du diesen Brief jemals lesen wirst und doch musste ich ihn schreiben. So viel habe ich dir zu sagen, doch ich muss mich kurzfassen.
Ich hatte eine Idee. Wenn alle Völker und Nationen zusammenarbeiten, dann könnten wir den Krieg beenden und viel mehr schaffen, zum Beispiel die Natur retten.
Die Details werden noch folgen, die Zeit reicht leider nicht. Aber wie findest du die Idee grundsätzlich? Bist du dabei?
Liebe Grüße,
Eine Freundin
Mit diesen simplen Worten startete unsere Idee. Viel hatte ich ihm damals nicht geschrieben, hoffte aber dennoch, dass es genug gewesen war. Hatte gehofft, dass er es verstand. Ich erinnere mich noch daran, wie ich gezittert hatte, als ich seine Adresse auf den Umschlag geschrieben hatte, aber doch hatte er ihn erhalten und gelesen. War dabei gewesen, obwohl er so wenig wusste. Mit diesen Worten hatte ein langer Weg begonnen. Wir beide wussten damals, dass wir nichts verlieren konnten, aber was war, wenn doch? Manchmal war unser Projekt von Unsicherheiten begleitet worden und dann doch wieder voller Selbstsicherheit. Dies soll unsern Weg, den wir gingen, zeigen. Ich habe dieses Buch immer mal wieder aus dem Schrank gezogen, um hierin unsere Ergebnisse niederzuschreiben. Nun hoffe ich einfach, dass dies den folgenden Generationen weiterhelfen wird, zu erreichen, was wir noch nicht erreicht haben. Denn Geschichte ist niemals auserzählt, so viel gibt es zu erzählen und so viel zu verändern. Denn es gibt keine „perfekt-realistische“ Welt.
Dies war die erste Seite. Ohne wirklich große Worte… Langsam fingen Lars und Sophie an sich zu fragen, von wem das Buch wohl ist, denn irgendwie gefällt ihnen beiden seine Schlichtheit, aber auch die Art und Weise, wie es geschrieben worden ist. Keiner der beiden wagt es ein Wort zu sagen, die beiden verstehen sich auch ohne Worte. Sie blättern ein paar Seiten weiter, denn ihre Begeisterung ist nun endgültig geweckt. Sie entdecken eine Seite, die vollgepackt ist mit hineingelegten Briefen und Zetteln, sorgfältig hat jemand auf jeden Zettel und jeden Brief ein Datum geschrieben, ganz klein, und dann noch einen Namen:
Alina
Nachdem Lars und Sophie endlich an dieser Seite des Tagebuchs angelangt sind, liest Sophie den Text laut vor, sie sind gespannt darauf, wer Alina ist, oder warum dieser Seite diese Menge an Blättern und Zetteln beigelegt worden sind. Nur ihre zarte Stimme hallt durch die Archivkuppel:
Eigentlich hatte ich sie oft angestarrt. Niemals hätte ich erwartet, dass ich ihre Geschichte jemals hören würde. Doch alles veränderte sich dann mit dem Brief, den sie mir schrieb. Dass sie mir ihre Geschichte erzählen wollte, weil sie mich, ebenso wie ich sie, wohl beobachtet hatte, und gesehen hatte, wie ich ihre Narbe angestarrt hatte. Die Narbe, die ihr knapp vom linken Auge bis hin zu ihrem Haaransatz Richtung Ohr reichte. Ich weiß bis heute nicht, wieso ich sie immer so angestarrt hatte, aber jetzt wo ich ihre Geschichte kenne, bin ich froh, dass ich Alina kennen lernen durfte.
Nachdem ich ihren Brief erhalten hatte, haben wir uns tatsächlich bald darauf gesehen und konnten uns unterhalten. Das Mädchen, was zum damaligen Zeitpunkt noch keinen Namen für mich hatte, einfach das Mädchen mit der Narbe gewesen war, war ganz anders als ich es mir je vorgestellt hatte. Ich hatte mir die abenteuerlichsten Geschichten zu dieser Narbe einfallen lassen, doch da hatte ich ja nicht geahnt wie fürchterlich Alinas Geschichte wirklich gewesen war! Heute kenne ich sie und ich weiß nicht wie sich unsere Idee ohne sie entwickelt hätte. Dabei hatte zuvor schon festgestanden, dass wir die Welt verändern wollten. Die Welt retten wollten, indem alle zusammenarbeiteten, es keine Kriege mehr geben sollte, ein einheitliches System der Welt erschaffen wurde. Ohne sinnlose Machtspielchen. Aber ihre Geschichte veränderte den Veränderungshorizont dann doch noch einmal, zumindest für mich.
Alinas Geschichte fing irgendwo an, wo das Wort Freiheit niemals etwas bedeutet hatte, schon gar nicht, als ihr diese Narbe zugefügt worden war. Für alle sichtbar. Ein Zeichen, welches sie immer bei sich tragen wird, jedoch ändert das nichts an der Tatsache, dass sie dennoch eine starke, aufmunternde Persönlichkeit ist. Was aber auch an ihrer Lebenseinstellung liegen könnte: Jedem ein Lächeln zu schenken. Zu lächeln, auch wenn es ihr selber nicht sonderlich gut geht. Einfach die Hoffnung nicht aufzugeben, dass jedes Lächeln, was sie anderen schenkt diese auch erreichte. Glücklich machte, wenn auch nur für diesen einen Moment. Sie herauszuführen aus dem Zwang der Gesellschaft. Wie ein Buch. Nur dass sie es wahrhaftig ist, die die Menschen glücklich zu machen versucht. Trotz ihrem durch die Narbe entstelltem Gesicht.
Alina hatte mir also damals erst einmal erzählt, was ihr Name bedeutet: Die Leuchtende, Schöne, aber auch Fremde. Die Edle und Fröhliche. Alles was ich wirklich sagen muss ist, dass es auf Alina zutrifft. Sie ist ein Mensch, der dieses Gefühl einfach weiterträgt, was ich auch sehr an ihr schätze. Und ich weiß, dass er es ebenso sieht wie ich.
Wie auch immer, sie erzählte mir also, dass an jenem Ort, ihrer damaligen Heimat, bevor sie floh, um die Menschen im Herzen zu verändern, Dinge vor sich gingen, von denen dort kaum einer sprach. Es wurde totgeschwiegen. Und bis zu jenem Tag, hatte Alina das ebenso hingenommen und totgeschwiegen, wie alle anderen auch. Niemand hatte darüber gesprochen, niemand wusste augenscheinlich davon, aber irgendwie dann doch. Es war seltsam gewesen, hatte sie erzählt. Jeder hatte von der Unterdrückung und der Gefahr, die über dem Dorf hing gewusst, aber dann auch irgendwie wieder nicht. Schon gar nicht hatte man über mögliche Plünderungen gesprochen. Auch nicht innerhalb der Familie. Man hatte gemunkelt, dass all das vielleicht ein Ende hätte, versucht normal zu leben. Doch dann hatten eben diese Krieger der Unterdrückung und Ungerechtigkeit das Dorf wieder geplündert. Alina hatte erzählt, dass sie zuhause gewesen war, mit ihrer Familie. Dann hatte es an der schmalen, instabilen Eingangstür gerumpelt und gepoltert. Ihr Vater hatte zögernd und in Aufruhr die Tür geöffnet. Alina erzählte die Geschichte nicht gerne, nur bei ihrer Narbe war sie wirklich offen, aber was noch alles an diesem Tag in der Hütte geschehen ist, hat sie mir erst im Laufe der Zeit erzählt und auch nur, wenn sie sich wirklich wohl dabei fühlte. Selbst dann nur ungern. Sie hatte Angst, was man auch nachvollziehen konnte, zumindest ich verstand das. Es waren mehrere Männer gewesen. Alle in dunkle Mäntel gehüllt, die Gesichter unsichtbar, verdeckt. Bei dem einen, hatte Alina bis heute das Gefühl ihn gekannt zu haben. Seine Stimme und sein Geruch waren ihr bekannt vorgekommen, aber in ihrem Verlust und ihrem Schmerz hatte sie es nicht zuordnen können. Bis heute, da immer, wenn sie davon erzählte, das Adrenalin von jenem Tag sie zu beherrschen schien, was man ihr auch immer wieder anmerkt, wenn sie nur daran denkt. Sie hatte in der oberen Etage der Hütte gelesen. Ihr Vater hatte geschrien. Daraufhin war sie ohne nachzudenken nach unten gerannt. Dort hatte einer der Männer sie in Empfang genommen, und sie sofort an den Armen gepackt, ein Messer an ihrer Kehle. Sie hatte aufgeschluchzt, versucht sich loszureißen, zu ihrem Vater zu gelangen. Der Mann hatte sie ausgelacht, sie verhöhnt. Sie hatte geschrien, gefleht zu ihrem Vater, der immer noch schmerzvoll schrie, zu gelangen. Schließlich hatte der Mann sie in das Wohnzimmer gestoßen, dort lag ihre Mutter regungslos am Boden, ihr Bruder auf der anderen Seite des Zimmers hatte sie wohl mahnend angesehen. Ihr Vater in der Mitte des Raumes, in der Nähe seiner Frau schluchzte, ihm war aus einer Wunde am Kopf Blut geströmt. Alina hatte zu ihm gewollt, doch der Mann, der sie immer noch hielt, hatte es nicht zugelassen. Dann hatte Alina zugesehen, wie ein weiterer Mann ihren Bruder zu ihrem Vater gestoßen hatte. Alina waren Tränen der Furcht und Angst über die Wangen gerollt. Ihr Bruder hatte sanft seinen Vater berührt, daraufhin hatte der Mann hinter Alina böse geknurrt, und ein anderer war auf ihren Bruder losgegangen. Daraufhin hatte sie nur noch Blut gesehen, war dabei zusammenzubrechen, doch der Mann hatte sie auf den Füßen gehalten, beharrlich, hinter ihr. „Schande des Lichts“, hatte ein anderer Mann geflüstert, hatte sich an die Stirn gegriffen und Alina dann angesehen. „Du kannst ihn retten“, hatte er gesagt. Alinas ängstliche Augen, als sie davon erzählte, verfolgen mich immer noch! „Wie?“, ihre Stimme war nicht mehr als ein Hauch gewesen, doch es war dennoch da. „Du stellst dich als Schande des Lichts in den Dienst der Kriegerschaft“, hatte ein anderer geflüstert. „Meinen Vater rette ich damit nicht. Er liegt im Sterben, wegen der Wunde“, hatte Alina geschluchzt. Panisch, nicht wissend, was man von ihr wollte. „Wir können ihn nicht leben lassen“, war die Antwort, woraufhin derselbe Mann, der zuvor ihrem Bruder das Messer ins Herz gerammt hatte, auf ihren Vater losgegangen war. Alina hatte geschrien, ein letztes Mal versucht sich loszureißen, doch geschafft hatte sie es nicht. Stattdessen war sie bewusstlos geschlagen worden.
Als Alina zu sich gekommen war, war sie an einem Ort gewesen, den sie nicht kannte, ihre Hände gefesselt, um sie herum viele weitere Mädchen ihres Alters, alle waren sie gefesselt. Einige kannte sie aus ihrer Heimat, andere hatte sie noch nie gesehen. Um sie herum waren kahle, kalte Steinmauern gewesen. Sie hatte vergebens versucht sich loszureißen. Ein wenig später, jegliches Zeitgefühl schon längst verloren, waren dann Männer gekommen. Einer davon hatte sich vor Alina gekniet und sie gemustert. „Ich kann dich retten, Alina“, der Mann, der ihr so bekannt vorkam, aber sie konnte ihn noch immer nicht zuordnen. „Vertraust du mir?“, hatte er gefragt. Trotz des Adrenalins hatte sie den Kopf geschüttelt, doch den Mann hatte das nicht interessiert und er hatte die Stimme erhoben: „Die hier!“, und auf sie gedeutet. Man hatte sie an einen anderen Ort geschleift, wo sie festgehalten wurde. Ein weiterer Mann war dort gewesen. Er hatte einen Befehl, auf einer ihr fremden Sprache gegeben, der Mann, der sie zuvor um sein Vertrauen gebeten hatte, kam auf sie zu, das Messer erhoben. Hatte sie mit einer Hand an die Felswand hinter ihr gedrückt und dann das Messer über ihr Gesicht gezogen. Alina hatte vor Schmerzen geschrien, hatte Rot gesehen. Der Mann hatte geflüstert: „Ich werde dich gehen lassen und du wirst versuchen all dem ein Ende zu bereiten, Alina. Es tut mir furchtbar leid! Das ist der Egoismus dieser Menschen, die unsere Dörfer zerstören.“
Man hatte sie gepflegt, versorgt, wie von Zauberhand. Doch da war Alina schon hier gewesen. Weit weg von ihrer Heimat. Bis heute wusste sie nicht wer der jemand gewesen war, außer, dass sie ihm wohl ihr Augenlicht und ihr Leben bis heute in Freiheit verdankte. Und eben jene Narbe. Und sie wusste, dass sie den Egoismus der Menschen stillen musste, dass er nicht gut war, dass er verschwinden musste, und daraufhin hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht in jedem das Gute zu sehen. Wie in dem Mann, der um ihr Vertrauen flehte…