Schon bevor er einen Fuß in die übervolle Bahn setzte, wusste Lukas, dass die Fahrt nicht sehr angenehm werden würde.
Durch die verschmierten Fenster sah er die Leute, wie sie sich dicht aneinander gedrängt in den Gängen die Beine in den Bauch standen. Und als sich die Türen endlich quietschend und quälend langsam öffneten, schlug ihm ein Schwall von dunstig miefendem Geruch entgegen, ein Gemisch aus diversen Körperausdünstungen, Parfüm und Deodorantien.
Menschen mit müden Gesichtern drängten sich an ihm vorbei. Raus aus der Käseglocke und endlich wieder Frischluft in den Lungen.
Er war neidisch auf sie, denn ihm stand die Tortur noch bevor.
Seufzend schlurfte er in den Zug hinein, sah sich nach einem freien Sitzplatz um und fand keinen. Typisch. Wie immer. Nachdem er alle Abteile durchlaufen und schon fast aufgegeben hatte, erspähte er ganz am Ende des Gangs einen unbelegten Sitz.
Als er näher herantrat, sah er den alten Mann. Sein Gesicht konnte man nicht gut erkennen, es war von einem schwarzen Cowboyhut bedeckt.
Aber das laute Schnarchen, verriet ihm, dass der Herr wohl eingeschlafen war. Nach einem kurzen Zögern ließ sich Lukas auf das durchgesessene Polster neben ihn sinken und lehnte sich zurück. Unmittelbar war er von einem Geruch nach Zigarrenrauch und Alkohol umgeben.
Er schielte nach rechts zu seinem Sitznachbarn. Der schlief noch immer selig. Unter dem Hut ragte ein gepflochtenes Ziegenbärtchen hervor, das während der Fahrt leicht hin und her schaukelte und zu seinen Füßen stand eine leere Bierflasche.
Mr. Cowboy wusste anscheinend sein Leben zu genießen.
Der Klingelton seines Handys riss Lukas aus den Gedanken. Schnell fummelte er es aus seiner Hosentasche und drückte den Anrufer weg.
Zum Glück schien der Mann noch zu schlafen. Er war nicht so scharf darauf von einem angetrunkenem Typen angepöbelt zu werden. Das taten die meisten alten Menschen nur zu gerne.
Er konzentrierte sich wieder auf das Display, ein Anruf und drei Sms. Seine Mutter schickte ihn wieder mal in den Supermarkt, um frisches Grünzeug zu holen. 'Ok' schrieb er genervt zurück und steckte das Handy wieder in seine Hosentasche.
Noch eine halbe Stunde in der Mikrowelle... Er sah an dem Mann vorbei aus dem Fenster und ließ den Blick über die Landschaft schweifen, die noch reichlich karg aussah. So langsam kam der Frühling zurück und färbte Bäume und Büsche wieder grün.
Aber der Winter war Lukas lieber, er verlor sich gern in der Stille. Die half ihm wenigstens einen klaren Kopf zu kriegen.
Gelangweilt wandte er sich der Uhr zu, noch 28 Minuten. So war es immer mit der Zeit. Wenn sie schnell vergehen sollte, dann tat sie es natürlich nicht.
Ein normaler Tag, eine normale Zugfahrt, gefangen im Alltagstrott... Ihm war das alles zuwider. Er brauchte eine Pause, mal was erleben, einfach weg von hier. Und dann? Wieder zurück in das Hamsterrad und rein in das gewöhnliche trantütige Dasein.
Prinzipiell sollte er sich glücklich schätzen, er hatte ein gutes Leben, Freunde, eine Lehrstelle. Wann hatte das aufgehört ihm genug zu sein?
Seufzend drehte er den Kopf wieder zum Fenster und blickte genau in ein Paar grimmiger Augen. Lukas zuckte kurz zusammen.
"Noch nie einen alten Mann gesehn', oder was?", pöbelte deren Besitzer und glotzte verächtlich. Er hatte eine knollige Nase, verwuschelte Augenbrauen, einen schmalen Mund und unzählige Falten um die wässrigen Augen herum.
"Das würde ich nicht sagen, ich war nur überrascht..."
"Du bist zusammengezuckt, wie ein kleines Mädel.", schnarrte der Alte und lachte dröhnend.
Lukas verfluchte sein Schicksal, denn die ersten neugierigen Blicke waren nach hinten zu dem ungleichen Paar gewandert. Er war kurz davor einfach aufzustehen und zu gehen.
"Nichts für ungut.", meinte der Fremde schließlich mit einem Grinsen im Gesicht. "Wohin des Wegs, junger Mann?" Super, jetzt wollte der Typ auch noch plaudern.
"Nach Hause." Genervt studierte Lukas die graue Decke über ihm.
"Dort wirst du niemals ankommen." Ein hüstelndes Kichern folgte den Worten des Alten und der Teenager sah ihn verstört an.
Hatte er sich gerade verhört? Das musste der Fall sein. Als könnte er seinen Gedanken folgen, schüttelte der Mann mit todernster Miene seinen Kopf.
"Nein ich scherze nicht, mein Freund. Du wirst heute sterben und die Zeit läuft." Langsam wurde es Lukas zu viel.
"Wollen Sie mich komplett verarschen?! Sind Sie einfach nur verrückt oder läuft hier ne versteckte Kamera?"
Die Blicke der anderen Passagiere waren ihm gerade völlig gleich. Moment, es schien ihn keiner zu beachten, komisch.
"Na, fällt dir nichts auf?", meinte der Cowboy vergnügt.
Lukas sah sich verwirrt um und erstarrte, wie vom Blitz getroffen.
Der Zug war zum Stehen gekommen, die Passagiere mitten in ihrer Bewegung erstarrt und eine unangenehme Stille hatte sich über das Abteil gelegt. Dafür hörte er seinen eigenen vor Angst ganz schnellen Herzschlag laut in den Ohren pochen.
Schockiert wirbelte er herum, verlor sein Gleichgewicht und stürzte auf den staubigen Boden. Kriechend wich er nun vor dem alten Mann zurück. Der hatte sein Gesicht zu einer boshaft grinsenden Fratze verzerrt und kam langsam näher.
"Was zum Teufel ist hier los?", rief Lukas mit zittriger Stimme und blickte den Unbekannten panisch an.
"Das hier...", er hob die knochigen Arme, "ist mein Werk. Nur eine Kleinigkeit für mich, ich könnte die Zeit ewig anhalten. Aber darum bin ich nicht hier."
Er kam vor Lukas zum Stehen und beugte sich zu ihm nach unten. Den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, musste der Junge beobachten, wie sich die Haut vom Schädel des Mannes schälte und wie das Wachs einer Kerze zu Boden tropfte. Eine blutige Fratze starrte ihm entgegen und brachte ihm den Würgereiz nah. Mit einem widerlichen Knacken zerbarsten danach die Knochen und das Gewebe schien sich neu zu einem völlig anderen Gesicht zu formieren, dem eines jungen Mannes. Er hatte bleiche, fast weiße Haut und schmale Gesichtszüge, die von schulterlangem dunklen Haar umrahmt wurden. Nach den heutigen Standards hätte man ihn als relativ gutaussehend bezeichnen können, wäre da nicht diese Art, wie er Lukas ansah... als wäre er ein Stück Fleisch. Der vorher noch wässrige Blick war neuen pechschwarzen Augen gewichen, die ihn nun durchdringend musterten.
"Alle anderen sind bisher umgekippt, ich bin überrascht. Aber das macht die Sache viel einfacher." Ein süffisantes Lächeln huschte über die schmalen Lippen. "Du fragst dich sicher, wer ich bin und was ich von dir will, nicht wahr? Das tun sie alle..."
Lukas nickte, kein Ton wollte seine Kehle verlassen.
"Nun, du musst sterben, Junge, aber soviel weißt du ja bereits. Jeder hier drin wird bald tot sein, wenn die Uhr weitertickt. Nur du hast die Wahl. Was meinst du?"
Es dauerte ein paar Augenblicke bis Lukas sich gesammelt hatte.
"Warum ich?", krächzte er schließlich. Was hier gerade geschah, erschien ihm so unglaubwürdig, dass er sich fragte, ob er nicht einfach neben dem alten Säufer eingeschlafen war.
"Weil du dich als Einziger neben den 'alten Säufer' geschmissen hast."
Lukas sah den bleichen Mann perplex an. War das nur Zufall oder hatte er gerade seine Gedanken gelesen?
"Natürlich hab ich das.", erwiderte dieser genervt. "Das war eine meiner schäbigsten Hüllen... Ich hab nicht damit gerechnet, dass irgendwer auch nur entfernt auf die Idee kommt, sich neben so ein Frack zu pflanzen.
Du musstest es natürlich tun und mir unnötige Arbeit machen. Danke." Er setzte sich in den Schneidersitz vor Lukas hin und ließ seine Finger knacken. "Aber hier sind wir nun, also, wie entscheidest du dich?"
Das Geschehen noch immer nicht fassend, starrte Lukas den fremden Mann an. Der wurde langsam ungeduldig.
Nervös schluckte der blonde Junge den Kloß in seinem Hals hinunter.
"Du sagst, dass alle in diesem Zug bald sterben werden. Wenn du das weißt, warum kannst du es dann nicht verhindern?"
Der Dunkelhaarige seufzte angesichts der neuen Frage, fuhr sich müde durch die langen Haare, aber antwortete dann doch noch.
"Das hat viele Gründe... Aber der Wichtigste ist: Ich darf es nicht. Und auch wenn ich es dürfte, könnte ich es nicht tun, verstanden?"
Lukas sah ihn ungläubig an.
"Was soll das heißen? Du kannst dich in alte Männer verwandeln, einfach so die Zeit anhalten, aber nicht diese unschuldigen Menschen retten? Wer oder was bist du überhaupt?"
Er hatte unbewusst seine Hände zu Fäusten geballt und seine Fingernägel so stark in seine Handflächen gedrückt, das diese zu bluten anfingen.
"Kumpel, du nervst langsam gewaltig. Lass die verdammte Fragerei oder ich nehm dir deine Entscheidung eigenhändig ab!", keifte der junge Mann, packte die Schulter des Jungen und drückte Lukas unsanft gegen die hinter ihm befindliche Sitzbank.
"Ich bin niemand, kapiert? Und ich bin nur dazu verpflichtet, dir diese eine Frage zu stellen: Leben oder Sterben? Entscheide dich mit allen Konsequenzen. Und zwar jetzt!"
Der dumpfe Schmerz des Aufpralls hallte noch immer wie ein Echo durch den Kopf des Jungen.
Der Typ machte Lukas wütend, er war nicht nur gestört, sondern auch noch aggressiv und gewalttätig. Verdammter Psychopath.
"Welche Konsequenzen?", fragte er.
Postwendend gruben sich die schmalen Finger noch tiefer in sein Fleisch.
"Kannst du bitte mal aufhören alles zu hinterfragen? Das macht echt keinen Spaß. Der 'verdammte Psychopath' wird dir diese letzte Frage beantworten, danach ist seine Geduld zu Ende."
Die schwarzen Augen funkelten ihn wütend an und Lukas bereute, dass er so vorlaut reagiert hatte.
"Wenn du nicht sterben willst, werde ich dich von hier wegbringen, bevor die Zeit weitertickt. Du wirst gesund und quick lebendig neben mir stehn, während der Rest der Menschen hier ins Gras beißt. Du kannst dann so ziemlich tun und lassen, was du willst. Es kann sich nur niemand mehr daran erinnern, dass du je existiert hast und jeder, dem du begegnest, wird dein Gesicht in ein paar Sekunden wieder vergessen haben. Ende."
Er nahm die Hand von Lukas Schulter weg und klatschte lächelnd in die Hände.
"Na wie klingt das für dich?"
Geschockt sah der Junge ihn an." Wie das für mich klingt, zu leben ohne für andere zu existieren? Was soll der Scheiß?!", fauchte er.
Er würde einfach alles verlieren, seine Familie, Freunde, Arbeitsstelle. Wo sollte er hin?
Der Fremde zuckte mit den Achseln.
"Ein Leben in Narrenfreiheit. Wie ich sagte, du könntest sogar unmaskiert eine Bank überfallen und niemand würde sich an dich erinnern. Dir stehen alle Möglichkeiten offen."
Selbstzufrieden nickte er, so als ob damit nun alles nötige gesagt und besprochen war.
Doch für Lukas war gerade eine Welt zusammengebrochen. Seine Brust fühlte sich an wie aus Eis. Er konnte sich selbst nur schwer daran hindern einfach los zu heulen.
Und der gestörte Typ hockte einfach nur komisch lächelnd da, scheinbar in dem Glauben, dass sein Angebot so toll war, dass jeder mit Handkuss darauf eingehen würde. Lukas wusste nicht, was er tun sollte.
Ein Leben in Einsamkeit oder ein baldiger Tod? Beide Optionen schienen ihm gleichermaßen furchtbar zu sein.
Aber irgendwo tief in ihm hörte er eine neue alte Stimme sagen: War dir dein altes Leben nicht immer schon zu wenig? Wolltest du nicht aus dem ewigen Trott raus? Hier hast du deine Chance.
Der Junge schüttelte den Kopf. Nein, nicht so... So hatte er das nie gewollt.
"Kumpel, wenn ich nur halb so viel denken würde, wie du, würde mir das Hirn wegbrennen. Ich mach dir die Entscheidung leicht. Gleich werde ich von hier abhauen. Ob mit oder ohne dich." Er hielt ihm den Arm hin und sah ihn abwartend an. Lukas schluckte hart und erwiderte seinen Blick.
"Drei, zwei..."
Die Blickränder des Jungen fingen langsam zu flimmern an und er spürte, wie das Rattern von Motoren unter ihm wieder einsetzte.
Auch die Umrisse des dunkelhaarigen Mannes verrrauchten vor seinen Augen.
"Eins!"
Ohne groß zu überlegen, packte Lukas den Arm des Fremden. Keine Sekunde zu früh.
Schon wurde er in einen dunklen Strudel aus Rauch und Schwärze mitgerissen, so schnell dass ihm die Luft wegblieb. Ein starker Wind zerrte an ihm und schleuderte ihn herum. Dem Gefühl ähnlich, dass er beim Achterbahnfahren hatte, nur viel stärker. Verbissen krallte er seine Finger in den Arm des Unbekannten. Er wollte nicht wissen, was passierte, wenn er losließ.