Es war ein windiger regnerischer Tag. Die kleine Sophie lief mit ihrem quietschgelben Regenmantel und den grünen Gummistiefeln durch den Matsch. Hier war sie es gewohnt, dass es im Frühling noch etwas nasser war.
Eigentlich mochte sie den Matsch und vor allem die vielen Pfützen, in denen sie so wundervoll plantschen konnte. Jedes Mal, wenn es wieder regnete, sog sie die Luft gierig auf und genoss den frischen Duft von nassem Gras und feuchten Blättern. Aber heute konnte sie sich nicht an den Tropfen erfreuen, die auf ihre Kapuze über ihren Haaren prasselten.
Ihre Mutter hatte mit ihr geschimpft.
Sie hatte doch nur ein wenig Fernsehen wollen. Es war so langweilig, wenn ihre Mutter mal wieder Stunden vor dem Computer verbrachte und arbeitete. Hätte die Fernbedienung doch nur nicht so weit oben auf der Kommode gelegen, dann wäre jetzt noch alles gut.
Sie hatte gewusst, dass ihre Mutter böse werden würde. Sie wurde immer böse, wenn man sie bei ihrer Arbeit störte. Dann hielt sie Sophie immer einen Vortrag darüber, wie wichtig es doch sei, dass sie ungestört arbeiten konnte, weil sie das Geld verdienen musste. Sophies Vater war im Krieg in einem Land ganz weit weg, so hatte Sophie es sich gemerkt. Und deshalb musste ihre Mutter alleine für sie sorgen und Sophie sollte sie in Ruhe lassen während sie arbeitete.
Normalerweise tat sie das aus.
Aber heute wusste sie nichts mit sich anzufangen als fernzusehen. Deshalb musste sie an ihrer Mutters Ärmel zupfen bis sie sie bemerkte, um sie bitten zu können, ihr die Fernbedienung zu geben. Doch sie hatte nicht mal die Chance dazu gehabt. Ihre Mutter hatte sofort genervt aufgestöhnt und ihr den üblichen Vortrag gehalten. Aber sie wirkte böser als sonst und Sophie konnte es einfach nicht erklären.
Ihre Mutter war lauter geworden als üblich. Sie hatte sie angeschrien.
Mit Tränen in den Augen war Sophie hinaus gerannt und jetzt lief sie mit hängenden Schultern durch den Matsch.
Sie kämpfte gegen ihre Traurigkeit an. Ihre Mutter hatte es bestimmt nicht so gemeint, aber sie fühlte sich verletzt.
Auf einmal hörte sie eine Stimme über ihr.
"Was machst du denn so ganz alleine bei diesem Wetter hier draußen?"
Sie blickte auf und entdeckte das Gesicht einer alten Frau. Ihre grauen Haare hatte sie zu einem Zopf zusammen gebunden, in der einen Hand hielt sie einen großen Schirm schützend über ihren Kopf und in der anderen einen geflochtenen Korb. Sophie konnte nicht erkennen ob oder was in dem Korb war, aber eigentlich war es ihr in dem Moment auch egal.
Ihre Mutter hatte ihr eingetrichtert, sie dürfe nicht mit fremden Menschen reden, doch diese Frau sah so nett und vertrauenswürdig aus, sodass sie alles über Bord warf.
"Ich bin traurig" antwortete Sophie. Sie wollte nicht schlecht über ihre Mutter reden, jedoch hatte die das Bedürfnis der Frau zu erzählen, wie es ihr ging.
Die Alte fragte gar nicht weiter. Ein Blick in Sophies Augen genügte und sie schien zu erkennen, was Sophie eben erlebt hatte. Es war wie Magie. Ihr faltiges Lächeln zeigte Mitleid und Verständnis. Sofort fühlte Sophie sich ein klein wenig besser. Sie konnte gar nicht anders bei der Freundlichkeit, die die alte Dame ausstrahlte.
"Warte, ich weiß, was gegen kleinen Kummer hilft." Sprach sie, immer noch lächelnd und wühlte in ihrem Korb.
Behutsam zog sie eine gelbe Tulpe hervor und streckte sie Sophie entgegen.
Kurz viel ihr Blick auf Sophies Mantel.
"Schau Kleines, diese Tulpe hat die selbe Farbe, wie dein Mantel. Sie war für dich vorgesehen."
Sophie staunte über die Schönheit der einzelnen Blume.
"Na nun nimm sie schon."
Sophie nahm sie vorsichtig entgegen, darauf bedacht, ihr kein Blütenblatt zu krümmen.
"Gib gut auf sie acht und verwende sie sinnvoll" erklärte ihr die Alte in einem geheimnisvollen Ton. Sie tat so, als wäre diese Tulpe das wertvollste auf der Welt. Und auch für Sophie erschien sie nun als unersetzbar und unbezahlbar. Sie staunte, selbst als sie den zarten Stängel in ihrer Hand spürte.
"Sie bewirkt Wunder und zaubert jedem ein Lächeln auf das Gesicht!" hörte sie die Frau noch sagen, doch als sie ihren Kopf hob, war sie schon verschwunden.
"Danke!" rief Sophie ihr noch hinterher, aber es war schon zu spät und die Frau hatte ihren Dank nicht mehr hören.
Trotz des schlechten Gewissens, dass sie hatte, weil sie sich nicht richtig bedanken konnte, wie es ihre Mutter ihr beigebracht hatte, musste Sophie unwillkürlich lächeln, als sie sich wieder die wundervolle gelbe Tulpe in ihrer Hand anschaute.
Sie wusste genau, was sie damit machen wollte!
Vorsichtig bettete sie die Tulpe in ihrem Arm, geschützt durch ihren Körper, sodass sie nicht zu viel Regen abbekam, und lief so schnell nach Hause, wie sie konnte.
Als sie die Handknöchel gerade an die Haustür angelegt hatte, wurde diese schon aufgerissen und ihre Mutter stand vor ihr. Sie hatte diese Falte im Gesicht, die sie immer bekam, wenn sie sich sorgte. Sofort stieg Reue in Sophie hoch.
"Tut mir leid Mami, ich hätte nicht so einfach gehen sollen. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst." Bedrückt schaute sie auf die Schlammverschmierten Spitzen ihrer grünen Gummistiefel.
"Sieh mal, was ich dir mitgebracht habe, als Entschuldigung." Sie streckte ihrer Mutter die Tulpe entgegen.
Schlagartig verschwand die Sorgenfalte und die Gesichtszüge ihrer Mutter wurden weicher. Ein kleines Lächeln schummelte sich auf ihre Lippen, als sie die Tulpe erblickte.
"Ach Sophie, ich habe mir doch nur solche Sorgen gemacht. Das darfst du nie wieder machen, hörst du?"
An jedem anderen Tag hätte sie Sophie angeschrien, um ihren Stress und ihren Emotionen freien Lauf lassen zu können. Aber plötzlich, als Sophie ihr so reuevoll die Blume entgegenstreckte, konnte sie einfach nicht anders, als glücklich zu sein und vor Freude zu lächeln.
"Bist du nicht mehr böse?" fragte Sophie und hob langsam den Kopf, um ihrer Mutter in die Augen zu schauen.
Diese schüttelte liebevoll den Kopf. "Nein, ich bin nicht böse, mein Schatz."
Sie ging in die Hocke und schloss Sophie in ihre Arme. Sophie schmiegte sich glücklich an sie.
"Na komm, wie suchen mal eine passende Vase für deine hübsche Tulpe." sagte ihre Mutter, als sie sich voneinander gelöst hatten und verschwand in Richtung Küche.
Sophie schaute ein letztes Mal auf die Blume, die immer noch so perfekt und unversehrt aussah, wie sie sie von der alten Frau bekommen hatte. Die Frau hatte rechtbehalten, diese Tulpe bewirkte tatsächlich Wunder und Glück! Sie würde sie hüten, wie einen Schatz! Dann folgte sie ihrer Mutter den Flur hinunter.