Und dann plötzlich hörte das Herumgewirbel auf und Lukas fiel. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und sein Körper überzog sich mit Gänsehaut. Unter sich konnte der Junge Licht durch den schwarzen Dunst brechen sehen und neben sich das bleiche Gesicht des dunkelhaarigen Mannes. Ein verrücktes Funkeln lag in seinen schwarzen Augen und er lächelte.
"Sieh nach unten!"
Lukas wendete seinen Blick von ihm ab und die Augen brannten ihm durch den kalten Wind, als er wieder nach unten schaute, gleich würden sie die Dunkelheit hinter sich gelassen haben.
Schemenhafte Umrisse einer Straße zeichneten sich durch den Dunst ab. Sie sausten mit einer aberwitzigen Geschwindigkeit auf den Asphalt zu. Eine Woge von Panik überkam ihn.
"Wir werden uns alle Knochen brechen!", schrie er angsterfüllt gegen den Wind an. Hektisch suchte er den Blick des Fremden, doch der sah nur nach unten und fing an laut zu lachen.
Es war zu spät, sie brachen durch die schwarzen Schwaden und der Boden kam immer näher. Lukas kniff mit wild klopfendem Herzen die Augen zusammen, als das helle Licht ihn blendete. Seine Hände lagen wie Schraubstöcke um den Arm des Mannes, dessen durchgekalltes Gejohle durch die Gegend hallte.
Der Kerl war vollkommen verrückt, gleich würden sie beide sterben!
Da spürte er unerwartet, wie er herumgewirbelt wurde. Lukas riss die Augen auf und sah dem Dunkelhaarigen direkt ins Gesicht. Der hatte ihn kurzerhand an seine Brust gedrückt und den Arm um seine Taille gelegt.
"Festhalten!", rief er.
Der Junge zögerte obgleich der unangenehmen Situation nicht und schlang beide Arme um den Oberkörper des Mannes. Und schon im nächsten Moment spürte er, wie ihr Fall gebremst wurde. So unvermittelt und abrupt, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde. Wenige Zentimeter vor dem Boden stoppten die beiden und sanken langsam auf den Asphalt. "Du kannst jetzt loslassen...", hörte Lukas eine genervte Stimme an seinem Ohr sagen. Da merkte er, dass seine Arme den Unbekannten noch immer fest umklammerten.
Peinlich berührt riss er sich von ihm los und torkelte ein paar Schritte von diesem weg, ehe er das Gleichgewicht verlor und zu Boden donnerte. Lukas schlug mit dem Kopf auf und krümmte sich vor Schmerzen.
"Das erste Mal ist immer beschissen."
Der Mann kam auf ihn zu und half ihm sich aufzurichten. Benommen sah der Junge sich um. Sie befanden sich an einer wenig befahrenen Straße neben einem kleinen Park, der von einigen großen Linden und Sträuchern umsäumt wurde. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo genau er hier war. Stöhnend fasste sich Lukas an die Stirn, der Adrenalinpegel sank langsam und ihm war gerade einfach nur schlecht. Der bleiche Typ hockte vor ihm und sah ihn abwartend an.
"Du tust mir fast ein bisschen leid, aber es gab keine andere Möglichkeit den Zug zu verlassen."
Der Junge nickte leicht paralysiert, er war noch immer überfordert mit seiner derzeitigen Lage. Shit, er hätte den Kopf nicht bewegen sollen. Sein Magen zog sich schlagartig zusammen und er übergab sich geräuschvoll auf den Grünstreifen neben dem Gehsteig.
"So ein bisschen freier Fall ist doch erfrischend.", kommentierte der junge Mann trocken.
Lukas hätte ihm für seinen bescheuerten Spruch am liebsten eine verpasst, war aber zu beschäftigt damit den ekelhaften Geschmack aus seinem Mund zu kriegen. Er tastete seine Jeans nach einem Taschentuch ab und wurde leider nicht fündig. Nur sein Handy hatte das Durcheinander erfreulicherweise überstanden.
"Hier."
Lukas drehte den Kopf wieder dem dunkelhaarigen Mann zu, der ihm ein zerknittertes Taschentuch hinhielt.
"Nimm schon."
Er klang wieder ungeduldig. Aber Lukas war so überrascht von dessen plötzlicher Nettigkeit, dass er es gar nicht merkte. Schnell nahm der Junge das Taschentuch und wischte sich über den Mund.
"Danke. Wie hast du das vorhin eigentlich gemacht?"
Der Mann sah ihn müde an. "Ich hab einen Sprung gemacht. Das gehört zu meinem Job dazu, lernt man gleich nach dem Verhüllen. Hör zu, ich weiß, dass du ne Menge Fragen hast... aber ich könnte grade nur noch pennen, der ganze Scheiß ist nämlich sehr Kräfte zehrend... Vorher muss ich dir nochwas zeigen." Er erhob und streckte sich gähnend, als wäre er gerade erst aufgewacht.
Lukas sah fragend zu ihm auf, dann hörte er von weitem das Rauschen eines Zuges und es traf ihn wie der Blitz. Verdammt, die Menschen in der Bahn! Wie hatte er das nur vergessen können?! Noch leicht wackelig auf den Beinen, richtete er sich auf.
"Du kannst ihnen nicht helfen!", erwiderte der Andere entschieden auf die unausgesprochenen Worte.
"Aber du kannst es!", schrie Lukas wütend. "Du hast es selbst gesagt!" Er war völlig außer sich. War dieser Mistkerl sich zu schade dafür oder waren ihm diese Menschen einfach nur egal?
Ein wütendes Knurren ließ Lukas einige Schritte zurückweichen. "Glaubst du das wäre so einfach? Du kennst nichtmal einen Bruchteil der ganzen Wahrheit! Versuch doch sie zu retten, du Held!" Mit vor Zorn geladenen Augen fixierte er den Jungen.
Der Teenager sah trotzig zurück."Was wird passieren?!" Er dachte nicht einmal daran aufzugeben. Wenn auch nur die geringste Möglichkeit bestand, das Unglück stoppen zu können, wollte er dafür alles ihm Mögliche tun.
"Dein Blick gefällt mir gar nicht, Kleiner. Lass es lieber und freu dich deines Lebens." Der schlaksige Mann wirkte genervt und unglaublich müde. Als er merkte, dass Lukas nicht darauf einging, seufzte er. "Also gut, in..." Er kramte in seiner Tasche und zog ein vorsintflutartig winziges Handy hervor. "genau neun Minuten und achtunddreißig Sekunden werden zwei Züge in der Nähe des Bahnhofs frontal ineinander stoßen, nur weil ein Lokführer keine Lust mehr auf sein beschissenes Leben hat und spontan nicht alleine sterben will. Nun sag mir, was genau du dagegen tun willst." Doch da war der Junge schon losgerannt in die Richtung, in welcher er den Zug fahren gehört hatte.
Kopfschüttelnd sah der andere ihm nach. "Idiot..."
Lukas hastete um den Park herum. 'Westring' las er auf einem Straßenschild, darunter hing eines mit "Bahnhof". Er war auf dem richtigen Weg! Wahrscheinlich war er in Westerstede, das machte zeitlich gesehen am meisten Sinn. Es gab dort keinen Schalter, kein Personal, das er ansprechen konnte, aber er hoffte darauf den entgegenkommenden Zug irgendwie aufhalten zu können. Eigentlich hatte er eine gute Kondition, aber sein Kopf pochte nach wie vor. Er versuchte das dumpfe Gefühl irgendwie beiseite zu schieben. Von Weitem sah er schon ein rotes Blinken und wie sich die Schranken vor dem Bahnübergang langsam senkten. Mist, seine Zeit war viel zu knapp! Er rannte, so schnell er konnte auf den Bahnhof zu. Jetzt nur noch die Hauptstraße überqueren, dann war er da!
Eine rote Ampel lag zwischen ihm und und der anderen Seite. Völlig außer Atem, kam er zum stehen. Es war spät am Nachmittag und die Straße dementsprechend stark befahren. Wie wild hämmerte er auf den Ampelschalter ein und sah mit einem Anflug von Panik die Bahn einfahren. So würde er das nicht schaffen! Kurz entschlossen beobachtete er den Verkehr und preschte mit klopfendem Herzen nach vorne. Es würde knapp werden. Von rechts kam ein schwarzer Golf angedonnert. Aber jetzt konnte Lukas nicht mehr anhalten. Er legte seine ganze Kraft in jeden Schritt und rannte so schnell, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Der Fahrer des Golfs hatte ihn bemerkt und fluchend auf das Eisen getreten. Die Bremsen quietschten schrill auf, während das Fahrzeug strauchelnd auf den Jungen zuraste. Scheiße! Mit vollem Körpereinsatz hechtete Lukas nach vorn und donnerte schmerzhaft auf den Gehsteig. Wäre er nur den Bruchteil einer Sekunde langsamer gewesen, hätte das Auto ihn erfasst. Der Golf war mitten auf dem Übergang zum Stehen gekommen und der wütende Fahrer schrie ihn durch das offene Fenster an. "Sag mal, hast du sie noch alle, du Idiot?! Die Jugend hat nur noch Scheiße im Hirn!" Er setzte zu einer weiteren Salve von Beschimpfungen an, doch auf einmal glätteten sich seine Gesichtszüge und seine Augen wirkten kurz glanzlos und irgendwie leer. Lukas hatte sich längst wieder aufgerafft und nichts von dem Schauspiel mitbekommen. Er war von Kopf bis Fuß mit Schrammen übersät und nur von dem Gedanken beseelt, es noch rechtzeitig zum Bahnhof zu schaffen.